kultur & kritik

Stimmen aus der Vergangenheit in der Gegenwart

Buchbesprechung

| Henning Melber

Mut und Wut. Rudi Dutschke und Peter-Paul Zahl. Briefwechsel 1978/79. Bearbeitet von Gretchen Dutschke, Christoph Ludszuweit und Peter-Paul Zahl. Verlag M - Stadtmuseum Berlin (Edition Stadtmuseum "Berliner Subjekte"), Berlin 2015, 342 S., 22,90 Euro, ISBN 978-3-939254-01-0

„Das Vergangene ist nicht tot.
Es ist nicht einmal vergangen.“
(William Faulkner)

Die Idee, den nun endlich gedruckt vorliegenden Briefwechsel zu veröffentlichen, hatte Peter-Paul Zahl schon unmittelbar nach dem Tod Rudi Dutschkes am 12. Januar 1980 in einem Brief an „Golli“ geäußert. Der Theologe Helmut Gollwitzer (1908-1993) hielt bei Ulrike Meinhofs Beerdigung die Rede. Er verkörperte eine ältere Generation, die der damaligen studentischen Revolte und der damit verbundenen Kritik am „Modell Deutschland“ nahe stand (wie u.a. auch die Essaysammlung Die zornigen alten Männer dokumentiert, die zu Zeiten des Briefwechsels 1979 bei Rowohlt erschien). Es dauerte 35 Jahre, bis es endlich zu deren Verwirklichung kam, was auch Peter-Paul Zahl nicht mehr erleben durfte. Es lässt sich geteilter Meinung sein, ob der entschieden spätere Zeitpunkt ein Vor- oder Nachteil ist und hängt wohl vom Standpunkt (vielleicht auch der Generation) des/der Betrachtenden ab.

Die Lektüre dieser Korrespondenz war ein Ausflug auch in die eigene Geschichte. Sie weckte Erinnerungen an mein Studium an der Freien Universität Berlin, wo ich von 1972 bis 1977 zwischen dem Institut für Soziologie in der Babelsberger Straße (wo ich auch ehrfurchtsvoll Rudi über den Weg lief) und dem Otto-Suhr-Institut (OSI) pendelte. Orten, an denen sich Bernd Rabehl (damals noch „links“ – what ever that means), Ulf und Niels Kadritzke, Elmar Altvater, Wolf-Dieter Narr, Ekkehard Krippendorff, Ossip K. Flechtheim, Johannes Agnoli und viele mehr tummelten, um uns die Kritik der Politischen Ökonomie, den dialektischen Materialismus, die kritische Staatstheorie und -analyse und weitere Ingredienzen eines „korrekten politischen Bewusstseins“ in unterschiedlichen (z.T. widersprüchlichen) Nuancen beizubringen.

Dies passierte zu Zeiten, in denen wir ganz unbescheiden dachten, wir seien in Westberlin der Nabel wenn schon nicht der Welt (da gab es ja noch Berkeley, Paris, die Tupamaros, Kambodscha-Laos-Vietnam und die afrikanischen Befreiungsbewegungen), aber doch wenigstens der deutschen „revolutionären Avantgarde“, wenn wir Uni-Streiks inszenierten und diskutierten, ob wir AktivistInnen im Dunstkreis der RAF oder der Bewegung 2. Juni in unseren Buden im Hinterhof verstecken sollten, obwohl es um mehr als Gewalt gegen Sachen ging. Dabei verwechselten wir unsere Grabenkämpfe und Eitelkeiten mit gesellschaftlichem Engagement und übersahen in unseren selbstbezogenen Verhaltensweisen allzu häufig, dass das Private politisch ist (und umgekehrt), obwohl die Frauen schon handfest gegen den Machismo aufbegehrten. – Wobei die Häuserbesetzungen und ähnliche Aktionen, bei denen „Ton, Steine. Scherben“ den Ton angaben, schon nicht so ganz ohne waren. Dass bald nach dem Soweto-Aufstand dank effizienter Sabotageakte und Störaktionen ihrer Veranstaltungen die Deutsch-südafrikanische Gesellschaft nur noch unter Polizeischutz ihr Unwesen treiben konnte, gehörte wohl auch zu den (kleineren) Erfolgserlebnissen.

Viel Energie allerdings wurde auf Spiegelfechtereien verwendet. Revis, Trotzkisten, diverse K-Gruppen, Anarchos und Spontis, SB und Rote Zellen beharkten sich gegenseitig. Die einzige Gemeinsamkeit war mitunter, dass wir im selben Sumpf paddelten. Manchmal gab es sogar nach langwierigen Verhandlungen Bündnisse – die regelmäßig gleich wieder scheiterten und den gegenseitigen Vorwürfen Platz machten, konterrevolutionär zu agieren. Von Klassenkampf und gemeinsamer Vision keine Spur. Mit der Anti-AKW-Bewegung (Gorleben!) und den Abrüstungskampagnen (Mutlangen!) wurde dies zwar etwas anders, hatte aber mit studentischer Politik fast nichts mehr zu tun. Die Musik spielte längst woanders, auch wenn die Gründung der Grünen sich teilweise aus der studentischen Bewegung und den diversen linken Gruppierungen ergab und in eine wesentliche politische Kraft mündete, deren „langer Marsch durch die Institutionen“ von der APO in den Bundestag und einige unter ihnen zu ausgemachten „Bellizisten“ mit Regierungsverantwortung für eine weiterhin beschissene Politik mutieren ließ. Rudi engagierte sich zuletzt erfolgreich bei der Mobilisierung der in diverse sektiererische Gruppierungen versprengten Linken für die Grünen und war an deren Einzug in den Bremer Senat aktiv beteiligt (seinen ersten Wohnsitz hatte er kurz vor seinem Tod offiziell nach Bremen verlegt). – Was er wohl zur grünen Politik heute zu sagen hätte?

Als dann bei den Demos aus Spaß die Fernmeldebücher in öffentlichen Telefonzellen (ja, die gab es damals noch in Ermangelung anderer Technologien!) zu Konfetti verarbeitet wurden und „Tu-Nix“ zum neuen Motto wurde, dämmerte mir, dass gesellschaftliche Relevanz sich vielleicht anders definiert. – Vielleicht sogar die Männergruppe, der ich mich zuvor schon angeschlossen hatte, mehr mit Transformation zu tun hatte, als die sich vollziehenden Rituale auf der Straße, bei denen ich mir vor dem Gefängnis in Moabit und dem gepflasterten Platz vor der Gedächtniskirche Handgreiflichkeiten einhandelte – von Mackern aus dem „schwarzen Block“, nicht den Bullen, weil ich es Scheiße fand, dass die nur mal wieder auf Randale aus waren und die Wannen umschmeißen wollten bzw. die Pflastersteine als Wurfgeschosse ausbuddelten. Ob denn tatsächlich unter dem Pflaster der Strand liegt, weiß ich ehrlich gesagt bis heute nicht.

Damals wurden Fragen nach der Relevanz politischer Aktionsformen, Kampagnen und Forderungen (im Jargon: deren „Stoßrichtungen“) erbittert diskutiert. Sie finden sich in abgeschwächter Form immer wieder auch im Briefwechsel zwischen Rudi Dutschke (RD) und Peter-Paul Zahl (PPZ), der solche Erinnerungen in mir weckte. Sie waren damit trotz ihrer jeweils einzigartigen Situation zugleich immer noch Spiegelbild und Ausdruck einer spezifischen politischen Phase in der Geschichte der Bunderepublik. RD erholte sich nach einer kleinen Odyssee (zu der auch die Ausweisung aus Großbritannien gehörte) ab Anfang 1971 so gut es ging im dänischen Aarhus von den nachhaltigen Schäden des am 10. April 1968 auf ihn verübten Attentats und setzte von dort aus sein eng verwobenes wissenschaftlich-analytisches und politisches Engagement innerhalb der undogmatischen Linken – er selbst bezeichnete sich als libertären Sozialisten (S. 96) – energisch fort. PPZ saß als politischer Gefangener seit seiner Verhaftung nach einem Schusswechsel mit der Polizei im Dezember 1972 und grotesk skandalösen Urteilen bis 1981 meist unter verschärften Bedingungen und teilweise in Einzelhaft im Knast, wo er u.a. seinen 1979 veröffentlichten Schelmenroman „Die Glücklichen“ verfasste.

RD wurde am 7. März 1940 geboren, PPZ am 14. März 1944. Die Kindheit verbrachten beide in Kleinstädten bzw. Dörfern der frühen DDR. 1953 wechselten die Eltern von PPZ in die BRD. Für ihn ein traumatischer Kulturschock, der eine bis dahin glücklich scheinende Kindheit beendete. RD machte sich mit 21 Jahren „rüber“. Seine Verbundenheit mit der DDR blieb bis zuletzt auch im politischen Engagement für die politisch verfolgten DissidentInnen spürbar. Beide verband damit nicht nur eine sich ergänzende (aber sehr unterschiedlich erlebte und auch politisch verarbeitete) Erfahrung. Auch wenn sie sich vorher bewusst eigentlich nie über den Weg gelaufen waren (obwohl sie gemeinsame Orte und Bezugspunkte ihrer politischen Sozialisation im Westberlin ab Mitte der 1960er Jahre entdeckten), teilten sie die unermüdliche Suche nach der geeigneten Strategie eines Widerstands gegen das herrschende System, unter dem sie in verschiedener Form beide zu Opfern wurden. Ihr Briefwechsel begann wohl im Februar 1978 (ein genaues Datum lässt sich nicht rekonstruieren). Am 24. Oktober 1978 kommt es nach zähen und langwierigen Prozeduren erstmals zu einem Treffen in der Justizvollzugsanstalt Werl, die von PPZ in seinen Briefen an RD meist mit dem Absender „Modell Deutschland“ tituliert wurde.

Zu den wiederkehrenden Hauptthemen des Austausches zwischen Beiden (in dem eine Sensibilität für geschlechtsspezifische Aspekte so gut wie nicht auszumachen ist – als ob es die feministische Bewegung für sie nicht gab) gehören im Duktus der 1970er Jahre und mitunter redundant neben Erinnerungen zu ihrem jeweiligen Werdegang im Westberliner Milieu, u.a. der Umgang mit der DDR und auch die Einstellung zu Deutschland insgesamt; die oft persönlichen Animositäten, Intrigen und Auseinandersetzungen in einer zunehmend zerstritteneren linken Bewegung; der Hungerstreik als Protest-, Kampf- und Widerstandsform und Fragen der internationalen Solidarität. Dabei sind die Positionen und Sichtweisen trotz wechselseitiger Beteuerung der Wertschätzung keinesfalls immer identisch. PPZ identifiziert sich weder mit der Haltung RDs zur DDR noch zur BRD; RD hingegen bezweifelt, ob der Hungerstreik von PPZ ein geeignetes Mittel sei. Der wiederum kommentiert mitunter eher ironisierend die Zwistigkeiten, die RD in der (relativen) Freiheit jenseits der Haftanstalt mit Anderen innerhalb der linken Bewegung austrägt und bemerkt: „Du schreibst … wir seien ‚gewisse Orientierungstypen‘, klar. Nur – da besteht wirklich die Gefahr, daß wir zu Denkmälern unserer selbst werden. (Was, Rudi, Dein unangemessenes Eingehen auf Anpinkeleien durch gewisse Genossen doch auch irgendwie beweist. Oder nicht?).“ (S. 264; Herv. i.O.)

Hilfreiche Zusatzinformationen bietet ein Anhang mit Erläuterungen zu Begriffen und Personen. Ein zusätzlicher Index fehlt leider, wäre aber ebenfalls eine sinnvolle Ergänzung gewesen. Der einführende Überblick von Gretchen Dutschke zu RD und PPZ und die gesonderten biografischen Übersichten zu Beiden im Anhang erlauben eine weitere Einordnung des Briefwechsels in den Gesamtzusammenhang insbesondere von RDs Lebenssituation. Ein Rezensent monierte, dass in Gretchen Dutschkes Erläuterungen nichts Neues und mitunter auch Falsches stünde. Doch was dieser als „oberflächlich“ abqualifiziert, halte ich eher für geeignet, Altvertrautes (das schon aufgrund der Natur des Diskurses auch zwangsläufig teilweise kontrovers bleiben muss) mit Jenen zu teilen, die sich als jüngere Generation mit dieser Thematik befassen wollen. Schließlich geht es bei der Veröffentlichung nicht wirklich um die Gewinnung neuer Einsichten, sondern eine Eröffnung des Zugangs zu dem, was bis dahin für Interessierte nicht ein-sichtig gemacht wurde.

Ist dies Grund genug, weshalb es jetzt noch dieses Buch geben soll?

Eine mögliche Antwort hat PPZ in einem Brief an RD vom 24.3.78 vorweg genommen, wo er auf den spanischen Revolutionär Buenaventura Durruti (1896-1936) verweist: „Nun können wir hier lang und breit Überlegungen anstellen ‚zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte‘. Oder wir könnten, wie die CNT-Genossen sagen: Es gibt viele Durrutis (und viele Rudis), wir alle sind Durruti. Aber es gab halt nur einen.“ (S. 77; Die 1910 gegründete anarchosyndikalistische Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) hatte zeitweise bis zu zwei Millionen Mitglieder und spielte 1936 eine herausragende Rolle in der Spanischen Revolution und im Kampf gegen den Franco-Faschismus) So gab es halt auch nur einen Rudi Dutschke und einen Peter-Paul Zahl. Und nur einen Briefwechsel zwischen diesen. Der hat es verdient, zugänglich zu sein. Egal, wie Viele oder Wenige sich dafür interessieren mögen.

PPZ hatte den Briefwechsel vom Februar bis zum 17. Juli 1978 bearbeitet, Gretchen Dutschke und Christoph Ludszuweit dessen weiteren Verlauf bis zum 14. November 1979. RD starb am 24. Dezember 1979 an den Spätfolgen der beim Attentat erlittenen Schussverletzungen. Er wurde nur 39 Jahre alt. PPZ machte seinen schon im Knast gefassten Entschluss nach seiner offiziellen Haftentlassung Ende 1982 wahr und kehrte dem von ihm nie akzeptierten Deutschland den Rücken. In Jamaika ließ er sich 1986 ganz nieder und begann Kriminalromane zu schreiben. Am 24. Januar 2011 stirbt der 66-Jährige in seiner Wahlheimat an den Folgen eines Krebsleidens.

Die Korrespondenz bietet keinesfalls nur was für Nostalgiker. Deren trotz der Zensurauswirkungen eminent politische Bedeutung (die sich auch darin zeigt, dass mehrere Seiten nie zugestellt und deshalb nicht verfügbar waren) hat nicht nur zeitgeschichtlichen Wert. Sie bleibt teilweise (leider) hoch aktuell. So notierte RD am 4.7.78: „‚Jeder nach seinen Kräften und so gut er kann‘, aber niemals den Schwanz einziehen, niemals der anderen Seite den Sieg leichtmachen, niemals. Was immer geschehen mag, wie schwierig die Lage auch ist, diesen Triumph darf die herrschende Klasse von militanten und libertären Sozialisten niemals erhalten.“ (S. 123f.; Herv. i.O.). Und PPZ schrieb am 11.9.78 die folgenden Zeilen nieder (S. 168):

„Vielleicht sollte ich
noch schnell sagen,
was ich von Machthabern halte,
die Menschen foltern lassen:
ES SIND EHRLOSE LUMPEN,
VERDORBEN UND SCHMUTZIG
BIS IN DEN LETZTEN WINKEL
IHRER [VERROTTETEN]
UND VERLAUSTEN SEELE.
Matthöfer, Minister der BRD“

Termin

Lesung: 17.6.2015 in Saarbach, Galerie und Kulturcafe, Sanderstr. 22, Berlin: Gretchen Dutschke und Christoph Ludszuweit lesen Passagen aus den Briefen von Rudi Dutschke und Peter-Paul Zahl

Der Autor

Der Soziologe Henning Melber (* 1950 in Stuttgart) ist Direktor em. der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala und Professor an der University of Pretoria. 1967 wanderte er mit seinen Eltern nach Südwestafrika aus. Nach dem Matrik kehrte er für sein Politik- und Soziologiestudium an der Freien Universität Berlin nach Deutschland zurück und trat 1974 in die SWAPO ein.