so viele farben

Nicht mehr alle Latten am Zaun

Refugees erschüttern die Festung Europa, Mohammad liebt Bach

| Johannes von Hösel

Großdemonstrationen mit antirassistischen Anliegen sind in Österreich nicht gerade an der Tagesordnung. Hier hat das sogenannte "dritte Lager", die ultrarechten "Freiheitlichen", ein seit mehr als fünfzehn Jahren konstantes WählerInnenpotenzial von knapp 30 Prozent. Auch im gegenwärtigen Wahlkampf zur Wahl im größten Bundesland Wien am 11. Oktober wird gegen den "Ansturm der Wirtschaftsflüchtlinge" gehetzt. Umso großartiger war es, dass sich am Abend des 31. August rund 20.000 Menschen vor dem Wiener Westbahnhof versammelten, um gegen den miserablen Umgang mit Flüchtlingen und gegen die herrschende Flüchtlingspolitik zu demonstrieren.

Aufgerufen hatte eine Privatperson über facebook, Menschenrechtsgruppen hatten sich angeschlossen. Auch wenn sich im Nachhinein die relative Leere an klaren Botschaften und das Sich-Selbst-Feiern des vor allem alternativ-besserverdienenden Milieus kritisieren lässt: Diese Demo war ergreifend, weil absolut unerwartet und Zeichen setzend.

Historischer Tag

Aber nicht wegen der Demo war der 31. August 2015 ein einmaliger Tag in der Geschichte der Europäischen Flüchtlingspolitik. An den österreichischen Außengrenzen wurden erstmals wieder Autos und Lastwagen kontrolliert, 50 km Stau meldeten die Nachrichten. Da wurde das Schengener Abkommen, das die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen zwischen den teilnehmenden europäischen Staaten regelt, „von oben“ ausgesetzt. Die österreichische Regierung hatte der „Schlepperei“ den Kampf angesagt. Wenige Tage zuvor waren auf einer Autobahn nahe der Hauptstadt 71 Flüchtlinge tot in einem LKW entdeckt worden – was auch ein Anlass für die Demo gewesen war. Das Abkommen wurde aber auch „von unten“ ausgehöhlt. Allein die Menge an Menschen ließ es nicht mehr zu, dass am Budapester Ostbahnhof alle kontrolliert und (in der Regel, sofern sie nicht asylberechtigt sind) an der Weiterreise Richtung Westen gehindert wurden. So sieht es das Dubliner Übereinkommen zwischen den Staaten der Europäischen Union vor. Tausende kamen nach Wien und reisten weiter nach Deutschland, so dass selbst der sonst eher linksliberal wirkende Moderator der Abendnachrichten Zeit im Bild, Armin Wolf, den Polizeisprecher erstaunt fragte, ob die Exekutivgewalt ihre Aufgaben nicht wahrnehmen wolle oder könne.

Bedeutende Anteilnahme

Schon am 1. September brachten dann viele Leute Sachen zu Gleis 1 im Westbahnhof, Fladenbrote, Duschgel, Binden und Einkaufswagen voller Windeln, die Wasserflaschen sind mit selbstgemachten Etiketten auf Arabisch überklebt. Die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) stellte Räume zur Verfügung und erwies sich personell wie institutionell als hilfsbereit. Ein paar Tage später ist die zunächst von AktivistInnen geleistete Organisierung von der Caritas übernommen, die Spendenbereitschaft machte eine Professionalisierung letztlich auch nötig. Wie präsent diese Stimmung auch im Alltag vieler Leute ist, macht vielleicht die Szene deutlich, die eine Aktivistin am 4. September auf facebook postet: „Großeinkauf beim Hofer. ‚Ist das für die Flüchtlinge?‘, wird M.M., der mit 20kg+ Bananen an der Kassa steht, von einer lauten Stimme gefragt. ‚Ja.‘ Als er das Obst auf das Förderband hievt, hält ihm der Mann einen 10-Euro-Schein unter die Nase. So einfach kann’s sein.“ Selbst die österreichische Fußball-Nationalmannschaft brachte in einer Erklärung vor einem wichtigen EM-Qualifikationsspiel medienwirksam ihr „Mitgefühl [für all die Menschen] zum Ausdruck […], die vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat flüchten mussten, traumatische Erlebnisse und unvorstellbares Leid mitgemacht haben und jetzt bei uns Schutz suchen.“

Die Bedeutung all dieser Anteilnahme ist deshalb dermaßen zu betonen, weil das Verhältnis von „Staat“ und „Gesellschaft“ in Österreich häufig ein anderes war, als libertäre Theorie das in der Regel vorsieht (nämlich: ersterer „repressiv“, letztere „progressiv“): So schrieb etwa der Essayist Karl-Markus Gauß Anfang 2015 zu Recht am Beispiel des Rassismus gegen Roma: „Man muss sich in Erinnerung rufen, dass es nicht die aufbegehrenden Österreicher und Österreicherinnen waren, die einem autoritären Staat die gleichen Rechte für alle Menschen, auch für die Roma, abtrotzten; umgekehrt war es der Staat, der ein Gesetz erließ, von dessen Notwendigkeit die Staatsbürger in ihrer Mehrheit noch gar nicht überzeugt gewesen sein mochten, sofern sie sich überhaupt damit beschäftigt hatten.“ (1)

Flüchtlinge Willkommen

Der Slogan „refugees welcome!“ war bis dahin ja nicht mehr als eine trotzige Gegenbehauptung, ein genau genommen misslingender Sprechakt: Denn angesichts der europäischen Asylgesetzgebung und der Stimmung in vielen deutschen Gemeinden – rund 340 Anschläge auf AsylbewerberInnenheime in Deutschland allein im Jahr 2015 bis Ende August – konnte nicht ernsthaft behauptet werden, Flüchtlinge seien hier willkommen. In Österreich wurden zwar keine Unterkünfte angezündet, aber viele Gemeinden und sogar Bundesländer weigern sich faktisch, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Und getragen wurde die jahrelange europäische Abschottungspolitik schließlich hier wie dort von breiten Bevölkerungsmehrheiten. Das scheint sich nun zu ändern. Auch wenn es widerlich ist, wie schon nach wenigen Tagen von den herrschenden Eliten die nationale „Willkommenskultur“ gefeiert wird – sie ist auch laut deutschem Wirtschaftsministerium „ein wichtiger Schritt zur Zukunftssicherung unseres Landes“ -, die positive Stimmung in vielen Bevölkerungsschichten ist zu begrüßen. Vor allem selbstverständlich, weil sie den Aufenthalt für Flüchtlinge erträglicher macht. Zumindest im alltäglichen Engagement wird in dieser ersten Septemberwoche auch noch nicht unterschieden in „gute“, d.h. unterstützenswerte Kriegsflüchtlinge (etwa aus Syrien) und „schlechte“, sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ (etwa Roma aus den Ländern des Balkan). An dieser Unterscheidung wird in der staatspolitischen Arena wieder verstärkt gearbeitet. Es bleibt abzuwarten, ob sie weiterhin greift. Was in der Mobilisierung zugunsten der Flüchtlinge definitiv auch zum Ausdruck kommt, ist jedenfalls die Tatsache, dass – wie Daniel Kretschmar in der taz schreibt – Politik mehr ist „als Staatlichkeit“. (2) Nämlich auch ein kaum geregelter Prozess, der zwar auf bestehenden Bedingungen und Einstellungen fußt, aber letztlich ohne Führung verläuft. Es wird noch auszuwerten sein, was es bedeutet, dass mit dem freiwilligen Engagement letztlich auch auf den kalkulierten Rückzug des Wohlfahrtsstaates reagiert wird.

„Deutschland, Deutschland!“

Am 1. September wurde dann der Budapester Ostbahnhof abgeriegelt und von der Polizei geräumt. Viele Flüchtlinge protestierten, sie skandierten „Germany, Germany“ und „Deutschland, Deutschland!“

Dem ist eine subversive Dimension kaum abzusprechen. Nicht nur, dass sich hier Menschen eine Parole aneignen, die normalerweise von ihren Gegnern verwendet wird. Sie unterlaufen damit ja tatsächlich auch ganz praktisch das, wofür Deutschland ansonsten steht: Routinierte Abschiebungspolitik, ständige Verschärfungen der Asylbewerberleistungsgesetze, Lagerunterbringung in abgelegenen Regionen, etc. Ermutigt von der Aussicht auf Anerkennung auf Asyl durch Kanzlerin Merkel, machen sich viele SyrerInnen wohl auch eine falsche Vorstellung vom Land, in das sie möchten. Ganz abgesehen von Flüchtlingen anderer Nationalität, die oft kaum auf Anerkennung hoffen dürfen. Bis zum 6. September hatten laut Tageszeitung Die Welt von den mehreren Tausend durch Wien Reisenden jedenfalls nur 101 einen Asylantrag in Österreich gestellt. Der Wiener Standard spricht von 730 Asylanträgen bei 16.000 bis 20.000 in Wien eingetroffenen Flüchtlingen am Wochenende vom 05./06. September. Was die Flüchtlinge außer einem besseren Leben noch wollen, was sie denken und wie es ihnen geht, erfährt man nur schwer. In dem Rummel am Westbahnhof war es jedenfalls nicht leicht ins Gespräch zu kommen. Die Jugend- und Musikzeitung VICE hat Flüchtlinge am Wiener Hauptbahnhof nach ihrem Musikgeschmack gefragt. Die Antworten sind so vielfältig wie Geschmäcker eben sind: „Abdollah: Ich mag traditionelle, afghanische Musik. Safdar Tawakoli finde ich toll.“ „Mohammad: Ich liebe Bach.“

Erschütterung des Grenzregimes

In Ungarn jedenfalls will niemand bleiben. Nicht nur, dass die Menschen hier miserabel behandelt werden. Ministerpräsident Órban, meldet die Süddeutsche Zeitung am 4. September, rät vom „Zusammenleben mit Muslimen“ in seinem Land ab. Am 3. September wurden Flüchtlinge in Budapest in den Zug gesetzt mit der Aussicht, nach Wien gefahren zu werden.

Aber in Bicske stoppte der Zug und die Leute sollten gezwungen werden, in Busse zu steigen, um in das nahe gelegene Lager transportiert zu werden.

Proteste, Leute legten sich auf die Schienen, diplomatische Verstimmungen zwischen Österreich und Ungarn. Und wohl nur ein klitzekleiner, öffentlich gewordener Eindruck dessen, was es bedeuten kann, sich auf der Flucht entlang der sogenannten „Balkanroute“ Richtung EU zu bewegen.

Am nächsten Tag machten sich die Menschen aus Budapest erstmals zu Fuß auf den Weg zur rund 200 km entfernten Grenze nach Österreich. Die Zeitschrift „analyse & kritik“ postete auf facebook: „Es ist unglaublich: 1.000 oder mehr Menschen sind weiterhin zu Fuß auf der Autobahn von Budapest in Richtung Österreich unterwegs. Familien mit Kindern sind dabei, ein Alter im Rollstuhl, ein Mann auf Krücken, mit einem Merkel-Bild um den Hals. Jemand schwenkt eine EU-Fahne, eine Straßensperre der Polizei wurde auch ‚durchflossen‘. Altes Testament? Mauerfall? Fünf-Finger-Taktik? Die Vergleiche, die jetzt herangezogen werden, sind hinfällig. Es sind Bilder, die die Erschütterung der Festung Europa illustrieren, die Zähigkeit der Ankommenden hat sie möglich gemacht.“

Nachts wurden die Refugees von der ungarischen Regierung in Bussen an die Grenze gebracht. Eine einmalige Aktion, wie die Behörden betonten. Am gleichen Tag beschloss das ungarische Parlament ein zehnteiliges Gesetzespaket zur Verhinderung der „illegalen Einwanderung“.

Damit gilt ein „illegaler Grenzübertritt“ ab dem 15. September nicht mehr als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat. „Schlepper“ können mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden. Der Erschütterung des Grenzregimes wurde also unmittelbar begegnet, wie dies in der Vergangenheit oft der Fall war. Bei rechten Regierungen nur etwas härter als bei sozialdemokratischen.

Aktionen wie der „Konvoi Budapest-Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“, bei dem am 6. September in rund 170 teilnehmenden, privaten Autos weit über 300 Flüchtlinge nach Wien gebracht werden konnten, werden künftig um einiges risikoreicher sein.

Der Konvoi, auch ein Beispiel für die immense zivilgesellschaftliche Mobilisierung dieser Tage, wurde von der ungarischen Polizei nicht behelligt. Das war wohl auch der Medienpräsenz zu verdanken, BBC, Al Jazeera, CNN und viele andere hatten über den Konvoi berichtet. Der positive Ausnahmezustand offener Grenzen nach Österreich allerdings, erklärte der sozialdemokratische Bundeskanzler Werner Faymann am ersten Septemberwochenende, solle schrittweise wieder abgebaut werden. Damit liegt er auf Kurs der deutschen Bundesregierung, die schon Ende August eine Verschärfung der Asylgesetzgebung verkündet hatte: Mehr Abschiebungen (vor allem von Refugees vom Balkan), strengere Residenzpflicht, Sach- statt Geldleistungen für AsylbewerberInnen. Herzlich Willkommen.

Rechte Panikmache, linke Skepsis

Während von AktivistInnen über facebook ständig neue Flüchtlingsbewegungen gemeldet werden und auch über die katastrophale Lage für neu eintreffende Refugees an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien, der EU-Außengrenze also, berichtet wird, wird auch schon über die Bedeutung der Ereignisse diskutiert. Der asylpolitische Diskurs ist, wie die Migrationsforscherin Sonja Buckel in der Frankfurter Rundschau schrieb, selbstverständlich nach wie vor von „Panikmache und Abwehr bestimmt.“ (3)

Staatlicher und alltäglicher Nationalismus, der die Herkunft von Menschen zum alles entscheidenden Kriterium für den Umgang mit ihnen macht, ist so leicht nicht auszuhebeln. Ob die milieuübergreifende Mobilisierung von Anfang September eine Bresche in die Selbstverständlichkeit dieser nationalen Zuteilungen wird schlagen können, bleibt abzuwarten. In der Linken ist man skeptisch. Die Redakteurin einer linken Wochenzeitung postet am 5. September: „Ich bin nicht sicher, ob Ihr versteht, was ich meine, aber mir ist diese altkleiderverteilende deutsche Volksfront schon etwas unheimlich.“ Eine andere Migrationsforscherin, ebenfalls Autorin der besagten Wochenzeitung, postet darunter recht überzeugend: „was mir derzeit am unheimlichsten ist, sind linke in deutschland und zwar alle von den antideutschen und gemäßigt antinationalen über die parteilinken, die bewegungslinken bis zu den antiimps. die einen gehen nicht zu den bahnhöfen, weil ihnen deutsche, die helfen, unheimlich sind, die anderen gehen nicht hin, weil viele flüchtlinge muslime sind, den dritten gelten flüchtlinge nicht als politisch mobilisierungsfähige masse, den vierten sind sie egal, weil sie nicht wählen dürfen und die fünften gehen nicht, weil sie nicht in kobane geblieben sind, um zu kämpfen. echt jetzt, noch alle latten am zaun?“

(1) "Alltagsrassismus gegen Roma: Bittere Lektionen". In: Der Standard, 30.01.2015, http://derstandard.at/2000011065786/Alltagsrassismus-gegen-Roma-Bittere-Lektionen

(2) "Ausnahmezustand ohne Souverän. Politik ist mehr als Staatlichkeit. Das belegen unter anderem die vielen freiwilligen Helfer inmitten der großen Migrationsbewegung." In: die tageszeitung, 05.09.2015, http://taz.de/Debatte-Fluechtlingspolitik/!5226718/

(3) "Menschenfeindliche Logik der Politik", In: Frankfurter Rundschau, 25.08.2015, http://www.fr-online.de/gastbeitraege/fluechtlinge-menschenfeindliche-logik-der-politik,29976308,31588836.html