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Lebenslaute statt Klimakiller

Spektakuläre Aktion gegen den Braunkohletagebau im rheinischen Revier

| Flora vom Gysenberg

Unter dem Namen Lebenslaute engagieren sich seit 1986 bundesweit Musiker_innen, einmal jährlich in Chor- und Orchesterstärke. Als offene Musik- und Aktionsgruppe bringen sie überwiegend klassische Musik dort zum Klingen, wo dies nicht erwartet wird: auf Militärübungsplätzen und Abschiebeflughäfen, vor Atomfabriken und Raketendepots, in Ausländerbehörden und an anderen menschenbedrohenden Orten.

Am 23. August 2015 blockierte Lebenslaute von 17:30-22:30 Uhr den Braunkohletagebau Hambach mit klassischer Musik. Über fünf Stunden lang standen alle Räder still. Bereits am Morgen hatte sich RWE aufgrund der angekündigten Proteste gezwungen gesehen, die Baggerarbeiten auf der ersten Ebene einzustellen. Als Orchester und Chor um 17:30 Uhr in das Gelände eindrangen und kurz darauf mit dem Konzert begannen, musste auch das Hauptförderband gestoppt werden. Eine Reflexion. (GWR-Red.)

Die Besetzung des Braunkohle-Tagebaus durch Lebenslaute war eine der spektakulärsten Aktionen seit Gorleben 2006. Wir sind ohne nennenswerte Hindernisse auf das Gelände gekommen. Dank der Umsicht und genauen Ortskenntnis unserer Unterstützerinnen haben wir das ohne Unfall geschafft. Die Beteiligung war erfreulich: Der jüngste Teilnehmer war 13, der älteste über 80 Jahre alt.

Gerade die rege Beteiligung junger Leute lässt für die Zukunft von Lebenslaute alles Gute hoffen. Alles kam den steilen Abhang hinunter: Ein Kontrabass, vier Celli, ein Schlagzeug, etc. etc., dazu Materialien der Unterstützungsgruppe, z. B. zwei Pavillons und Planen gegen Regen. Es erklang unsere Musik, die ihre magische Kraft entfaltete. Sie wirkte nicht nur auf die mit dazu gekommenen Bürgerinnen und Bürger aus der Umgebung, sondern auch auf das Personal der Sicherheitsfirma und der Polizei.

Trotzdem ist es wichtig, dass wir jetzt nicht einem unkritischen Freudentaumel verfallen, sondern uns auf das besinnen, was wir mit dieser Aktion erreichen wollten und uns fragen, ob wir es erreicht haben. Es geht darum, aus dieser Aktion zu lernen, um unsere Aktionsform und die geplanten Ziele immer besser in Einklang zu bringen.

Den Braunkohlen-Tagebau haben wir mit unserer Aktion jedenfalls noch nicht ins Wanken gebracht, auch wenn wir der Aktion „Ende Gelände“ [vgl. GWR 401] das Sahnehäubchen aufgesetzt haben. Mit der Medienpräsenz können wir zufrieden sein, überregional hat uns das Fernsehen eine Stimme gegeben, wenn auch nicht die großen Tageszeitungen.

Das Training und die Rolle der Polizeisprecherin

Ein Punkt, den wir zu organisieren vergessen haben, war die Information für Neue über die Strukturen von Lebenslaute und über die Grundlagen unserer Aktionen. Beim Probenwochenende hatten wir daran gedacht, deshalb ist dieser Punkt bei den Aktionstagen selbst untergegangen, obwohl er am Trainingstag einen guten Platz gehabt hätte. Die gelegentlich beklagten Längen dieses Trainingstages lagen wohl auch daran, dass die „alten Hasen“ viele Dinge noch einmal zu hören bekamen, die sie schon im Schlaf hätten sagen können. Bei einer Informationseinheit nur für „Neue“ wäre dann vielleicht auch die Rolle der Polizeisprecherin genauer geklärt worden, auch für diese selbst. Es ist ja klar, dass jemand, der oder die Kontakt mit der Polizei aufnimmt, sofort den Manipulationsversuchen der Staatsmacht ausgesetzt ist. Nur wer sich das in jedem Augenblick bewusst hält, kann souverän mit dieser Funktion spielen. Um kurz zusammenzufassen, was für mich beim Polizeikontakt wichtig ist: Wer mit der Polizei spricht, übermittelt nicht unsere Absichten, sondern versucht, vorhandene Aggressionen abzubauen oder zu deeskalieren. Er oder sie soll uns die Wünsche der Polizei übermitteln, aber ohne uns damit unter Druck zu setzen. Die Polizei muss erfahren, dass wir a) länger brauchen werden, um zu diskutieren und b) dass wir keine Befehle entgegennehmen.

Stress im Plenum

Es ist verständlich, dass vor einer Aktion der Stresspegel steigt und dass sich bei jedem und jeder immer wieder Gedanken regen, Einwände, bildliche Vorstellungen, die diesem Stress und den von der Aktion ausgehenden Ängsten entsprechen.

Umso wichtiger ist es, dass alle ihre Selbstdisziplin wahren und bei jedem Impuls, im Plenum etwas zu sagen oder eine Frage zu stellen, sich selbst erst einmal bremsen: Ist das jetzt notwendig? Kann ich das nicht auch in der Bezugsgruppe vorbringen? Wird sich dieser Einwand nicht mit der Zeit erledigen?

Ein Plenum von über 70 Personen kann nur Sachinformationen aufnehmen, wie sie durch die Logistikgruppe hervorragend vermittelt worden sind, die Diskussion darüber gehört in die Bezugsgruppen. Und ebenso auch viele Verständnisfragen.

In diesem Punkt reden sich manche heraus: „Meine Frage war ja nur eine Verständnisfrage“, wo in Wirklichkeit bereits eine Meinung geäußert worden ist. Auch die Diskussion in den Bezugsgruppen klärt nicht immer alle Punkte, vor allem ist es nicht immer einfach, unsere Entscheidungen konsistent zu halten: Es ist wenig hilfreich, wenn wir in einer Runde Bezugsgruppen/ Rat die Entscheidungen der vorherigen Runde ins Gegenteil verkehren. Auch haben die SprecherInnen nicht immer die Fähigkeit, die Stimmung im Rat genau wiederzugeben.

Unzulässige Argumente

Hier komme ich auf einen Punkt, der mich geärgert hat, weil er an die Prinzipien unserer Basisdemokratie rührt. Die Logistikgruppe hatte in optimaler Weise dargelegt, auf welchen Wegen wir auf das Gelände kommen könnten, und die verschiedenen Möglichkeiten als Variante 1 – 4 bezeichnet. Anschließend hatte sie das Plenum verlassen und somit uns allen die Entscheidung darüber aufgegeben, was wir mit den vorgetragenen Informationen anfangen. Mir schien übrigens, die Reihenfolge der Varianten war keine Priorisierung, sondern hatte nur mit der Länge der Wege zu tun: Variante 1 schloss sich unmittelbar an die Demo in Manheim an, Variante 2 ebenfalls, war aber vom Weg her etwas länger, etc. Von Seiten der Logistikgruppe war alles gesagt, aber nun kam auf einmal das Argument, wir müssten die Rückkehr der Gruppe abwarten, andernfalls würden wir ihre Arbeit nicht genug wertschätzen, denn sie hätte sich doch so viel Mühe mit der Reihenfolge gegeben. Das war ein unerträgliches Autoritätsargument, das übrigens von der Logistikgruppe selbst gar nicht geteilt wurde: Etwas später lehnte sie es entschieden ab, uns die Entscheidung über den Weg abzunehmen.

Sachliche Argumente für die Wahl des einen oder anderen Weges konnten sich ergeben aus der Stärke der Polizeipräsenz an dem einen oder anderen Weg, aber ebenso auch aus der Länge des Fußweges, den wir zu machen hätten. Diskutiert wurde auch das mögliche Abfallen der Spannung, wenn wir nach der Auftaktdemo zum Gemeindezentrum zurückführen, statt von der Demo aus sofort weiter zu gehen – alles legitime Überlegungen. Natürlich ist es klar, wie wir uns entscheiden, wenn die Logistikgruppe sagt: Der Weg X ist voller Polizei, aber der Weg Y ist frei. Deswegen hat aber die Logistikgruppe noch lange nicht entschieden. Und dass, wenn einmal alle losgefahren sind, jemand die Koordination übernimmt und sich darum kümmert, ob alle da sind, sich niemand verirrt hat, etc., hat nichts mit Leitung oder Autorität zu tun. Unzulässig ist nur, wie gesagt, Argumente auf die Autorität (oder die Zustimmung, die gute Laune…) bestimmter Personen zu stützen.

Abbruchkriterium

Es ist interessant, dass bei der Frage des Abbruchkriteriums vergleichbare Argumente verwendet wurden, die, wie ein Teilnehmer sagte, ihn geradezu entmündigt haben. Nun gut, es wurde dunkel und es fing an zu regnen, die Situation wurde ungemütlich, man konnte kaum mehr musizieren. Dass in dieser Situation viele sagen würden: Wir haben alles erreicht, was wir wollten, lasst uns gehen und das Angebot der RWE zu freiem Geleit annehmen, kann nicht verwundern. Wesentlich war aber die Frage, wie die, die gehen wollten, mit der Verantwortung derjenigen umgingen, die bleiben wollten. Und da gab es, wie ich gehört habe, Argumente wie: Wir fühlen uns doch für euch verantwortlich, wenn ihr bleibt; wir hätten keine Ruhe, ja, ein schlechtes Gewissen, wenn wir ohne euch gehen…, oder gar: Wenn ihr bleibt, seid ihr nicht mehr Teil der Lebenslaute-Aktion, sondern macht das auf eigenes Risiko.

Nun hatten wir die Aktion in der Erwartung begonnen, dass wir alle nach kürzester Zeit geräumt werden würden. Wir kannten doch die Berichte von den Leuten der Wiesenbesetzung und von der Aktion „Ende Gelände“. Wir hatten ausführlich diskutiert, welche politischen Vor- oder Nachteile es hätte, seine Personalien anzugeben oder nicht. Und nun geschah: Nichts. Abgesehen von der permanenten Beschallung vom Bagger her: „Sie begehen eine Straftat, die wir zur Anzeige bringen werden…“, die einige als Lärmfolter bezeichneten. Und das vergiftete RWE-Angebot: Wenn Sie jetzt gehen, werden wir keine Strafanzeigen gegen Sie stellen. Nun hatten aber einige genau die Absicht, Strafanzeigen und Prozesse politisch einzusetzen. Sie wollten geräumt werden und einen Prozess bekommen, um die Wirkung unserer Aktionsform noch zu vergrößern. Übrigens hätten sie trotz des später einsetzenden Wolkenbruchs es sich unter den beiden Pavillons samt den Planen noch recht gemütlich machen können. Doch hätten sie kaum die ganze Nacht dort ausharren müssen, wahrscheinlich ist eher, dass Polizei und Wachschutz gleich nach dem Abzug der Mehrheit zugegriffen hätten, schon um selbst endlich Feierabend zu haben. Alle diese Möglichkeiten wurden verbaut dadurch, dass die zum Bleiben Entschlossenen quasi gezwungen wurden, mit den übrigen mitzuziehen. Das war das Gegenteil der behaupteten Solidarität.

Die Aktion im Rahmen des lokalen und überregionalen Widerstandes

Im Vorfeld hatten wir als Konzept vertreten, dass wir praktisch den Schlusspunkt einer ganzen Kampagne setzen, die sich in diesem Jahr am Braunkohle-Tagebau im Rheinland entzündet hat. Als Gründe wurden genannt: 1. Viele von uns können zum Zeitpunkt der Massenaktion „Ende Gelände“ nicht dabei sein. 2. Wir wollen nicht in der Masse untergehen. 3. Wir wollen am Tagebau Hambach musizieren und nicht in Garzweiler.

Ich denke, alle drei Gründe haben sich bewährt, vielleicht findet noch jemand mehr Gründe. Hervorheben kann ich vor allem die gute Zusammenarbeit mit den „Wiesen-BesetzerInnen“, die für beide Teile eine Bereicherung war. Die Wiesen-BesetzerInnen waren verblüfft, wie sanft auf einmal der Werkschutz agierte; und sie wirkten begeistert nach Kräften zur Unterstützung und an unserem Konzert mit, entweder durch direktes Mittun oder durch das Tanzen auf dem still stehenden Förderband, das wir von Lebenslaute begeisternd fanden. Hilfreich war auch die Zusammenarbeit mit der BI, die uns gelegentlich in brenzligen Situationen die entscheidende Hilfe zu liefern wusste.

Einige Personen aus dem lokalen Umfeld haben sich entschlossen, mit uns in die Grube zu steigen, und waren sogar bereit, mit den anwesenden Fernsehteams zu sprechen. Damit hatten wir erreicht, was wir uns bei der Planung vorgenommen hatten. Gerührt waren wir vom Besuch eines Bauern bei unserer Abschlussrunde, der seinen Dank durch einen Sack Kartoffeln auszudrücken wusste, den er uns spendete.

Es war schön, dass sich um 3 Uhr nachts noch eine Gruppe von Menschen fand, die sich ins 14 km entfernte Bergheim aufmachte, um die dort in der Polizeistation Festgehaltenen abzuholen. Die nächtliche Musik veranlasste die Polizei, die drei jungen Leute nach kürzester Zeit freizulassen.

Termin

Vom 8. bis 18. Oktober 2015 gibt es wieder ein Skilsharing Camp im und am Hambacher Forst. Der Hambacher Forst ist dauerbesetzt, um ihn vor Rodungen durch RW€, die darunter Braunkohle abbaggern will, zu schützen. Infos: http://hambacherforst.blogsport.de/mach-mit/in-aktion/rodungssaison-20152016/