Seit 2002 veranstalten AbtreibungsgegnerInnen ihren "Marsch für das Leben" (früher: "1000 Kreuze für das Leben"-Marsch); zunächst im Abstand von zwei Jahren und seit 2008 jährlich. (1)
Die selbsternannten „Lebensschützer“ tragen bei ihrem Schweigemarsch 1000 weiße Holzkreuze mit sich, die die Zahl der Föten symbolisieren sollen, die angeblich jeden Tag in Deutschland abgetrieben werden. Zu den Mobilisierenden gehören zahlreiche christlich-fundamentalistische Organisationen, hochrangige Mitglieder der AfD, die Junge Union Deutschland und die rechtsradikale Zeitung „Junge Freiheit“.
Sie demonstrieren gegen die jetzigen modus vivendi der Abtreibungsregelung in Deutschland, die für sie einen permanenten Massenmord darstellt. Mit dem Motto: „Ja zum Leben – für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“ und „Gemeinsam für das Leben – immer“ trafen sich im September 2015 fundamentalistische ChristInnen aus beiden Kirchen und AntifeministInnen in Berlin. Diesmal waren es mehr als 5.000, die nach einer rund einstündigen Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt am Reichstag zum Lustgarten zogen. Aufgerufen hatten auch 2015 wieder der Bundesverband Lebensrecht (BVL), bei dem 15 Organisationen, u.a. Arbeitskreise der Parteien CDU, PBC (Partei bibeltreuer Christen) und AUF (Partei Arbeit, Umwelt, Familie) – Mitglied sind, und der von acht weiteren Organisationen unterstützt wird.
Auf seiner Internetseite gibt Lebensrecht e.V. an, sich „für den Schutz des Lebensrechts jedes Menschen von der Zeugung bis zum natürlichen Tod“ einzusetzen. Schwangerschaftsabbrüche sind für den BVL „vorgeburtliche Kindstötungen“.
Das gilt für jede Art von Schwangerschaftsabbruch, auch bei Schwangerschaften, die nach Vergewaltigungen ausgelöst wurden oder die Gesundheit der Frau beeinträchtigen. Meist bringen die AbtreibungsgegnerInnen (auch anti-Choice Bewegungen genannt) demografische Argumente ins Spiel, verweisen auf die niedrige Geburtenrate, weshalb Deutschland aussterben werde und auf Staatsbürger- und Menschenrechte, die Föten zu Teil werden sollen. Mit dem Motto: „Ja zum Leben – für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“ werden Euthanasie und Sterbehilfe sowie Abtreibung und Mord gleichgesetzt.
Jede Organisation, die durch ihre Beratungsarbeit dazu beiträgt, dass eine Frau sich selbst für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden kann, wird der Beihilfe zur Kindstötung beschuldigt. Dazu gehören pro familia, mit ihren Beratungszentren im gesamten Bundesgebiet oder das Familienplanungszentrum „BALANCE“ in Berlin.
Selbst die katholische Organisation Donum Vitae, die an den „Märschen“ teilnimmt, aber Beratungsscheine ausstellt, obwohl der „Heilige Vater“ das nicht will, wird nicht selten angegriffen und – wie die anderen Beratungsstellen auch – als „Helfer des Teufels“ bezeichnet. Die Beratungsverbände wissen, dass illegalisierte Abtreibungen aus Notlagen entstehen und oft zum Tod führen. Immer noch sterben weltweit jährlich ca. 50.000 Frauen nach nicht fachgerechten Abtreibungen, vor allem in den Ländern, in denen es keine legalen Möglichkeiten gibt.
Den AbtreibungsgegnerInnen geht es darum, weibliche Sexualität und Fortpflanzung zu kontrollieren und Macht über den Körper der Frauen auszuüben.
Der ranghöchste Unterstützer ist der Papst
Auch die Aktion im Herbst 2015 wurde – wie schon in den vergangenen Jahren – von Grußworten von Vertretern der Amtskirchen und der Bundesregierung sowie des Europäischen Parlaments begleitet.
Die Liste ist lang. Der ranghöchste Unterstützer war wieder der Papst. BVL-Vorsitzender Martin Lohmann berichtete, der Papst habe ihm bei einem Empfang Mut gemacht und gesagt: „Das ist sehr, sehr wichtig, was ihr da macht!“ Er bat Lohmann, alle Teilnehmer des Marsches „herzlich“ von ihm zu grüßen. Wie die Veranstaltenden vertritt der Papst die Meinung, dass nur Gott alleine über Leben und Tod bestimmen kann und nicht der Mensch.
Durch die Wahlerfolge der AfD bekamen die „Lebensschützer“ neuen Auftrieb. Anti-Feminismus und Familialismus ziehen in die Parlamente ein. Beatrix von Storch – auch in diesem Jahr wieder dabei – sitzt seit Juli 2014 für die AfD im Europaparlament. Dort kämpft sie gegen Abtreibung, „Genderei“, Feminismus, Sexualaufklärung und Homosexualität.
Die AfD schlägt eine Volksabstimmung über die Verschärfung der Abtreibungsgesetze vor, um dem angeblichen Kindermangel in Deutschland entgegenzuwirken und das Überleben der Nation zu sichern. Sie warb diesmal für eine „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“. Die doppelte Botschaft ist leicht zu erraten. Beatrix von Storch ist gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und fordert deren Rücktritt.
Ähnliche Märsche finden u. a. auch in Fulda, München, Münster, Freiburg, Innsbruck, Salzburg und Zürich statt. Bei den „Märschen für das Leben“ geht es nicht nur um Abtreibungen.
Die Teilnehmenden fordern ein „Deutschland nach Gottes Geboten“, üben fundamentalistische Kritik an nicht-familistischen Lebensentwürfen, also solchen, die nicht dem Bild der heterosexuellen bürgerlichen Familie mit Vater, sorgender Hausfrauenmutter und leiblichen Kindern entsprechen. Dementsprechend wird von den „Lebensschützern“ ein Verbot von Verhütungsmitteln gefordert. Heterosexualität wird als „natürliche Lebensweise“ angenommen, weil nur zielführende Sexualität, die auf Fortpflanzung ausgerichtet ist, geboten sei, denn nur durch sie sei die „Weitergabe des Lebens“ möglich. (2)
Gegenproteste und Blockaden
Seit 2008 formieren sich in den verschiedenen Städten Gegendemonstrationen von kritischen Feministinnen, AntifaschistInnen, Schwulen, Lesben, Vereinen und Verbänden, Menschen aus Beratungsstellen, aus Behindertenbewegungen und Parteien, die sich für die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetzbuch und die sexuelle Selbstbestimmung und die Anerkennung vielfältiger Lebensweisen einsetzen. Seit 2012 stellt sich das „Bündnis für Sexuelle Selbstbestimmung“ unter dem Motto „Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht!“ den selbsternannten Lebensschützern entgegen. Dazu Martin Lohmann, Mit-Initiator der „Märsche für das Leben“ 2014 zu seinen Glaubensbrüdern und -schwestern: „Lasst Euch nicht irritieren, (…) wenn dann gesagt wird, ‚mein Körper gehört mir, wir lassen uns nicht bevormunden, leben und lieben ohne Bevormundung‘ [das war das Motto der GegendemonstrantInnen]. Da kann ich nur sagen: Wir lassen uns gerne bevormunden von Geist, Verstand und Herz. Wir lassen uns gerne bevormunden von Kultur, von Geist, von Wahrheit und Freiheit, das ist Freiheit des Lebens. Das ist die Freiheit FÜR das Leben.“ (3)
Da nach der Rhetorik der AbtreibungsgegnerInnen nur Gott alleine über Leben und Tod bestimmen kann, nicht der Mensch, machen sie es sich mit dieser ‚Freiheit‘ einfach: Gott muss sich weder mit den Umständen noch den Folgen einer ungewollten Schwangerschaft auseinandersetzen.
In diesem Jahr stellten sich in Berlin zwei breite Bündnisse: „What the Fuck!“ unter dem Motto „Marsch für das Leben. What the Fuck! Christlichen Fundamentalismus sabotieren“ und das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ unter dem Motto „Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht. Leben und Lieben ohne Bevormundung“ dem Kreuze-Zug mit seinen reaktionären Weltanschauungen entgegen. Ca. 3.000 Menschen nahmen an zwei Demonstrationszügen teil. Auf der Abschlusskundgebung am Gendarmenmarkt kamen die beiden Bündnisse zusammen.
Die GegnerInnen des Marsches stoppten anschließend den Schweigemarsch mit Blockaden und verzögerten den planmäßigen Verlauf der Veranstaltung um mindestens zwei Stunden. Bei der Räumung der Blockaden kam es zu teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und GegendemonstrantInnen. Dabei gingen die 1000 PolizeibeamtInnen unter Einsatz körperlicher Gewalt gegen die BlockiererInnen vor. Unter strömendem Regen kamen die 1000-Kreuze-Marschierer schließlich bei ihrer Abschusskundgebung am Lustgarten an. Es waren nicht mehr viele, die den Blockierern, der durch die Polizei veränderten Demonstrationsroute und dem starken Regen trotzten und sich zur Abschlusskundgebung unter freiem Himmel zusammenfanden. Hauptveranstalter Martin Lohmann sagte später, er sei „sehr bewegt und sehr dankbar“ nach Hause gefahren. Er wolle im nächsten Jahr wieder kommen.
Darauf legen die beiden Bündnisse keinen Wert.
Sie können diesen Septembertag auch anders nutzen. Selbsternannte „Lebensschützer“ schützen kein Leben sondern gefährden es durch Psychoterror. Es ist an der Zeit, diesen reaktionären Kräften entgegenzutreten und ihren zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu stoppen.
Das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ ruft „die Bundesregierung und die Parteien auf, dafür zu sorgen, dass alle ohne Diskriminierung über ihre Familienplanung und ihr Sexualleben entscheiden können und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützt werden, unabhängig von ihrer Herkunft, sexuellen und geschlechtlichen Orientierung oder sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Situation.“ (4)
(1) Siehe auch: Gisela Notz: Alle Jahre wieder: Die Märsche der Abtreibungsgegner, in: Familienplanungszentrum - BALANCE (Hg.): Die neue Radikalität der Abtreibungsgegner_innen im (Inter-)nationalen Raum, Neu-Ulm 2012, S. 49 - 54; hier: S. 50 ff.
(2) Christl Ruth Vonholdt: Homosexualität verstehen, in: Internationale katholische Zeitschrift "communio", 35. Jg., Juli-August 2006
(3) Rede beim "Marsch für das Leben" 2013, Transkription apabiz, zit. nach Eike Sanders / Ulli Jentsch / Felix Hansen: "Deutschland treibt sich ab". Organisierter "Lebensschutz" Christlicher Fundamentalismus Antifeminismus, Münster 2014, S. 28.
Die Autorin
Gisela Notz lebt und arbeitet in Berlin. Sie war zwischen 2004 und 2010 Bundesvorsitzende von pro familia. Soeben ist ihr neues Buch erschienen: Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Schmetterling Verlag, Stuttgart, theorie.org 2015