Woody Allen, dessen Vater 100, die Mutter 96 Jahre wurde, könnte bei so einem Genpool selbst noch lange Zeit weiter Filme machen. Andere Regisseure treten im höheren Alter kürzer oder es gehen ihnen tatsächlich die Phantasie und Ideen aus. Aber bei Woody Allen, der sich seit 1952 Heywood Allen nennt, ist das anders.
Auf sein Alter angesprochen, bemerkte der damals 76-Jährige: „Man ist erst wirklich alt, wenn man völlig außer Gefecht gesetzt ist. Noch bin ich im Geschäft.“ (Woody Allen. A Documentary, 2011).
Sein komödiantisch-ironischer Variantenreichtum scheint unerschöpflich. Eine seiner jüngsten Produktionen, Midnight in Paris (2011), Allens 42. Regiearbeit, für die er 2012 einen Drehbuch-Oscar erhielt, wurde bei den Cannes-Filmfestspielen begeistert aufgenommen. Unschwer finden sich darin Anklänge an Ernest Hemingways letzten autobiografischen Roman „Paris, ein Fest fürs Leben“.
Mit dem Nachwuchs-Schauspieler Owen Wilson in der Rolle des Zeit reisenden Drehbuchautors Gil Pender in das Paris der 1920er Jahre, gelingt Allen eine ideale Komiker-Besetzung ähnlich fast ihm selbst. Dort begegnet dieser den Protagonisten der „Lost Generation“, wie sie die amerikanische experimentelle Schriftstellerin Gertrude Stein einst nannte und in ihrem Salon der Dichter- und Künstlergenies versammelte: F. Scott Fitzgerald, Hemingway, Josephine Baker, Cole Porter, Man Ray, Dali, Bunuel, Picasso.
Never play cards with Allan Konigsberg
Geboren wurde Allan Stewart Konigsberg im New Yorker Stadtteil Bronx als Spross jüdisch-russisch-österreichischer Vorfahren. Aufgewachsen ist er im jüdischen Viertel Flatbush in Brooklyn. In der verhassten Schule war er ein schlechter Schüler und galt als Kartenspielschreck. Es ging das warnende Gerücht um: „Spiel nie mit Allan Konigsberg Karten“.
In einer autobiografischen Szene von Der Stadtneurotiker (1977) schleppt die Mutter den jungen Alvy Singer zum Arzt, weil er depressiv wirke und keine Schularbeiten mehr mache, nachdem er etwas Bestimmtes gelesen habe. Vom Arzt danach gefragt, meint Alvy altklug, das Universum expandiere, breche irgendwann auseinander und das sei dann das Ende von allem, wozu also noch Hausaufgaben! Darauf erwidert die Mutter aufgebracht: so ein Unsinn. Was gehe ihn denn das Universum an! Er sei hier in Brooklyn – und Brooklyn expandiere nicht! (zit. nach Der Stadtneurotiker, Drehbuch). Mit 16, 17 schreibt Allen nach der Schule Witze, manchmal 50 am Tag. 1953/54 belegt er an der New York University den Studiengang Filmproduktion, besucht einen College-Kurs in dramatischem Schreiben, fällt in beidem durch und schreibt wieder Radio- und Werbetexte. 1955/56 verbringt er zwei Lehrjahre in Hollywood und lernt dort das Comedy-Scriptschreiben. Zurück in New York sind die nächsten etwa zehn Jahre ausgefüllt von einsetzender Bühnenpraxis und fortschreitender Professionalisierung mit eigenen Stand-up-Programmen, Schreibaufträgen und Auftritten in verschiedenen TV-Shows. Allen schreibt Gags für verschiedene Fernsehkomiker, Witze-Kolumnen im MIRROR und in der NEW YORK POST Satiren für den NEW YORKER und PLAYBOY. Er verfasst Stücke für den Broadway und 1965-67 drei Drehbücher (What’s New, Pussicat?, What’s Up, Tiger Lily?, Casino Royale), die erstmals richtig viel Geld einbringen. 1969 endlich inszeniert er seinen ersten, eigenen Slapstick-Film Woody, der Unglücksrabe mit ihm selbst als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller. Das Erfolgsprinzip Woody Allens als Autorenfilmer ist geboren.
Es scheint Allens männlichen Rollen-Protagonisten immer wieder darum zu gehen, ihr angeknackstes Verhältnis zum anderen Geschlecht reflektieren und männliches Image aufpäppeln zu müssen. Er selbst beginnt 1959 eine Psychoanalyse, eine erste frühe Ehe scheiterte.
In Mach’s noch einmal Sam (1971, Regie: Herbert Ross), jener gelungenen Persiflage auf Bogartsche Macho-Attitude und Frauen-Erobeungsgehabe in Anspielung auf Michael Curtiz‘ Emigranten-Edelschnulze Casablanca (1941), schrieb Allen die Figur des Humphrey Bogart aus Casablanca ins Drehbuch, der ihm mit seinen coolen Ratschlägen helfen soll, im richtigen Moment zum „Erfolg“ bei den Frauen zu kommen.
Der Soziologe Oliver Kanehl spricht in dem Zusammenhang in seinem gleichnamigen Buch (2005) von „Konstruktion von Männlichkeit“ in Woody Allens Filmen. Unklar ist, ob dadurch gängige herrschende Männlichkeitsmuster eher bestätigt oder hinterfragt werden sollen.
Es scheint ein tiefes männliches Minderwertigkeitsgefühl in bestimmten von Allen und anderen seiner Darsteller verkörperten Männercharakteren zu stecken. Dies beschäftigt ihn selbstzweifelnd in manchen seiner Rollen mindestens ebenso wie ein gewisser Hang zum Hypochonder. Der „eingebildete Kranke“ Allen neigt zum Empfinden psychischer Störung, wenn nicht sogar der vermeintlichen Gewissheit, körperlich etwa an Krebs (Hirntumor) erkrankt zu sein (Hannah und ihre Schwestern, 1986), was sich schließlich als unbegründet herausstellt. Allens Männerfiguren in einer Reihe seiner Filme (Was sie schon immer über Sex wissen wollten “, 1972; Der Stadtneurotiker, Manhattan, 1979 u. a.) weisen Züge eines Frauenkomplexes auf.
Erst seine Gefährtin und Muse seit etwa 1973, Diane Keaton, eröffnete Allen den Blick auf die Dinge auch aus der weiblichen Perspektive, die er fortan als Drehbuchautor immer wieder bevorzugt einnimmt.
In Manhattan, der subjektiven Liebeserklärung an seine megastädtische Lebenswelt des Big Apple, muss sich Allen – darin spätere eigene familiäre Konflikte vorwegnehmend – den peinlichen Beziehungsenthüllungen einer seiner Verflossenen stellen (gespielt von Meryl Streep), mit der er einen Filmsohn hat und die darüber ein Buch veröffentlichen will. Die Tatsache, dass seine Geschiedene nun mit einer Frau zusammen lebt, lässt Allen fast hysterisch besorgt nachfragen, wie es seinem Sohn gehe, ob er wie ein normaler Junge aufwachse oder etwa schon Frauenkleider trage etc. Zum filmischen Frauenkomplex Allens passt das Auftreten und Rollenspiel des kleinen schlaksigen Mannes mit der immer gleichen dunklen Hornbrille, dem sichtlichen Haarausfall, dem Aussehen alles andere als eines Adonis kongenial wie die Faust auf’s Auge. Im wirklichen Leben Allens kam es 1992 zum öffentlichen familiären Eheeklat mit Mia Farrow, der seit Ende der 70er Jahre Nachfolgerin von Diane Keaton als Lebensgefährtin, Muse und Hauptdarstellerin in den meisten seiner Filme der Achtzigerjahre.
Demnach musste Allen ein bestehendes intimes Verhältnis zu einer damals 21-jährigen Adoptivtochter von Farrow eingestehen, was zu einer heftigen Scheidungs- und Sorgerechtsauseinandersetzung wegen des gemeinsamen Sohnes vor Gericht führte. 1997 heirateten die 35 Jahre jüngere koreanische Adoptivtochter Soon-Yi Previn und Allen und adoptierten ihrerseits wieder zwei Töchter.
Europäisch geprägt
Allen ist ein europäisch geprägter Filmemacher gegen die meisten Regeln des Genres.
Filmkritiken hat er angeblich nie gelesen. Er vermeidet große, ausufernde Budgets, wenn man gelegentliche, vor allem spätere Ausflüge in Produktionskostengefilde bis zu 16 Mio. Dollar als „Peanuts“ in der heutigen Filmwelt bezeichnen will. Damit bewegt er sich im Schnitt aber immer noch im unteren Drittel der Kosten vergleichbarer Hollywoodproduktionen. Mit seinen eher bescheidenen Autorenfilmen, bewährten langjährigen Produzenten und erstklassigen Kameraleuten brauchte Allen die Diktatur des kapitalistischen Produktionsmolochs der kalifornischen Filmmetropole weder zu bedienen noch zu fürchten.
Als Vertreter eines Independent-Kino setzen Allen & Co. in Verhandlungen mit Geldgebern und Verleihfirmen auf eigene Unabhängigkeit. Er konnte sich sogar früh das Vorrecht des Final Cut sichern. Von Vorteil erweist sich seit 1994 die Mitarbeit seiner acht Jahre jüngeren Schwester Letty (Ellen) Aronson, die für das Geschäftliche (Produktion) zuständig ist. Allen ist dafür bekannt, dass er, um das Optimale zu erzielen, oft ganze Sequenzen seiner Filme nachdreht. Oft lädt er KandidatInnen seiner Wahl für eine Rolle mit kurzen Briefen ein. Texte und Scripts entstehen auch im PC- und Notebook-Zeitalter nach wie vor exklusiv auf einer tragbaren Olympia-Schreibmaschine, die er 1952 für 40 Dollar erwarb.
Drehbücher sind für Allen präzise Tendenz-Entwürfe mit klaren Zielen, aber offenen Wegen sie zu erreichen. SchauspielerInnen gewährt er darum stets viel Spielraum zur improvisierenden Eigengestaltung, was von diesen als angenehm empfunden wird. Allen ist kein Regiedespot.
In kreativer Hinsicht arbeitet er nach dem anarchischen Prinzip des sich selbst ordnenden Chaos‘. Meist versucht er, ohne Tricks und spezielle Techniken der Kamera auszukommen. Am Filmtechnischen interessiert ihn vorrangig das Kunsthandwerkliche. Unnötige Formspielereien lehnt er ab.
Neue Projekte beginnen in der Regel mit der Durchsicht in einer Schublade gesammelter Haufen von mit Ideen, Eindrücken und Notizen beschriebenen Hotelzetteln und losen Blättern.
Aus der Perspektive des Clowns
In Woody Allen. A Documentary erfahren wir, dass Allens filmisches Geheimnis in seinem Gespür für Musik, Rhythmus und Melodik liege. Allen betont, dass er dazu verdammt sei, alles aus der Perspektive des Clowns zu betrachten, er wäre lieber ernst. In A Purple Rose of Cairo (1985) vermischen sich Realität und Fiktion, indem der Hauptdarsteller (Jeff Daniels) aus dem Film heraus ins wirkliche Leben tritt und sich einer Kinobesucherin (Mia Farrow) zuwendet, die vor ihrem gewalttätigen Mann in die Kino-Scheinwelt flüchtet und sich den Film, zu Tränen gerührt, wiederholt ansieht.
Mit ihr geht er im wüstentauglichen Outfit mit Helm auf Abenteuertour durch New York, wobei sich gelegentliche Probleme einstellen, da z. B. sein Filmgeld in der Realität nichts wert ist. Man müsse, so Allen, im Leben immer zwischen Phantasie und Realität wählen. Ersteres führe in der Regel irgendwann zum Wahnsinn, also bleibe nur die Wirklichkeit mit ihren Verletzungen (W.A. A Documentary).
Gegenüber Stig Björkman, der Allen für sein Interviewbuch „Woody über Allen“ (1995) ausführlich befragte, gibt Allen an, dass ihm in A Purple Rose of Cairo am besten gelungen sei, was er umsetzen wollte.
In Stardust Memories hat Allen als Regisseur Sandy Bates eine Unheimliche Begegnung mit Außerirdischen, die er nach der Existenz Gottes fragt, und warum es soviel menschliches Leid gäbe. Sie entgegnen ihm im Chor, dies sei nicht beantwortbar und es wären die falschen Fragen. Auf seine Bemerkung, warum er sich dann mit seinen Filmen abplage, antworten sie ihm, dass sie seine Filme mögen würden, vor allem die frühen, lustigen (zit. nach Stardust Memories, Drehbuch).
Allen orientiert sich ebenso an Vorbildern wie Ernst Lubitsch, Jacques Tati, Ingmar Bergman, Federico Fellini wie den Filmkomikern Bob Hope und Jerry Lewis, dem Meister des intelligenten Slapsticks, Chaplin, und besonders den Marx Brothers. Gelegentlich verwandelt sich Allen wie im Musical Alle sagen: I love you! (1996) in sein wohl größtes Vorbild Groucho Marx. Bei Allen geht es seit Stadtneurotiker (Originaltitel Annie Hall, 4-facher Oscar) nur noch selten tumultartig-actionreich zu, wie etwa in seinem bereits erwähnten Regieerstling, in Bananas (1971) oder Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (Love and Death, 1975), die man rückblickend als überwiegend noch an Elemente der Filmklamotte angelehnte Arbeiten bezeichnen könnte, bei denen sich Gag an Gag reihte, die die typische Allensche anspruchsvoll durchdringende Verbalkomik aber schon erkennen lassen.
Die Aktion verlagert sich mit den Filmen gegen Ende der 70er Jahre vom äußeren Schauplatz auf die Bühne des seelischen, selbstreflektiven Kammergeschehens, ohne dabei an Komik einzubüßen. Es sind die spitzzüngigen Dialogparts und monologisch kommentierenden wie ironisch pointierten Sprechtexte, die den Kern von Allens entlarvender Komik ausmachen. Man kann sie nur schwer zitieren und erklären, man muss sie im Kontext der Szenen sehen und hören, um sie zu genießen.
Nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Pascal Debra reicht Allens philosophisches Repertoire dabei von Existenzialismus bis Dekonstruktivismus („Philosophie in Woody Allens Filmen“, 2014). Seine Komik und Humor zielen ohne Zweifel subversiv auf das Absurde und die Dummheit des Mainstreams. In seiner Texte-Sammlung „Without Feathers“ (dt.: Ohne Leit kein Freud, 1979) findet sich der Mini-Essay „Eine kurze, aber hilfreiche Anleitung zum bürgerlichen Ungehorsam“, in dem er Beispiele für Revolutionen und Formen des bürgerlichen Ungehorsams wie Hunger- und Sitzstreiks, Demos und Umzüge ironisch distanziert kommentiert und sich auch nicht scheut, sie in Zweifel zu ziehen.
„Mere Anarchy“
Dass Allen eingetragenes Mitglied der Demokratischen Partei ist, ist eine Sache. Dass sein nichtautoritärer Umgang mit seinen DarstellerInnen als auch sein improvisierender freier Regiestil und das Unterminierende seiner Texte und Dialoge deutliche anarchische Züge tragen, eine andere. Eine neuere Sammlung seiner Texte trägt im Original den Titel „Mere Anarchy“ (Pure Anarchie). Empfohlen sei daraus etwa die kulinar-philosophische Diät-Unterweisung „Also aß Zarathustra“. Bekannt ist auch Allens Ausspruch: „Ich würde niemals in einen Club wollen, der Leute wie mich aufnimmt“. Doch auch einer wie Allen, der sich weder als religiös („Ich halte alle Religionen für dumm“) noch Gott gläubig noch der jüdischen Kultur verbunden versteht, kann originäre Wurzeln seiner Weltsicht und seines Weltschmerzes in jüdisch-jiddischer Weisheitstradition nicht verbergen. Seine lebensklugen Aphorismen zehren geradezu von rabbinischer Weisheit.
kulturkonservativ
Angegriffen und verulkt werden von Allen spießige, reaktionäre Kleinbürgerlichkeit genauso wie pseudofortschrittliche Liberalität. Für die in seinen Augen offensichtliche Verdorbenheit (Drogen, Prostitution, Verbrechen, lockere Sitten etc.) amerikanischer Westküstenmentalität hat der Kulturkonservative Allen in seinen Filmen wenig übrig. Diese Abneigung richtet sich auch gegen den Hollywood-Betrieb. Die erste mehrfache Oscarverleihung umging er, indem er wie immer an dem Abend in New York mit seiner Jazzband spielte.
Erst am Tag darauf erfuhr er von den Auszeichnungen. Als Allen in Stadtneurotiker bei einem Kurztrip nach Los Angeles teures Kokain angeboten bekommt und das Pulver probeweise schnieft, bekommt er sofort einen Niesanfall und pustet den kostbaren Stoffvorrat des Kokainschnupfers in die Luft. In einer anderen Szene von Stadtneurotiker stehen Allen und seine Partnerin Annie (Diane Keaton) in einer Warteschlange eines New Yorker Kinofoyers. Allen muss sich die gestelzten Ausführungen eines Kinobesuchers hinter ihm über Marshall McLuhans Medien- und Kommunikationstheorie anhören und fällt ihm genervt ins Wort, dass er von McLuhan keine Ahnung habe.
Dieser kontert, dass er zufällig an der Columbia-Universität eine Vorlesung über Fernsehen, Medien und Kultur halten würde. Allen tritt zur Seite und holt tatsächlich den wirklichen McLuhan, der sich selbst mimt, mit ins Bild, der dem wichtig tuenden Kinobesucher bescheinigt, nichts von seiner Theorie zu wissen und verstanden zu haben. Darauf Allen zum Publikum gewandt: Ach wär’s doch einmal im wirklichen Leben so einfach.
Die kurz aufeinander folgenden, den bis dahin erarbeiteten Allen-Fundus konsequent ins Ernstere transformierenden Filme Stadtneurotiker und Manhattan aus der sog. New-York-Trilogie sind Filme über die Geschlechterbeziehung, den urbanen Irrsinn, das Mann- und Frausein, den (Un-)Sinn des (Liebes-)Lebens, Gott, Teufel und die Welt, die es auch an romantischen Anklängen vor allem in Manhattan nicht missen lassen.
Darauf folgte 1980 wie ein Paukenschlag Stardust Memories, wie Manhattan in Schwarzweiß gedreht. Stardust Memories, nur selten in Kinos gezeigt oder im Fernsehen gesendet, ist Allens eigene Art der „Abrechnung“ mit dem Filmemachen an sich, seinem Publikum, sofern es sich nur in platter epigonenhafter Verehrung des Meisters ergeht, seinen Stoffen in Anspielung auf den Fellini-Streifen 8 œ (1963), in dem dieser eine kritische Bilanz seiner bis dahin abgedrehten Filme zieht. Diese neunte Regiearbeit Allens ist eine bilanzierende Orientierung in seiner aufstrebenden Produktivphase.
Wer, wie der Verfasser, Anhänger der frühen bis mittleren Schaffensperiode Allens Ende der 60er bis etwa Mitte der 90er Jahre ist, war zunächst verstört über das, was Woody Allen mit Innenleben (1978) seiner Fangemeinde zumutete: strengste Komikenthaltung, erstmals war Allen nicht als Darsteller präsent. Die Filmkritik bezeichnete das Kammeropus als Wende in Allens Schaffen, was sie nur zum Teil war. Man versteht das Ereignis, wenn man es nicht nur darauf reduziert, der Regisseur wollte endlich mal einen „ernsten“ Stoff auch angemessen ernst inszenieren, sozusagen einmal die tschechowsche Seite in sich zum Klingen bringen.
Die Trennung eines älteren Ehepaares löst in einer Familie eine tiefe Krise aus, die sich bis in die Beziehungen und das Leben der drei dadurch verstörten Töchter auswirkt. Tragisches Ende ist der Freitod der verlassenen Ehefrau. Es sind die anonymen, sinnentleerten Innenräume der Seele, die die in ihren Konventionen gefangenen, erstarrten Menschen nicht mehr empathisch mit Liebe und Anteilnahme ausfüllen können. So kommt es unausweichlich zur Katastrophe.
Wie Stardust Memories ästhetisch, so markiert Innenleben eine konzeptionelle Zäsur bzw. den Übergang zu nicht mehr nur komischen Sujets. Gemeinsam mit Stadtneurotiker und Manhattan dürften die vier Filme in ihrer dichten Abfolge wohl den Höhepunkt der Bandbreite von Allens künstlerischem Schaffen Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre darstellen, den er danach so kompakt und differenziert nicht wieder erreichte.
Sie sind gleichwohl die geschaffene Ausgangsbasis für die darauf folgenden produktiven Jahre. So ist die Zeit nach der New-York-Trilogie gekennzeichnet durch eine Weiterentwicklung lustvoll-spielerischer Variationen und vielseitiger Mixturen seiner auch noch stärker nuanciert gestalteten Themen, Charaktere und stofflichen Sujets. Das Oeuvre Allens ist sozusagen im Zentrum seiner Möglichkeiten angelangt, um das es beständig weiter Kreise zieht. Sweet and Lowdown (1999) ist rückblickend in die 1920er und 30er Jahre eine Hommage an die Welt des Jazz und Swing. Bereits mit der autobiografischen Filmkomödie Radio Days (1987) hatte Allen der Epoche des Radiohörens breiter Massen und Radio-Shows der 30er und 40er Jahre nostalgisch ein Denkmal gesetzt.
Allen betreibt sein Variantenspiel mit immer neuen Produktionen weiter durch die 2000er Jahre hindurch bis dato, wenn auch nicht mehr ganz mit durchgehend hoher Qualität. Man kann nicht achtzig Jahre lang Genie auf höchstem Niveau sein. Seit dem bei Festivals wieder gefeiert aufgenommenen Thriller-Melodram Match-Point (2005) filmt Allen wiederholt an verschiedenen europäischen Locations mit dort auch lebenden europäischen SchauspielerInnen. Seine späte „europäische Periode“ ist damit angebrochen. Angeblich auch, weil das Filmen in New York immer teurer wird. Jüngstes Produkt: Irrational Man (2015), eine Komödie mit mörderischem Ausgang. DER SPIEGEL kritisierte am 11.11.2015 unter der Überschrift „Theorie und Wahnwitz“ harsch: „als Krimi unglaubwürdig, als Liebesgeschichte absurd und als Komödie komplett unlustig“ und lästerte anspornend, für Allen werde es „wieder Zeit für ein Meisterwerk“. Medien können auch undankbar sein.
Ehe und Liebe
Immer wieder greift Allen zurück auf die Melodramatik und Tragikomik von zumeist nicht richtig gelingender Liebe, Beziehung und Familie, denen Allen sich so gerne und zumeist ironisch destruierend widmet.
Für Allen ist die Ehe der „Versuch, zu zweit mit den Problemen fertig zu werden, die man alleine nie gehabt hätte“. (Zweitausendeins Merkheft, Dez. 2015). Dies scheint sich auch in Ich sehe den Mann deiner Träume (You Will Meet a Tall Dark Stranger, 2010) zu bewahrheiten. Eine beschwingt-pessimistische Komödie über Ehe, Sex, Karriere und Beziehung, in der das Untergründige zwar überall lauert, aber nicht destruktiv ausbricht und im Slalom umgangen wird. Frei nach Shakespeares Motto Leben ist Schall und Rauch – es bedeutet nichts, geht es um Scheidungen, Okkultismus, die Placebowirkung esoterischer Illusionen, Mutter-Tochter-Problembeziehung, Potenzprobleme älterer Herren auf Viagra und Chancen, sich neu zu verlieben.
Was seinen schwächeren Spätwerken gelegentlich fehlt, ist Allens Präsenz als Darsteller, der allein schon dadurch das Geschehen im Allenschen Kosmos zentripetal an sich zieht und verdichtet. Doch seine rettenden Selbstauftritte in späteren Filmen werden auch seltener.
Sex und Pazifismus
Sexthematisches hatte Allen fast 40 Jahre früher in Was sie schon immer über Sex wissen wollten schon mal deftiger präsentiert. Darin nimmt er eine 1969 erschienene, gleichnamige Sexualkundefibel des amerikanischen Soziologen David Reuben aufs Korn und präsentiert episodische Gegenaufklärung a la Allen über Aphrodisiaka, Sodomie (Liebe mit einem Schaf), weibliche Orgasmusprobleme, Transvestie, Homosexualität, Ergebnisse ärztlicher Sexualforschung und den Moment der männlichen Ejakulation. Allen übernahm darin gleich mehrere Parts, u. a. als trauriger Hofnarr und ängstliches, an seiner Mission zweifelndes Spermium.
Es gibt bzw. gab natürlich auch den politisch parodierenden Allen. Genannt seien die Anspielung auf die hysterisch-antikommunistische McCarthy-Ära in den USA in Der Strohmann (1976, Regie: Martin Ritt), Der Schläfer (1973) oder Bananas. In Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (1975) steckt hinter allem vordergründigen Militärklamauk auch ein pazifistisches Plädoyer gegen sinnloses Schlachtengetümmel des frühen 19. Jahrhunderts. Im Fall der satirischen Zukunfts-Parodie Der Schläfer sandte Allen das Drehbuch vorab dem Biochemiker und Science Fiction-Autor Isaac Asimov zu mit der Bitte um wissenschaftliche Prüfung. Der antwortete, dass er am Inhalt, der ihm gut gefiele, nichts zu beanstanden hätte. Allen, alias Miles Monroe, soll eine Revolte gegen einen diktatorischen Polizei- und Überwachungsstaat der Zukunft anführen, in der er, einst versehentlich tiefgekühlt, nach 200 Jahren wieder aufgetaut wird. Man sieht Allen als tippelnden Roboterbutler, der sich so vor Verfolgung durch die Polizei versteckt.
Die Menschen sollen in der Ära des staatlich sanktionierten Klonens ihre Sexuallust losgelöst vom Zeugungsverlangen nicht mehr im liebenden körperlichen Akt befriedigen dürfen, sondern – Wilhelm Reich mit seinen kastenförmigen Orgonenergie-Akkumulatoren lässt grüßen – nur noch mithilfe dafür bereit stehender, zylindrischer sog. Orgasmatrone (in der dt. Synchronisation Libidomaten), denen NutzerInnen schon mal etwas zerfleddert entsteigen.
In Bananas, (das Wort bananas bedeutet im amerikanischen Slang auch bekloppt), wird Allen zum Revolutionär in einer fiktiven Bananenrepublik, von den Aufständischen zum neuen Präsidenten gekürt und tritt in markantem Fidel-Castro-Outfit auf. Aber auch die neue revolutionäre Regierung erweist sich nicht als das, wofür sie einst angetreten ist.
Die verblüffende Doku-Montage Zelig ist eine Auseinandersetzung Allens mit Zeitgeschichte vor dem Hintergrund der sprichwörtlichen Assimilierungsfähigkeit des jüdischen Volkes.
Der Hauptfigur Leonard Zelig ist die Fähigkeit gegeben, eigene Unsicherheit kompensierend, sich in allen möglichen Lebenslagen wie ein Chamäleon seiner Umgebung anzupassen. Technisch verfahrensaufwendig wird Zelig nacheinander in verschiedene historische Filmszenerien (Wochenschauen) oder Fotos pseudodokumentarisierend hinein projiziert und retuschiert.
Man sieht ihn in der Nähe aller möglichen Prominenten und Politiker seiner Zeit (New York der 20er/30er Jahre). Im Gangstermilieu wird er selbst zum Gangster, unter Vollbärtigen wächst ihm selbst sofort ein Vollbart. Das wissenschaftlich interessante Phänomen nimmt bedrohliche psychische Ausmaße an. Eine Psychiaterin, Dr. Eudora Fletscher (Mia Farrow), will sich Zeligs therapeutisch annehmen. Der flüchtet sich von ihr gefolgt ins Deutschland des Dritten Reichs. Dort wird er vorübergehend selbst zum Nazi und sitzt beim Reichsparteitag hinter Adolf Hitler. Das Lexikon des Internationalen Films urteilte: „Eine meisterliche Satire auf Pathos, Verlogenheit, Authentizitätsgehabe und Sensationsgier einer medienbestimmten Öffentlichkeit, aber auch ein filmisches Essay über Identität und Anpassung in der modernen Welt.“
In Manhattan kreierte Allen ohne es zu beabsichtigen eine inzwischen berühmte Kultszene. Prolog: „New York war seine Stadt und würde es immer sein“.
Gemeint ist der Moment, in dem Allen, alias Isaac und Mary auf einer Bank unter der vielleicht schönsten der vielen großen New Yorker Brücken, der alten Queensboro-Bridge, sitzen, zu symphonischen Klängen von George Gershwins „Rhapsody in Blue“ den über der East-Skyline von Manhattan anbrechenden Tag erleben und sich in bewundernden Worten über die Stadt ergehen. Am Filmende kommt es zur anrührenden Abschiedsszene zwischen Allen und seiner gerade achtzehn gewordenen, früheren Liebsten Tracey (Mariel Hemingway), die für ein halbes Jahr zum Studium nach London gehen wird.
Der im Film 42-jährige Allen, er könnte ihr Vater sein, macht ihr nach einem Dauerlauf durch die Straßen eine atemlose Liebeserklärung und möchte sie zum Bleiben bewegen. Das von Allens Rückkehr zu ihr überraschte Mädchen bleibt standhaft und ermuntert Allen auf sie zu warten. Ein halbes Jahr, so versichert sie liebevoll, sei doch keine so lange Zeit, wenn sie einander lieben und er solle doch auch ein wenig Vertrauen in die Menschen haben. Allen (Isaac) lächelt etwas Stirn runzelnd, aber man spürt, die Worte und Gesten passen und stimmen. Allen, pardon, alles wird gut.
Eines der wenigen optimistischen Filmenden bei Allen.
„Ich brauche die Eier“
In Stadtneurotiker zieht Allen zum Schluss Bilanz und erzählt dazu folgenden Witz: „Da geht einer zum Psychiater und sagt: Doktor, mein Bruder ist verrückt. Er glaubt, er sei ein Huhn. Und der Doktor sagt: Warum klären Sie ihn nicht auf?
Und der Mann sagt: Ich würde ja, aber ich brauche die Eier.
Also ich glaube, das ist ziemlich genau mein Gefühl, was Beziehungen angeht. Du weißt, die sind total irrational und verrückt und absurd aber ich glaube, wir machen immer weiter damit, weil die meisten von uns die Eier brauchen.“ (zit. nach Der Stadtneurotiker, Drehbuch). Man spare sich die Therapie und schaue Allen!
Am Ende von Manhattan lässt er seine Figur Isaac eine Liste der Dinge, die das Leben lebenswert machen, auf Recorder sprechen und er zählt auf: „Also zuerst Groucho Marx Der zweite Satz der Jupitersymphonie. Louis Armstrongs ‚Potato Head Blues‘. Schwedische Filme, natürlich. ‚Erziehung des Herzens‘ von Flaubert. Frank Sinatra. Marlon Brando. Die phantastischen Äpfel und Birnen von Cézanne. Die Hummerkrabben bei Sun Wo. Traceys Gesicht.“ Wir fügen noch hinzu: Die Filme von Woody Allen!
Eine Langfassung dieses Artikels kann beim Verfasser angefragt werden: Elmar.Klink@gmx.de