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Glaube, Führer, Hoffnung

Der Untergang der Clara S.

| Ilka Anger

Susanne Wiborg / Jan Peter Wiborg: Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S., Verlag Antje Kunstmann, München 2015, 320 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-95614-028-0

Einmal angefangen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Kinder der Kriegskinder- und Kriegsenkel-Generation, mit vielen Fragen, zu denen sie selten Antworten bekamen, und wenn, dann nur abwiegelnd oder mit latent bis offen bedrohlichen Andeutungen, finden hier Antworten.

Wie konnte es dazu kommen?

Wieso haben so viele mitgemacht? Wieso haben sie weiter mitgemacht, als offensichtlich und doch objektiv nicht mehr zu ignorieren war, was in diesem System geschieht? Wieso wurde so unbedingt fanatisch bis in den Tod gefolgt? Das eigene Ende vorauseilend heroisiert?

Wo blieb Objektivität, wo das Gewissen?

Eine Zeichnung und vage Andeutungen zu einer Tante, die „im Krieg geblieben“ war, ließen die Geschwister Susanne und Jan Peter Wiborg nicht los.

Als ein Bündel Briefe dieser Tante durch eine Erbschaft zu ihnen kam, begannen sie ihre genaueren Nachforschungen.

Beide mittlerweile mit Geschichtsstudium und journalistischer Erfahrung im Hintergrund, forschen den Angaben in diesen Briefen nach. Sie finden Zeitzeugen, erhalten weitere Angaben, forschen weiter und stoßen doch immer wieder auf eine Mauer des Schweigens, so dass manche Frage dann doch weiter bzw. noch offen bleibt.

Im langsamen Aufschlüsseln der persönlichen Geschichte, der damaligen Sichtweise und den Hoffnungen ihrer Tante, die auf beständige manipulative Einflüsse des Regimes trafen, wird jedoch deutlich, dass es sich nicht ausschließlich um eine individuelle Frage handelte.

Die Familiengeschichte der Clara S. ist exemplarisch für unzählige Familien der damaligen Zeit, genau wie Enttäuschungen und Hoffnungen bei vielen Menschen ähnlich gelagert waren.

Kaiserreich und Erster Weltkrieg, Weimarer Republik und Weltwirtschaftskrise als politisch/wirtschaftlicher Rahmen waren die Ursachen für den sozialen Abstieg vieler Familien. Anerzogene unhinterfragte Autoritätsgläubigkeit, daneben der Wunsch nach ein wenig subjektiv empfundener Freiheit (siehe auch Hesses „Unterm Rad“ als Stimmungsbild), wirkten in den Familien über zwei Generationen hinweg. Der Fatalismus einer von der Weimarer Republik „enttäuschten“ Elterngeneration, die versucht „das beste aus den Gegebenheiten“ zu machen, um die bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten, eine Jugend ohne Orientierung, die den Niedergang der Familie, die Ohnmacht der Elterngeneration darin miterlebt hat, dies alles bot die Voraussetzung.

Sowohl für einfaches Hinnehmen einer neuen „Ordnung“, in der ein familiärer Aufstieg durch Mitlaufen wieder möglich wurde, für Mitmachen, in dem neue „Karrieren“ jenseits alter Beziehungen im Rahmen der Parteimitgliedschaft erreichbar wurden, als auch für ein Einfangen der Jugend, der scheinbare Freiheiten und Möglichkeiten geboten wurden, in der sie eine Anerkennung erfuhr, die vorher nur in Ausnahmen geäußert wurde (Langemarck), und die sich, wie ihr unablässig suggeriert wurde, als Elite und Grundfeste und Zukunft des neuen, werdenden, starken Deutschlands fühlen konnte.

Mitscherlich hat unter psychoanalytischer Sicht dieses Phänomen beschrieben, Adorno und Horkheimer bearbeiteten die Fragestellung, dieses Buch füllt die theoretischen Erkenntnisse mit gelebtem Leben, nachvollziehbar und doch unglaublich – auch der Gedanke, man selbst hätte eventuell „darauf hereinfallen“ können unter bestimmten Bedingungen.

Beim Lesen schleicht sich immer wieder die Erkenntnis ein, dass die Bedingungen, die die Bereitschaft fördern, in einem diktatorischen System mitzulaufen oder gar unterstützend tätig zu sein, oder in einer terroristischen Gruppe aktiv zu werden bis hin zur Selbstaufgabe, dabei nichts mehr in Frage zu stellen und Fragende statt dessen „an die Wand“, sich heute zunehmend wiederfinden.

Der Ruf nach einem „starken Mann“ (und manchmal der starken Frau) an der Spitze, der (die) „endlich Ordnung schafft“, den Zulauf junger Menschen in fanatisierte Gruppen, die ihnen einfache, eindeutige Orientierungen, subjektiv empfundene Aufwertung und propagiertes Elitebewusstsein sowie eine zukünftige „Belohnung“ bieten, von rechten Gruppierungen bis hin zur Daesh (IS), das können wir täglich beobachten.

Neben dem Verstehen der persönlichen Geschichte der Clara S. und ihrer Einbindung in das politische Geschehen werden historische, selten in der allgemein bekannten Geschichtsschreibung beachtete Hintergründe der Nazi-Politik in Pommern beschrieben. Die Allmacht der Gauleiter, das menschenverachtende, der allgemeinen Entwicklung im damaligen Deutschland vorauseilende Handeln (z.B. die frühe „Räumung“ einer psychiatrischen Klinik, alle Kranken wurden in einem Wald erschossen), später das Verheizen der „Treu bis in den Tod“-gläubigen Jugend, mit der in den letzten Kriegstagen der Rückzug der Verantwortlichen gesichert wurde und vieles mehr.

Fazit

Einige Wiederholungen im letzten Teil des Buches (ein etwas genaueres Lektorat wäre hier wünschenswert gewesen) schaden jedoch nicht dem Gesamteindruck. Dieses gut lesbare, fesselnde Buch ist m.E. ein Muss für jede/n historisch Interessierte/n.