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Alexandre Marius Jacobs Leben als Dieb und Strafkolonist

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Bernhard Thomas: "Die vielen Leben des anarchistischen Diebes Alexandre Jacob (1879-1954). Matrose, Dieb, Anarchist, Sträfling", Verlag Edition AV, Lich 2015, 339 S., ISBN: 978-3-86841-132-4, 18 Euro.

Dieses Buch informiert über die schillernde Figur des anarchistischen Diebes und Gefangenen der Strafkolonien in Französisch-Guayana, Alexandre Jacob (später: Marius Jacob). 1994 gab es dazu eine erste, längst vergriffene Broschüre von Michael Halfbrodt bei Syndikat A.

Wohl niemand hat die praktischen Konsequenzen des anarchistischen Grundsatzes „Eigentum ist Diebstahl“ so gelebt wie Jacob: Wenn nämlich Eigentum tatsächlich Diebstahl an den Armen, Arbeitenden und Ausgebeuteten ist, dann ist der Diebstahl des Eigentums der Reichen durch AnarchistInnen nur eine moralisch legitime Wiederaneignung (reprise).

Alexandre Jacob lebte sich nach einer kurzen Erfahrung als Matrose in die Marseiller anarchistische Szene der Wende zum 20. Jahrhundert ein. Sein wichtigster, lebenslanger Freund wurde Charles Malato (1857-1938).Sie kritisierten bereits die anarchistische Bombenwerfer-Periode der „Propaganda der Tat“ (1892-94) als für die Revolution ineffizient, ja die Massen von ihr abschreckend; produzierten aber dennoch Bomben, die jetzt versteckt wurden für den nunmehr hinausgeschobenen Moment der Revolution. Dafür wurde Jacob ein erstes Mal verhaftet. Nach seiner Freilassung wurde er anarchistischer Dieb (1899-1903), um die Revolution zunächst einmal finanziell vorzubereiten. 10 Prozent aller Einnahmen bei den Diebstählen wurden der anarchistischen Bewegung, deren Agitation in Zeitungen oder für Familien Verfolgter gespendet.

Jacob wurde Safe-Händler, so konnten seine Teams gut üben. Mehrere von ihm ausgebildete und koordinierte Gruppen brachen in ganz Frankreich, in besten Zeiten einmal jede Nacht, manchmal gar zu zwei Teams an verschiedenen Orten in abgelegene Villen der Reichen oder reicher Witwen, auch in Kirchen ein. Jacob nannte das die Industrialisierung des Diebstahls. Letztlich konnten ihm 150 Diebstähle nachgewiesen werden, real gehen die Schätzungen bis weit über 1000.

Allerdings waren nicht alle Beteiligten AnarchistInnen, auch EgoistInnen und einfache Kriminelle schlichen sich ein und sorgten für Streit: Sie wollten die 10% für die Bewegung nicht abgeben oder rissen manchmal die ganze Beute an sich. Dadurch kam, was kommen musste: Aussteiger, Verstoßene gaben der Polizei Hinweise oder sagten bei ihr aus, wodurch die maßgeblichen Beteiligten gefasst wurden. 26 Angeklagte standen in Amiens 1905 vor Gericht, darunter seine Mutter Marie und seine Freundin Rose Roux. Jacob wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit in den Strafkolonien Guayanas, d.h. den dort vorgelagerten Inseln, verurteilt. Tatsächlich wurden daraus 25 Jahre Straflager und Knast, wovon er die letzten 2 Jahre in Frankreich absaß. Dass er überhaupt – als einer der wenigen Strafkolonisten – lebend zurückkehren konnte, hatte er der Kampagne seiner Mutter, von Charles Malato, des Arztes Louis Rousseau, der mit Informationen Jacobs Mitte der Zwanzigerjahre die Zustände in den Lagern von Guayana erstmals skandalisierte, und dem kritischen Journalisten Albert Londres zu verdanken. Dieser Abschnitt von Jacobs Leben, oft vernachlässigt, wirft einen Blick auf die mörderischen, die Gefangenen brutalisierenden und einer permanenten Folter gleichkommenden Zustände in den Strafkolonien. In Frankreich sind dazu im Jahre 2000 die Briefe Jacobs aus den Straflagern an seine Mutter veröffentlicht worden, manche werden in Thomas‘ Buch wiedergegeben. Schließlich verbrachte Jacob die letzten dreißig Jahre seines Lebens als weiser, zurückgezogener, auch selbstkritischer Anarchist, als Freund des antimilitaristischen Anarchisten Louis Lecoin, bis zu seinem Freitod 1954 in der französischen Provinz.

Bei den Einbrüchen waren Jacob und seine Teams durchweg bewaffnet: falls Eigentümer, Hausverwalter wider Erwarten doch anwesend waren oder NachbarInnen die Polizei riefen, wurde sofort geschossen, das Leben eines Gendarmen galt den Dieben nichts. Durch diese Schießwütigkeit wurde der mögliche Unterschied zwischen reinem Diebstahl und blutigem Raubüberfall verwischt. Unangenehm zu lesen ist auch der Furor der Rache des Jacob, dem es noch während des Prozesses gelang, die aussagende Ex-Freundin eines Diebes zu vergiften oder später im Straflager Verräter gnadenlos abzustechen. Bernard Thomas weidet sich manchmal zu sehr in solchen Beschreibungen, seine Sprache ist zuweilen militarisiert – die Annäherung Jacobs an seine Geliebte Rose beschreibt er z.B. in Schützengrabensprache als zunächst „Belagerung“, dann „intensiven Beschuss“ und schließlich setzt er abschließend zum „Sturmangriff“ auf sie an (S. 82). Es war deswegen nötig, das Buch im Titel als „Roman“ zu kennzeichnen, Dieser „Kriminalroman“ liest sich spannend und flüssig, doch Thomas neigt zur unkritischen Heroisierung und Legendenbildung. Mit den Tatsachen nimmt er es nicht so genau, was allerdings zu großen Teilen durch eine Fleißarbeit von 30 Seiten Richtigstellungen, Fakten und Zusatzinformationen durch die ÜbersetzerInnen im Anhang ausgeglichen wird.

Ich hoffe, dass dieses Buch den Auftakt zu weiteren Übersetzungen bildet. Neben den Strafkoloniebriefen stünden da noch Jacobs in der ersten Gefängniszeit geschriebene Autobiographie über die Diebstahlsphase, „Les Travailleurs de la nuit“ (Die Nachtarbeiter), 1999 veröffentlicht, zur Auswahl, besonders aber die detaillierten Biographien des wichtigsten Jacob-Historikers Jean-Marc Delpech, „Alexandre Jacob, l’honnête cambrioleur“ (Der ehrliche Einbrecher), 2008, sowie „Alexandre Marius Jacob. Voleur et Anarchiste“ (Dieb und Anarchist), 2015. Interessant bei Delpech auch, dass er Führungen in französischen Nazi-KZs wie Struthof durchführt und die französischen Strafkolonien in Guayana als ihre Vorläufer sieht. Letztlich sei noch auf die eben in Frankreich erschienene, wunderbare Graphic Novel von Vincent und Gaël Henry hingewiesen: „Alexandre Jacob. Journal d’un anarchiste cambrioleur“ (Tagebuch eines anarchistischen Einbrechers), Éditions Sarbacane, Paris 2016.