libertäre buchseiten

Gut erzählt, aber politisch fragwürdig

"Lügen von gestern und heute"

| Franziska Wittig

Ursula Fricker: Lügen von gestern und heute, dtv, München, voraussichtlich Mai 2016, 368 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-423-28073-0

Der Roman "Lügen von gestern und heute" erscheint zunächst gut lesbar und politisch interessant. Ursula Fricker erzählt uns die Geschichte von Beba, die nach einem Bürgerkrieg in ihrem Land der Perspektivlosigkeit entflohen ist.

In Deutschland arbeitet sie als Prostituierte. Die Tochter eines ihrer Stammkunden, Isa, ist etwa in ihrem Alter, und auch diese flieht: vor den Erwartungen ihrer Eltern, insbesondere ihrer Mutter, die von ihrer Tochter etwas Besonderes, eine große Leidenschaft für etwas, egal was verlangt. Die gelangweilte Studentin lernt eher zufällig einige Aktivist*innen kennen, kopiert deren Dresscode und Sprachduktus und macht schnell auch politische Anliegen zu ihrer eigenen Sache. Der Kampf der Geflüchteten wird für sie zum wichtigsten überhaupt. Ihr Feindbild stellt Senator Joachim Ottens dar („Von der Titelseite grinste fett ein fettes Gesicht.“), der ein Flüchtlingscamp räumen lässt und generell als wohlsituierter und konservativer Hardliner erscheint. Die Sache wird zu einem persönlichen Kampf.

Wie der Titel bereits verrät, sind Lügen das unausgesprochene Dauerthema des Romans. Alle Protagonist*innen kämpfen mit Lebenslügen und verdrehten Wahrheiten. Beba, die nicht weiß, ob sie zu den Sexarbeiterinnen gehört, „die das freiwillig“ tun, oder zu jenen, „die das nicht freiwillig“ tun. Isa, die alle Bande zu ihrem Elternhaus kappen will, aber letztlich doch nur versucht eine Person zu werden, wie ihre Mutter sie bewundern würde. Senator Ottens wiederum spielt den Unerschütterlichen, während ihn die Drohungen der Antirassistischen Zone (ARZ), wie sich Isa und ihre Clique nennen, längst sehr mitnehmen.

Der Roman lebt von Dialogen. Seine Sprache ist mitunter rau, mitunter bildreich. Letzteres z.B. wenn Beba davon spricht, ihren Körper wie einen Mantel abzulegen und selbst daneben zum Fenster hinaus zu sehen. Der Aufbau der Geschichte ist stimmig.

Was sich zunächst als wohltuende Kritik lesen lässt, z.B. am Szene-Dresscode oder dem NGO-Funktionär Sven, der mal eben zum Pressetermin erscheint, wortgewaltig Raum einnimmt und dann schon wieder verschwunden ist, wird allerdings immer mehr zur einseitigen Farce.

Zwar wird Senator Ottens als vielschichtige Person dargestellt. Immer wieder reflektiert er das Verhältnis zwischen seiner jetzigen Position und der seines Vaters, von dem er sich in seiner Jugend, in der er gerne ein Arbeitersohn gewesen wäre, abgewandt hatte. Der knallharte Politiker wird im Privaten als sensibel, warmherzig und maßvoll dargestellt. Die Liebesgeschichte seiner Ehe erscheint voller Wärme, Rücksichtnahme und Vertrauen. Im Kontrast dazu erscheint Isa sehr eindimensional. Sie wird als Prototyp einer verblendeten Aktivistin dargestellt, die außer abgedroschenen Phrasen kaum etwas zu sagen weiß und sich die Realität und politische Zweckmäßigkeit zurecht biegt. Mit Härte und Gruppendruck dominiert sie ihr Umfeld, während sie eigene Bedürfnisse z.B. im Beziehungsleben verleugnet. Weder ihre Handlungen noch ihre Gedankengänge werden für die Leser*innen wirklich nachvollziehbar. Einzig das Verhältnis zu ihren Eltern und die fehlende Grenzsetzung durch diese, werden als Erklärungsmuster herangezogen.

Die Geflüchteten stellt Fricker als fordernd dar. Viele von ihnen sitzen vor dem Fernseher, sind aggressiv und zerstören grundlos alles Schöne, wie z.B. eine Gitarre, auf der ein Junge spielt. Sie lassen überall ihren Müll herumliegen, beschweren sich, dass die Stadt diesen nicht wegräumt, und werfen allen, die sagen, sie sollten selbst aufräumen, vor, das sei rassistisch.

Die Geflüchteten erscheinen als Masse, unter denen nur der Wortführer Amidou heraussticht, der sich weigert, die besetzte Fabrik mit Obdachlosen und „Zigeunern“ zu teilen. Doch selbst als dieser einen anderen Geflüchteten umbringt, reagieren die anderen mit Solidarität.

Freilich kann es nicht darum gehen, die Verhältnisse unter Geflüchteten schön zu reden oder zu idealisieren. Doch Fricker polemisiert, statt zu beschreiben. Während sie den gesellschaftlich Privilegierten mit viel Einfühlungsvermögen entgegenkommt, werden jene, die um politische Teilhabe kämpfen, als plump, provokant und logischen Argumenten nicht zugänglich beschrieben.

Der Roman behandelt spannende und aktuelle Themen, tut dies aber auf eine fragwürdige Weise. Bebas Geschichte ist sehr ergreifend und nachvollziehbar geschildert. Sie verliebt sich, und die Frage taucht auf, ob ihr Partner ihre Vergangenheit wirklich akzeptieren kann oder dies eine weitere Lüge ist.

Diese Geschichte macht das Buch lesenswert. Alles andere lässt das Buch auf unschöne Weise politisch gefährlich werden, gerade weil es erzählerisch gut geschrieben ist.