Während die zunehmend autokratische Türkei und die Europäische Union einen gegen Flüchtlinge gerichteten Pakt geschlossen haben, wird über den türkischen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung kaum berichtet. Die Pressefreiheit ist in der Türkei de facto nicht mehr vorhanden. Das Land rutschte im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen auf Platz 151 (von 180 Ländern). Um sich ein Bild von der Situation zu machen, sind wir auf BewegungsjournalistInnen und Berichte von AugenzeugInnen angewiesen. Jan Zombik und Dennis Firmansyah bereisten im April 2016 die kurdischen Gebiete in der Türkei. Ihr für die Graswurzelrevolution geschriebener Reisebericht ermöglicht einen Eindruck von der Situation der Menschen in Türkisch-Kurdistan. (GWR-Red.)
Nächtlicher Landeanflug auf Diyarbakir. Die inoffizielle Hauptstadt der kurdischen Autonomiebewegung liegt im Dunkeln, auf den Straßen sind kaum Autos zu sehen. Auch das vom grell-gelben Licht der Natriumdampflampen erleuchtete Terminal am nagelneuen Flughafen ist bis auf die mit uns aussteigenden Fluggäste menschenleer. Auf der Fahrt zu unserer Unterkunft macht Diyarbakir den Eindruck einer Geisterstadt. Unter dem Eindruck der türkischen Militäroperationen in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, trauen sich die Menschen nachts nicht auf die Straße, auch dort, wo gerade keine Ausganssperre herrscht. Es ist ein bedrückendes Gefühl, das uns gleich bei unserer Ankunft befällt.
Nachmittags, ein paar Tage später, in der Zentrale der pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) in Diyarbakir. Gleichgültig gegenüber dem Krieg scheint warm die Sonne durchs Bürofenster von Ziya Pir. Er hat uns hierher eingeladen, weil wir mehr über die Rolle seiner Partei in der kurdischen Autonomiebewegung wissen wollen. Das freundliche, weiche Gesicht des ehemaligen deutschen Geschäftsmanns, der in die Türkei gegangen ist, um dort Politik zu machen, will nicht so recht passen zu seinen Berichten aus der umkämpften Stadt.
„Die meisten der kurdischen Parlamentsmitglieder halten sich derzeit gar nicht in Ankara auf, denn es ist Krieg. Wichtiger als unsere parlamentarische Arbeit ist derzeit, die Bevölkerung vor Ort zu unterstützen.“ Pir hilft mit seinem begrenzten Einfluss, humanitäre Korridore in die belagerten Viertel zu öffnen, die Bergung und Identifizierung von Toten zu organisieren. Er stattet Familien Kondolenzbesuche ab.
Hunderte sind seit Beginn der Kämpfe vergangenen Sommer gestorben, zehntausende nach Angaben der Stadtverwaltung allein aus Sur vertrieben.
Die derzeitige Lage im Südosten der Türkei stellt einen neuen Höhepunkt in der Eskalation des Konflikts mit den Kurd*innen dar. Im Sommer 2015 hatte zunächst die regierende AKP bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren, mit der sie seit 2007 regieren konnte. Wenige Wochen später sorgte ein Anschlag auf die Mitglieder einer sozialistischen Jugenddelegation in Suruç, bei dem 34 Menschen getötet wurden, für politische Spannung. Bei den darauffolgenden Vergeltungsaktionen der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die den türkischen Staat für den Anschlag verantwortlich machte, starben insgesamt vier Soldaten und Polizisten.
Als Reaktion erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der PKK für gescheitert und ließ deren Stellungen im nordirakischen Kandil-Gebirge bombardieren. Seitdem wird die Türkei immer wieder von Anschlägen erschüttert. Allein bei den Bombenattentaten seit Sommer 2015 starben mehr als 150 Menschen. Die Luftangriffe auf mutmaßliche PKK-Stützpunkte sind Alltag geworden.
Parallel dazu hat ab Mitte August die Repression gegenüber den politischen Institutionen im Südosten der Türkei – offiziellen und solchen der kurdischen Selbstverwaltung – massiv zugenommen. Bis Anfang 2016 sind mehr als 40 Bürgermeister*innen in der Region unter diversen Vorwänden verhaftet oder angeklagt worden, im Gefängnis oder auf Bewährung. Als militante Jugendliche der kurdischen Jugendorganisation YPG-H Polizei und Militär durch Barrikaden daran hindern wollten, in die Städte vorzudringen, reagierte der türkische Staat mit Ausgangssperren.
An einem weitläufigen Platz im Stadtviertel Ofis trifft uns M. Hadi auf einen Tee. Seine bald schwarzen, bald weißen Haare blitzen in der Sonne, seine Stimme klingt ruhig und gelassen, sein vieldeutiger Blick lässt auf eine bewegte Vergangenheit schließen.
Wie hat der Krieg seinen Alltag verändert?
Mit seinen Antworten weicht er der Frage aus: „Das hier betrifft nicht nur mein Leben. Der Krieg ist ein Faktum. Er verwüstet viele Städte und kostet unzählige Menschenleben.“
Unser Gesprächspartner ruft einen Simit-Verkäufer zu sich und lässt sich fünf Sesamringe geben. Mit offenen Handflächen macht er eine einladende Geste – wir sollen uns bedienen. Die obersten Fingerkuppen seiner linken Hand fehlen an Mittel- und Ringfinger.
„Dieser Krieg tobt schon seit 40 Jahren, mit all seinen Eskalationen und Waffenstillständen.“ Als junger Mann ist Hadi in den Straßen aktiv geworden, er war organisiert. Nach Jahrzehnten des Kampfes habe seine Generation den Schmerz des Krieges in ihren Herzen begraben. Er und viele seiner Freund*innen haben sich entschieden, ihr Leben zu verändern. M. Hadi selbst habe sich den Künsten zugewandt, dem Film. Nebenbei eröffnete er ein Café in Diyarbakir, das er vor Kurzem schließen musste, wegen der Ausgangssperre, den Soldaten, den Panzern.
Spätestens als die Bomben in zwei HDP-Büros kurz vor der Wahl im letzten Sommer explodierten, sei klar geworden, dass die türkische Regierung den Konflikt mit den KurdInnen nicht ernsthaft lösen wolle. „An diesem Tag haben wir verstanden, dass die friedliche Atmosphäre ein für alle mal verschwunden ist.“ Viele Leute seiner Generation seien verunsichert gewesen über ihre neuen Berufe und Lebenswege.
Nachdem das Café schließen musste, haben auch die Filmprojekte für Hadi keinen Sinn mehr ergeben. „Ich habe Familienangehörige in Sirnak, Sur und Cizre verloren. Die Mitglieder meiner Familie sind sich, wie bei vielen anderen kurdischen Familien, sehr nahe. Hier in Kurdistan sterben wir nicht jeder für sich, einer nach dem anderen. Wir sterben hier zusammen. Und wir kämpfen zusammen.“ Es ist ein Kampf, der viele Opfer gefordert hat.
„Von einer zivilisierten Gesellschaft erwarten wir, dass sie als erstes auf der Achtung der Menschenrechte gebaut ist. In der Türkei sind wir davon weit entfernt. Hier steht an erster Stelle der Staat und die Nation, danach kommt die Wirtschaft, dann alles andere“, resümiert der HDP-Abgeordnete Ziya Pir voll bitterem Sarkasmus. Das Leben des Einzelnen zähle in der Türkei nicht viel. „Jetzt gerade werden in Sur die Trümmer der zerstörten Häuser auf Laster geladen und in den Tigris gekippt. Da sind auch tote Menschen und Leichenteile darunter. Kein Mensch regt sich mehr darüber auf. Das meine ich, wenn ich von der Würde des Menschen spreche.“
Erdogan scheint diese Form der Politik geradezu zur Staatsdoktrin zu erklären, wenn er nach Angaben einer großen, deutschen Tageszeitung wenige Tage nach dem verheerenden Anschlag in Ankara am 13. März 2016 verlautbart: „Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat haben für uns keinen Wert mehr.“
Eine politische Antwort
Doch wie soll die politische Antwort auf die immer neuen Auseinandersetzungen aussehen? Mit militärischen Mitteln ist dieser extrem asymetrische Krieg, wo auf einer Seite eine gut ausgerüstete, staatliche Armee, auf der anderen Seite eine urbane Guerilla mit Rückhalt in der Bevölkerung kämpft, nicht zu beenden.
Pir sieht die HDP als parlamentarische Interessenvertretung der Kurd*innen, nicht als revolutionäre Bewegung. Die Partei müsse nun vor allem auf Reformen bauen, um ihre Basis zu vergrößern und den Friedensprozess mit einer größeren Gefolgschaft hinter sich zu unterstützen. Die bestehe derzeit überwiegend aus konservativen Kurd*innen, die die Partei wählen, „weil sie Kurden sind, weil sie unterdrückt werden“, nicht wegen des politischen Programms, so Pir.
Nicht alle Menschen hier setzen noch Hoffnung auf die politische Arbeit in einem staatlichen Rahmen. „Wir versuchen, die Menschen beim Aufbau der Selbstverwaltung zu unterstützen. Indem wir uns um den Staat herum organisieren, können wir ihn überflüssig machen“, erklärt uns Selma Irmak. Zusammen mit Hatip Dicle ist sie Ko-Vorsitzende des DTK („Kongress für eine demokratische Gesellschaft“), Zentrum der kurdischen Selbstverwaltung in Diyarbakir. 501 Mitglieder sollen hier zu Friedenszeiten Arbeitsfelder wie Gesundheit, Menschenrechte oder Ökonomie koordinieren. In einem geräumigen Konferenzzimmer voller gediegener Ledermöbel versuchen Irmak und Dicle, die Grundlagen der kurdischen Selbstverwaltung zu erklären. Die gelegentlichen Schüsse aus Maschinengewehren im benachbarten Viertel Baglar dringen nur undeutlich durch die dicken Fenster.
„Die türkische Regierung hat bis jetzt nicht verstanden, dass wir keinen neuen Staat aufbauen wollen, und sieht uns deshalb als Bedrohung. Dabei wollen wir den Fehler eines zentral regierten Nationalstaates nicht noch einmal wiederholen. Eine pluralistische Gesellschaft kann nur gerecht organisiert werden, wenn alle beteiligten Gruppen dabei etwas zu sagen haben.“
Die Prinzipien, nach denen der DTK aufgebaut ist – zweigeschlechtliche Doppelbesetzung von Ämtern, paritätische Teilhabe aller religiösen Gruppen in der Region, Repräsentation aller lokalen Ethnien – folgen dem Konzept des Demokratischen Konföderalismus, als dessen Erfinder Abdullah Öcalan gilt. Viele Kurd*innen verehren Apo („Onkel“), wie Öcalan auch genannt wird, als geistigen Führer geradezu kultartig.
Auch hier im DTK hängt sein Bild an der Wand.
Die kurdische Frauenbewegung
Kurioserweise ist es auch der Mann Öcalan, auf den sich die kurdische Frauenbewegung in ihrem Freiheitskampf bezieht. Nach seinen Ideen gründete sich die kurdische Frauenorganisation KJA („Kongress für die Freiheit der Frauen“). Ayse Gökken, die im KJA für die Zusammenarbeit mit anderen politischen Gruppen zuständig ist, empfängt uns in einem Konferenzzimmer unter einer mehrere Quadratmeter großen Fahne ihrer Organisation. „Frauen waren im kurdischen Konflikt immer doppelt unterdrückt: Als Frauen haben wir eine besonders brutale Gewalt erfahren – Entführungen, Folter, Vergewaltigungen. Schon weil die Frauen die Hälfte der gesamten Bevölkerung stellen, kann es keinen Frieden geben, wenn wir uns nicht zuerst befreien und der patriarchalen Gewalt ein Ende setzen.“
Der KJA, der ebensoviele Mitglieder wie der DTK zählt, besitzt daher in seinen Entscheidungen weitestgehende Autonomie gegenüber den anderen Institutionen der kurdischen Selbstverwaltung. „Ich hoffe, ich klinge jetzt nicht zu anarchistisch“, lacht Gökken, „aber im Grunde genommen zielt der Verteidigungskampf von uns Frauen auf Unregierbarkeit – durch den türkischen Staat und das Patriarchat.“
Sie wird wieder ernst: „Wir können und werden unser Leben selbst in die Hand nehmen – sei es als bewaffnete Kämpferinnen, beim Wiederaufbau unser Städte oder der Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte aus einer weiblichen Perspektive.“
Ortswechsel, später am gleichen Tag.
Wir befinden uns in einem Park gegenüber einer Garage, in der Hilfsgüter für die Opfer des Krieges verteilt werden. Dort treffen wir Zeynep. Sie ist Mitte Zwanzig, lebt und arbeitet in Diyarbakir und studiert an der Universität in Mardin. Auch Zeynep kann ihrem Beruf als Landschaftsarchitektin immer weniger Bedeutung abgewinnen: „Wen kümmert es, ob wir einen Stein hier oder dort hinlegen, wenn wir Gärten planen?! Die Leute sterben in dieser Stadt!“, empört sie sich. Im Rahmen ihres Studiums hat sie sich mit den Staudammprojekten entlang der irakisch-türkischen Grenze beschäftigt, die die Türkei vorantreibt.
„In Sur, Cizre und Gever vertreibt der türkische Staat die Menschen mit den klassischen Mitteln des Krieges – mit Gewehren, Panzern und Soldaten.“ Die historische Altstadt Sur wurde dabei stark beschädigt. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu ließ kürzlich verlautbaren, sie solle „wie Toledo“ wieder aufgebaut werden – ein touristisches Gentrifizierungsprojekt als willkommenes Nebenprodukt des Krieges. Ob die ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser dann zurückkehren können, lässt er offen. In Sirnak, wo viele Dämme gebaut wurden, setze der Staat die Infrastruktur gegen die kurdische Bevölkerung ein.
In den Achtzigern hat das Militär dort ganz Dörfer niedergebrannt und die Bevölkerung in andere Städte umgesiedelt. In den frühen Neunzigern durften viele der ehemals Vertriebenen wieder in ihrer Region siedeln. Die Dämme, ist sich Zeynep sicher, werden vor allem aus Sicherheitsgründen gebaut – sie haben die Funktion, die Nachschubwege der PKK-Guerillas zu kappen, die von den Kandil-Bergen in Richtung Südosttürkei aufbrechen. Doch genauso zerstören die Stauseen die Lebensweisen und die Kultur der Menschen, die vertrieben werden, weil das Wasser ihre Dörfer und Anbauflächen verschluckt.
Newroz
Einen direkten Eindruck davon, inwiefern die staatliche Gewalt im Südosten der Türkei indifferent gegen die gesamte kurdische Bevölkerung gerichtet ist, bekommen wir in Batman. Hier sollte eigentlich traditionell das Frühlingsfest Newroz gefeiert werden, wäre es nicht vom Gouverneur verboten worden. Die Militärpolizei zeigt sich entschlossen, die Anordnung durchzusetzen. Sobald sich mehr als 50 Menschen auf der Straße versammeln, werden sie mit Wasserwerfern, Pfefferspray, Tränengas oder Knüppeln auseinandergetrieben.
Als ein Soldat beginnt, mit scharfer Munition Salven in die Luft zu feuern, flüchtet die Menge, wir fürchten um unser Leben. Wie müssen erst die Menschen fühlen, die hier leben, in deren Heimatstadt sich diese Szenen abspielen? Dabei sind solche Ereignisse verhältnismäßig harmlos und alltäglich, verglichen mit den Kämpfen in Sur, Cizre oder Hakkâri. Immer wieder sollen dort Zivilist*innen erschossen oder in Kellern verschüttet worden sein. Ganze Straßenzüge wurden für die Panzerfahrzeuge des Militärs dem Erdboden gleichgemacht.
Rückreise
Beim Antritt unserer Rückreise sind wir froh, diese Gegend verlassen zu können, und eine große Anspannung fällt von uns ab, als wir in unseren Flieger steigen. Die Maschine hebt ab, klein schrumpfen unter uns die Häuser und Straßen zusammen, die diesmal etwas belebter als bei unsrer Anreise sind. Bei unserem Besuch hatte uns Ayse Gökken, die Frauenkämpferin, gesagt: „Wir sind den Krieg und die Unterdrückung des Staats satt.“ Das wurde auch in vielen
Redebeiträgen beim Newroz-Fest in Diyarbakir betont. Für die Kurd*innen heißt das, zu fliehen oder zu kämpfen – eine andere Wahl sehen hier viele nicht mehr angesichts der permanenten Notwendigkeit, politisch Stellung zu beziehen.