spurensicherung

„An den Kerkertoren hat der Bruderzwist zu schweigen“

Erich Mühsams Aktivität für die Rote Hilfe Deutschlands (RHD)

| Silke Makowski

Anarchistischer Schriftsteller, Bohemien, Räterevolutionär - und Aktivist der Roten Hilfe Deutschlands: Zu den weniger bekannten Aspekten von Erich Mühsams Leben und Wirken gehören sein Engagement in der KPD-nahen Solidaritätsorganisation und sein Einsatz für politische Gefangene. Nachdem er selbst während seiner Haftzeit intensiv von der Roten Hilfe unterstützt worden war, wirkte er über Jahre hinweg als Redner und Autor für diese Sache.

Nach der blutigen Niederschlagung der Rätebewegung durch rechte Freikorps und der Inhaftierung von Zehntausenden linker AktivistInnen waren ab 1919 im gesamten Reichsgebiet lokale Unterstützungsgruppen gegründet worden. Sie organisierten materiellen und politischen Beistand für die politischen Gefangenen und für die oftmals notleidenden Familien, deren Hauptverdiener in den Kämpfen getötet oder zu langer Haft verurteilt worden waren.

Als 1921 nach dem Mitteldeutschen Aufstand erneut eine massive Verfolgungswelle gegen die linke ArbeiterInnenbewegung einsetzte, rief die Kommunistische Partei zur Gründung von Rote-Hilfe-Komitees auf, die 1924 in der Roten Hilfe Deutschlands zusammengefasst wurden.

Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die RHD zu einer der bedeutendsten linken Massenorganisationen und erreichte bis 1932 einen Mitgliederstand von fast einer Million. Obwohl der Zentralvorstand stets von der KPD dominiert war, kam der strömungsübergreifende Anspruch in der alltäglichen Praxis ebenso wie in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft deutlich zum Ausdruck:

Ein Großteil der Roten HelferInnen war parteilos, und die Unterstützungstätigkeit beschränkte sich keineswegs auf linientreue KommunistInnen, sondern bezog Angehörige unterschiedlicher Bewegungen mit ein. So ist es wenig erstaunlich, dass in einer der ersten Kampagnen die Freilassung Erich Mühsams gefordert wurde.

Der anarchistische Dichter hatte sich 1919 in der Münchner Räterepublik engagiert und war nach der brutalen Niederschlagung der Bewegung am 12. Juli 1919 standgerichtlich zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt worden. Im Herbst 1920 wurde er in die berüchtigte Festung Niederschönenfeld verlegt, wo ein besonders schikanöser und gesundheitsgefährdender Strafvollzug herrschte. Durch die katastrophalen Haftbedingungen verschlechterte sich sein Gesundheitszustand ständig, und schließlich verlor er das Hörvermögen auf einem Ohr.

Die jahrelange Haft spiegelt sich in Mühsams literarischem Schaffen dieser Jahre wider. Bereits im Sommer 1919 entstand sein berühmtes Gedicht „Der Gefangene“, dessen Zeile „Sich fügen, heißt lügen!“ zum geflügelten Wort wurde, und zahlreiche weitere Gedichte und Texte kreisen um dieses Thema.

In seiner politischen Alltagspraxis wurden der Kampf gegen das Gefängnisregime und die Organisierung von Solidarität ebenfalls zentral. Zu Beginn seiner Haft erhielt er aus dem anarchistischen Spektrum finanzielle Unterstützung, die er an seine Mitgefangenen verteilte. Dabei kam es kurzzeitig zu Differenzen mit KPD-Anhängern, die ihm unterstellten, Gelder zu veruntreuen und aus seinem Bekanntheitsgrad persönliche Vorteile zu ziehen. Derartigen Vorwürfen stellte sich die frisch gegründete Rote Hilfe entgegen, deren Vorsitzender Wilhelm Pieck, der zugleich KPD-Spitzenpolitiker war, dem Dichter sein Vertrauen aussprach. Zu den Bemühungen der Organisation gehörten breite Öffentlichkeitsarbeit und materielle Unterstützung ebenso wie der Versuch, den Dichter durch einen Gefangenenaustausch mit der Sowjetunion freizubekommen.

In der Haft befasste sich Mühsam mit juristischen Fragen, um für eine Verbesserung der Haftbedingungen zu kämpfen und seine Mitgefangenen bei rechtlichen Schritten zu beraten. 1923 erschien die Broschüre „Das Standrecht in Bayern“, in der er sich kenntnisreich mit dieser Sonderjustiz auseinandersetzte. Nach einer Schilderung der Abläufe der Münchner Räterepublik und der folgenden Repressionswelle gegen die AktivistInnen untersuchte er die Rechtmäßigkeit des angewandten Sonderrechts, insbesondere des Standrechts und des Hochverratsparagrafen, deren Anwendung er als „groteske Verkennung der staatsrechtlichen Lage“ (Erich Mühsam, Das Standrecht in Bayern, Berlin 1923, S. 36) bezeichnete.

Durch gegenseitige Solidarität und in gemeinsamen Einreichungen wehrten sich die Häftlinge gegen die Schikanen, die regelmäßig in den Publikationen der Roten Hilfe thematisiert wurden. Die bedeutendste Kampagne, die auf die kollektive Initiative der Räterevolutionäre zurückging, war die Bekanntmachung des Tods von August Hagemeister und die Forderung, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Hagemeister war am 16. Januar 1923 in Niederschönenfeld an einer Rippenfellentzündung gestorben, nachdem der Anstaltsarzt ihn als „Simulanten“ abgewiesen hatte. In einer gemeinsamen Beschwerde wandten sich die Festungsgefangenen aller politischen Strömungen an den bayerischen Landtag und machten auf diese Weise die mörderischen Zustände publik, wodurch die „Hölle Niederschönenfeld“ reichsweit zum Inbegriff des willkürlichen und schikanösen Strafvollzugs wurde.

Im Jahr 1924 hatte sich der Gesundheitszustand Mühsams so stark verschlechtert, dass sein Leben in Gefahr war, woraufhin die RHD ihre Bemühungen für seine Freilassung intensivierte. Im Juli 1924 sprachen seine Ehefrau Zenzl Mühsam und der Anarchopazifist Ernst Friedrich vor 2000 Menschen, die sich in Berlin unter dem Motto „Rettet Erich Mühsam!“ versammelt hatten. Prominente wie Kurt Tucholsky, Albert Einstein und Else Lasker-Schüler konnten ebenso für Petitionen gewonnen werden wie bekannte SozialdemokratInnen, und die KPD setzte sich unermüdlich für eine Amnestie ein. Daneben beteiligten sich viele anarchistische Strukturen an den Aktionen.

Am 20. Dezember 1924 kam der Anarchist gemeinsam mit mehreren weiteren Räterepublikanern endlich auf Bewährung frei und wurde in München von zahlreichen ArbeiterInnen begeistert in Empfang genommen. Als er am nächsten Tag nach Berlin weiterreiste, begrüßten ihn auch dort 5000 UnterstützerInnen mit der „Internationalen“. In einer Grußbotschaft bedankten sich die frisch Entlassenen bei der Roten Hilfe, doch für Mühsam war es mit diesen herzlichen Worten nicht getan. Vielmehr war es ihm von diesem Zeitpunkt an ein zentrales Anliegen, als Teil der Solidaritätsorganisation für die Freiheit der 7000 noch immer inhaftierten Linken zu kämpfen, wie er in der RHD-Zeitung „Der Rote Helfer“ vom 1. April 1926 erklärte: „Damals habe ich es den Klassengenossen und mir selbst gelobt, (…) meine Arbeit und meine Energie denen zu widmen, die in den deutschen Menschenkäfigen zurückbleiben mußten, denen, die zum Nachfüllen der leer gewordenen Zellen weiterhin die Opfer der politischen Justiz sein würden.“ (1)

Neben seiner ganz persönlichen Erfahrung sah der Dichter im strömungsübergreifenden Ansatz der Roten Hilfe eine Möglichkeit, alle zersplitterten Gruppierungen des „revolutionären Proletariats“ zu vereinen. Für ihn stand dabei das Bemühen im Mittelpunkt, rätekommunistische Kleingruppierungen und Parteien ebenso wie libertäre Kreise für die gemeinsame Solidaritätsarbeit zu gewinnen. Ohnehin hatte er – inspiriert von den Erfahrungen der Münchner Räterepublik – bereits während seiner Haftzeit für ein Zusammengehen kommunistischer und anarchistischer Kräfte plädiert. Seine Vorstellung einer nur von diesen beiden Strömungen getragenen „Einheitsfront“ stand dabei in deutlichem Kontrast zum Versuch der RHD, gezielt in der sozialdemokratischen ArbeiterInnenschaft um Mitglieder zu werben. Die reformistische Politik der SPD war Mühsam schon immer zuwider, und in seinem berühmten Gedicht „Der Revoluzzer“ hatte er die kleinmütigen „Lampenputzer“ geschmäht. Zudem hatte er den mörderischen Repressionsapparat der SPD-Regierung am eigenen Leib erfahren und machte sich über die WählerInnen dieser Partei keine Illusionen.

Weiteres Konfliktpotenzial bestand in der Frage der politischen Gefangenen in der Sowjetunion, deren Situation die Rote Hilfe als KPD-nahe Organisation in realitätsferner Weise beschönigte. Zudem stritt sie ab, dass neben monarchistischen Reaktionären auch linke ArbeiterInnen inhaftiert seien, wohingegen Mühsam auf die Repression nach dem Aufstand in Kronstadt und gegen die Machno-Bewegung aufmerksam machte. Der Schriftsteller ließ jedoch nicht zu, dass sich an dieser Frage ein unüberbrückbarer Konflikt auftat, da in der Antirepressionsarbeit keine Grabenkämpfe geführt werden dürften. So schrieb er 1927 in „Der Rote Helfer“: „An den Kerkertoren, vor den Käfiggittern unserer Gefangenen hat der Bruderzwist zu schweigen, da gilt es den revolutionären Kampf aller, die ihre Genossen unter den Justizopfern wissen, aller, die aller gefallenen Revolutionäre in Dankbarkeit gedenken. Einigung des revolutionären Proletariats zu diesem Kampfe, vorerst nur zu diesem – das bedeutet Rote Hilfe.“ (2)

Folglich erzielte Mühsam mit der RHD die Übereinkunft, dass er seine anarchistische Haltung nicht verleugnen müsse, aber sich nicht im Rahmen der Organisation zu den sowjetischen Gefangenen äußere. Zudem lehnte er eine Beteiligung an internationalen Kampagnen ab, solange die Forderung nach einer russischen Amnestie nicht mit aufgegriffen würde, und beschränkte sich auf die Unterstützung der politischen Gefangenen in Deutschland.

Direkt nach seiner Freilassung trat Mühsam als Redner bei Demonstrationen und Veranstaltungen der Roten Hilfe auf, etwa bei einer Berliner Kundgebung am 4. Januar 1925 unter dem Motto „Heraus mit den politischen Gefangenen! Her mit der Reichsamnestie!“, wo er gemeinsam mit seinem ehemaligen Mitgefangenen Fritz Sauber und dem RHD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck sprach. Mit einem langen Beitrag war er auf der 1. Reichskonferenz der Roten Hilfe im Mai 1925 vertreten, bei der Mühsam den Strafvollzug in Bayern anhand seiner eigenen Erfahrungen schilderte. Dank seiner Bekanntheit waren die Veranstaltungen, bei denen der Anarchist referierte, sehr gut besucht. So sprach er im Frühjahr 1927 auf Einladung eines breiten linken Bündnisses in Stuttgart vor 1000 Menschen zum Thema „Deutsche Justizreaktion“ und erklärte laut Polizeibericht, „die Justiz sei lediglich ein Mittel des Klassenkampfes gegen die Arbeiterklasse und nur dazu da, die Ausbeutungsmethoden der Kapitalisten zu schützen.“ (3)

Folglich rief er im Sinne der Roten Hilfe zu konsequenter Aussageverweigerung gegenüber der Polizei auf, und die örtliche RHD nutzte den Auftritt zur Mitgliederwerbung.

Am bekanntesten ist Mühsams Einsatz für die Freilassung von Max Hoelz, der für seine spektakulären militanten Aktionen während des Mitteldeutschen Aufstands als „deutscher Robin Hood“ gefeiert wurde. Wegen seiner eigenmächtigen Aktionen – so hatte er bereits während der Rätebewegung am Ende des Ersten Weltkriegs von FabrikbesitzerInnen „Revolutionssteuern“ erpresst mit der Drohung, ihre Villen abzubrennen, und das Geld an bedürftige Familien verteilt – war er aus der KPD ausgeschlossen worden. Nach seiner Verhaftung im April 1921 inszenierte das Gericht ein absurdes Verfahren, in dem Hoelz des Mordes an einem Gutsbesitzer beschuldigt wurde, obwohl er nachweislich gar nicht vor Ort war. Die Rote Hilfe stellte ihm ihre besten Anwälte zur Verfügung und begleitete die Justizposse mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit, konnte aber nicht verhindern, dass der populäre Aktivist im Juni 1921 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde. Über sieben Jahre hinweg kämpfte die RHD gemeinsam mit unterschiedlichen politischen Kräften für seine Freilassung und gewann unter dem Motto „Heraus mit Max Hoelz und allen politischen Gefangenen!“ zahllose prominente UnterstützerInnen. Erich Mühsam, der bereits in seinem 1920 in Haft verfassten „Max-Hoelz-Marsch“ seiner enthusiastischen Sympathie für den Revolutionär Ausdruck verliehen hatte, setzte sich stark in der Kampagne ein, die ihm auch zu seinem größten literarischen Erfolg verhalf: Die im Rote-Hilfe-Verlag erschienene Schrift „Gerechtigkeit für Max Hoelz!“ wurde mit einer Auflage von 45.000 Exemplaren nicht nur das meistverkaufte Buch Mühsams, sondern gehörte auch zu den beliebtesten Publikationen der Solidaritätsorganisation. Er erklärte darin: „Wir fordern Generalamnestie, nicht als Akt der Gnade, sondern als Akt der primitivsten Gerechtigkeit! Will die Reichsregierung zeigen, dass ihr die Stimme des beleidigten Volksgewissens noch das geringste gilt, dann schaffe sie als ersten Ausdruck ihrer Abkehr vom Wege der Erbarmungslosigkeit und Klassenwillkür Gerechtigkeit für Max Hoelz!“ (4)

Dass der prominente Häftling 1928 endlich amnestiert wurde, ist auch dem Einsatz Erich Mühsams zu verdanken.

Während seine Aktivitäten für die Rote Hilfe stark rezipiert wurden, liefen die Bemühungen, das anarchistische Spektrum für diese Arbeit zu gewinnen, großteils ins Leere. Mühsams Einsatz für die Solidaritätsorganisation wurde vielfach als bloße Werbung für die KPD geschmäht und als unvereinbar mit anarchistischen Grundsätzen betrachtet. Am 15. Oktober 1925 wurde der Dichter wegen seiner RHD-Mitgliedschaft aus der Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands ausgeschlossen. Auch die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) lehnte eine Zusammenarbeit ab. Als Mühsam kurz nach seiner Freilassung bei einer anarchistischen Veranstaltung in Hamburg für die RHD warb, wurde die Versammlung von wütenden TeilnehmerInnen gesprengt.

Dennoch griffen libertäre Kreise punktuell die Initiative auf, insbesondere die Anarchistische Vereinigung Berlins, in der Mühsam eine zentrale Rolle spielte. In diesem Zusammenschluss war 1926 auch der junge Anarchist und Mühsam-Sekretär Herbert Wehner aktiv, der 1927 zur KPD wechselte und später in der BRD als Sozialdemokrat Karriere machen sollte. Mitte der 1920er Jahre war Wehner jedoch in der Dresdner Ortsgruppe der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) organisiert, die 1926 den Gesamtverband verließ und unter Mühsams Einfluss als „Anarchistische Tatgemeinschaft“ geschlossen der Roten Hilfe beitrat. Da Wehner in der RHD schnell verschiedene Ämter übernahm, musste er die Syndikalistische Arbeiterföderation verlassen, die einen Unvereinbarkeitsbeschluss in ihrer Satzung verankert hatte. Seine intensive Zusammenarbeit mit Mühsam umfasste Aktionen im Rahmen der Kampagne für Max Hoelz ebenso wie die Mitarbeit an der von dem Dichter herausgegebenen Zeitschrift „Fanal“, in der ebenfalls häufig Artikel zu Repression zu finden waren.

Doch auch jenseits von Mühsams engstem Umfeld beteiligten sich anarchistische Gruppen in Form von Petitionen oder durch Teilnahme an Kundgebungen an einzelnen RHD-Kampagnen, etwa bei der Reichsamnestie 1928 oder beim Kampf gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti. Gab es schon an der Basis anarchistische Mitglieder, so war ab Oktober 1929 mit dem Publizisten Karl Schneidt sogar ein Anarchist im Zentralvorstand der Roten Hilfe.

Ein großer Kritikpunkt an der Solidaritätsarbeit der Roten Hilfe blieb für Erich Mühsam die fehlende Thematisierung der politischen Gefangenen in der Sowjetunion. Diesen Mangel ergänzte er, indem er in seiner Zeitschrift „Fanal“ Spendenaufrufe für die inhaftierten russischen AnarchistInnen abdruckte und Artikel dazu verfasste. Unter dem Titel „Amnestie: auch in Russland“ schrieb er 1926: „Das Verlangen des ganzen internationalen Proletariats nach Amnestierung der politischen Gefangenen, die für den Sieg des Sozialismus gekämpft haben, darf nicht vor den Grenzen Russlands verstummen. (…) All unsre Agitation für die Rote Hilfe wird um einen guten Teil des Erfolges gebracht, die gesamte Atmosphäre des gemeinsamen Kampfes der revolutionären Arbeiterschaft wird vergiftet durch die unfassbare Starrköpfigkeit der russischen Regierung, die sich (…) noch nicht ein einziges Mal entschließen konnte, wenigstens diejenigen politischen Gefangenen zu amnestieren, deren Organisationen im Oktober 1917 auf derselben Seite der Barrikade wie die Bolschewiken für den Sieg der roten Fahne ihr Blut verspritzt haben“ (in: Erich Mühsam, Fanal 1.1926/27, Nr. 3, Dez. 1926, S. 43f).

Dass Mühsam diese Forderungen im „Fanal“ äußerte, wurde von der Roten Hilfe toleriert, doch zum Eklat kam es, als er im April 1927 auf einer RHD-Bezirkskonferenz für eine Amnestiekampagne zu Russland durch die Rote Hilfe eintrat. Damit hatte er gegen die Abmachung verstoßen, diesen strittigen Punkt nicht als Repräsentant der Solidaritätsorganisation vorzubringen, und nach dem folgenden heftigen Streit mit Wilhelm Pieck lud ihn die RHD nicht mehr zu öffentlichen Auftritten ein. Anfang 1929 sah sich der Dichter schließlich zum Austritt gezwungen, als die Solidaritätsorganisation eine Werbeaktion für die KPD-Zeitung „Rote Fahne“ startete. In der im „Fanal“ veröffentlichten „Absage an die Rote Hilfe“ bezeichnete Mühsam die Kampagne als „vollkommene Preisgabe der Überparteilichkeit und schwerste Brüskierung aller Mitglieder der Organisation, die etwa einer antiparlamentarischen oder gewerkschaftsfeindlichen, selbst auch nur einer kommunistisch-oppositionellen oder unabhängig-sozialdemokratischen Bewegung angehören“ (in: Erich Mühsam, Fanal 3. 1928/29, Nr. 5, Febr. 1929, S. 120). Die Austrittserklärung stellt zugleich eine Bestandsaufnahme seines Engagements für die RHD und der dadurch entstandenen Konflikte dar. Trotzdem bedeutete dieser Schritt für den Schriftsteller nicht das Ende seines Einsatzes für die politischen Gefangenen oder den Beginn einer offenen Feindschaft mit der Roten Hilfe, und er hielt sich eine punktuelle Zusammenarbeit ausdrücklich offen.

In der zu diesem Zeitpunkt laufenden internationalen Kampagne gegen die Hinrichtung der italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti waren unterschiedlichste politische Kräfte aktiv, darunter selbstverständlich auch die anarchistische Bewegung. Es war von daher naheliegend, dass Mühsam sich eher im Umfeld der anarchosyndikalistischen FAUD, der er sich annäherte, engagierte und bei von ihr organisierten Kundgebungen sprach. Seinen Schwerpunkt legte er jedoch auf literarisches Schaffen: Sowohl das zweiteilige Gedicht „Sacco und Vanzetti“ als auch das dokumentarische Drama „Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti“, das im FAUD-Verlag „Gilde Freiheitlicher Bücherfreunde“ erschien, fanden große Verbreitung. Daneben setzte er sich durch praktische Antirepressionsaktionen für Verfolgte ein, indem er beispielsweise zusammen mit seinem Freund Rudolf Rocker Fluchthilfe für die spanischen Anarchisten Francisco Ascaso und Buenaventura Durruti leistete.

Trotz seines organisatorischen Bruchs mit der Roten Hilfe pflegte er weiterhin Kontakte und trat mehrfach bei ihren Veranstaltungen auf. So referierte er im Dezember 1930 in Berlin zum Strafvollzug im Gefängnis Tegel, das er zuvor mit dem RHD-Vorstandsmitglied Erich Steinfurth besucht hatte. Ebenfalls aktiven Anteil nahm er an der Kampagne zur Freilassung der afroamerikanischen Scottsboro Boys, die in Alabama in einem offen rassistischen Prozess der Vergewaltigung zweier weißer Prostituierter beschuldigt und zum Tode verurteilt worden waren. Bei einer Kundgebung der Roten Hilfe in Berlin trat Mühsam im Sommer 1932 als Redner auf und wurde bei seinem Plädoyer für die Amnestierung der Jugendlichen so emotional, dass die Polizei schließlich die Versammlung mit Gewalt auflöste.

Nach der Machtübertragung an die Nazis gehörte der Anarchist zu den frühsten Opfern und wurde direkt nach dem Reichstagsbrand verhaftet. Erneut setzte sich die inzwischen verbotene Rote Hilfe für seine Freiheit ein und machte international auf seine Situation aufmerksam, wobei seine Frau Zenzl mit eingebunden wurde. Nachdem Erich Mühsam am 9. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet worden war, griff die Solidaritätsorganisation den brutalen Mord mehrfach auf. Im RHD-eigenen Tribunal-Verlag erschien Zenzls Bericht „Erich Mühsams Leidensweg“, in dem sie detailliert die brutalen Misshandlungen durch die Nazis und die mörderischen Zustände in den Lagern schildert.

War Zenzl Mühsam zunächst nach Prag geflohen, folgte sie 1935 einer Einladung der russischen Roten Hilfe in die Sowjetunion, wo sie jedoch wie viele deutsche EmigrantInnen schon bald in den Strudel der stalinistischen Verfolgungen geriet. Nach mehrfachen Inhaftierungen und ständiger Überwachung konnte sie erst 1955 nach Deutschland (in die DDR) zurückkehren.

Erich Mühsams Engagement für die strömungsübergreifende Solidaritätsarbeit prägte mehrere Jahre seines Lebens. Trotz der Konflikte und seines Austritts aus der Roten Hilfe Deutschlands bleibt sein Name mit der linken Gefangenenorganisation verbunden.

(1) zit. nach Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919-1938), Bonn 2003, S. 75

(2) Der Rote Helfer 4/1927, zit. nach Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919-1938), Bonn 2003, S. 75

(3) zit. nach Helge Döhring, "Syndikalist aus Überzeugung", syndikalismusforschung.info/helerich.htm

(4) zit. nach Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919-1938), Bonn 2003, S. 148