wir sind nicht alleine

Grenzpraktiken

Eine Skandalisierung ungarischer und österreichischer Ausgrenzungspolitik

| Anja Svobodovna

Eine syrische Geflüchtete wurde von Grenzpolizei angeschossen, innerhalb des Schengen-Raums, an der slowakisch-ungarischen Grenze. Kaum Aufmerksamkeit. Keine Demonstrationen. Kein Aufschrei. Ein Vorfall von vielen.

Empörung bleibt aus. Es werden keine Konsequenzen gezogen aus den Praktiken an den äußeren europäischen Grenzen, wie dem Erschießen von Geflüchteten an den syrisch-türkischen und bulgarisch-türkischen Grenzen und brutaler Gewalt an diesen und weiteren Grenzen. Die mangelnde Aufmerksamkeit ist im Angesicht zentral- und westeuropäischer rassistischer Ignoranz nicht verwunderlich.

Dass das Schießen auf Geflüchtete an der ungarisch-slowakischen Grenze auch so wenig Reaktionen hervorruft, lässt sich nun wohl nicht mit dem allzu beliebten Argument der geographischen Nähe und ‚europäischen Verbundenheit‘ erklären (siehe Brüssel vs. Aleppo), sondern nur noch durch die Normalisierung von menschenverachtender Politik.

Die Zustände werden normalisiert

Neue Gesetzgebungen, schärfere Rhetorik und das Bekanntwerden von noch schlimmerer Praxis überraschen nicht mehr, sondern beginnen zu lähmen.

Dabei wäre es unsere Aufgabe zu diskutieren und zu skandalisieren, was passiert, weil es nicht nur lange nicht da gewesene Einschnitte in menschenwürdiges Leben sind, sondern weil das Ausbleiben von Skandalisierung und detaillierter Information ein weiterer Schritt auf dem Weg von Vergessen und Ausblenden ist. In diesem Sinne hier ein Überblick über die aktuellen dramatischen Verschlechterungen in Ungarn und Österreich und die sich gegenseitig aufstachelnde Politik der jeweiligen Regierungen.

Österreich: (noch mehr) Krisenrhetorik und Prekarisierung

Beide Länder haben vor kurzem eine Verschärfung ihrer Asylgesetzgebung beschlossen. Am 27. April 2016 hat das österreichische Parlament eine neue Novelle des Asylgesetzes und des Fremdenpolizeigesetzes verabschiedet, die ab 1. Juni 2016 in Kraft treten soll. Die Änderungen greifen dabei auf unterschiedlichen Ebenen (1):

Die Möglichkeit der Ausrufung eines Notstandes, sofern die ‚öffentliche Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit‘ gefährdet seien, wird eröffnet. Sie setzt de facto das Recht auf einen Asylantrag außer Kraft.

Sich in die unzähligen Formen von Krisenrhetorik, welche in den letzten Monaten die Basis für ungeahnte Schritte legten, einreihend, ist die Möglichkeit einer solchen Ausrufung des Notstands eine Änderung ungeahnten Ausmaßes. Sie bedeutet, dass Menschen bei Inkrafttreten zurückgeschoben bzw. an der Grenze zurückgewiesen werden können, ohne die Chance zu haben, ihren Antrag auf Asyl zu stellen. Gleichzeitig wird die Beschwerde gegen diese Zurückweisung an den Außengrenzen enorm erschwert.

Der Flüchtlingsstatus (Asyl) wird auf drei Jahre begrenzt, sogenannte Aberkennungstatbestände werden eingeführt, die, basierend auf einer proklamierten Verbesserung der Situation im Herkunftsland, den Schutz in Österreich beenden. Dies führt zwangsläufig zu einer langfristig extrem prekären Situation für Geflüchtete und es wird zusätzlich auch zu noch längeren, noch zermürbenderen Verfahren führen.

Aberkennungsverfahren (Verlust des Schutzstatus und potentielle Abschiebung) können, basierend auf Berichten der Staatendokumentation des österreichischen Innenministeriums (oft sehr einseitige Selektion und Sammlung von Informationen zu Herkunftsländern von Geflüchteten), automatisch eingeleitet werden.

Die Familienzusammenführung wird erschwert: Die Antragstellung auf Familienzusammenführung für Asylberechtige muss innerhalb von drei Monaten und durch die Familienangehörigen im Ausland erfolgen, was praktisch oft logistisch und sicherheitstechnisch unmöglich ist. Falls diese Frist versäumt wird, wird Familienzusammenführung nur bei Nachweis von ‚ausreichenden‘ (= absurd hoher) Einkünften möglich. Für subsidiär Schutzberechtigte, bei denen der Status jährlich bzw. alle zwei Jahre geprüft wird, wird Familienzusammenführung erst nach drei Jahren ermöglicht. Bei solchen Fristen und den derzeitigen Wartezeiten bedeutet das, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete kaum Chancen auf Familienzusammenführung haben, wenn sie älter als 14 (!) Jahre sind, da mit der Volljährigkeit die Möglichkeit, Eltern nachzuholen, komplett wegfällt.

Die Verlängerung der Entscheidungsfrist des Bundesasylamtes auf 15 (bzw. in manchen Fällen sogar 18) Monate.

Ungarn: Haft und Obdachlosigkeit

Das ungarische Parlament hat am 10. Mai 2016 ebenfalls einer Novelle zugestimmt, nach welcher das Asylgesetz verschärft wird. Nachdem Grenzbestimmungen, inklusive der neuen enormen Strafmaße bei Grenzzaunüberwindung und -beschädigung, im September 2015 erneuert wurden, finden sich die neuen Bestimmungen hauptsächlich im Bereich des Asylrechts und von Sozialleistungen. Wesentlich sind die folgenden gravierenden Änderungen (2):

Menschen, die basierend auf dem Dublin-Abkommen nach Ungarn zurückgeschoben werden, können ohne weitere Prüfung – und unter horrenden Bedingungen – inhaftiert werden.

Der Status von Geflüchteten, denen nach der bisherigen Gesetzgebung ein fünfjähriger Aufenthalt zugesichert wäre, wird bereits nach drei Jahren erneut geprüft. Solche ‚Prüfungen‘, die zur Aberkennung des Schutzes führen können, können ebenfalls auf außerordentliche Anfrage durchgeführt werden. Sie sind somit ein Druckmittel, das jegliche Sicherheit und Planung für Geflüchtete verunmöglicht.

Im neuen Gesetz ist vermerkt, dass diese Prüfung auch dazu dienen soll, die Integration von Personen zu prüfen – was diese Klausel umso willkürlicher und flexibler für rassistische Vorstellungen von Normen und Kultur macht. Zusätzlich soll Geflüchteten mit Status kein Reisedokument mehr ausgestellt werden, was das legale Reisen verunmöglicht.

Die sogenannte Integrationsunterstützung wird mit dem Argument, dass eine solche eine Bevorteilung von Geflüchteten über Ungar*innen wäre, komplett gestrichen. Das bedeutet: keine finanzielle Unterstützung in Form von ‚Taschengeld‘ während des Asylverfahrens mehr, keine Möglichkeit für Geflüchtete, während ihrer Zeit in Camps zu arbeiten, Kürzung der Zeit mit Anspruch gratis Sozialversicherung auf sechs Monate nach Erhalt des Status, Verlust des Anspruchs auf ein Bett in einem Camp nach Erhalt eines Status auf einen Monat und Streichen jeder (!) finanziellen Unterstützung nach der Zuerkennung eines Status.

Geflüchtete werden nach Zuerkennung von Asyl oder subsidiärem Schutz innerhalb von einem Monat gesetzlich obdachlos, verlieren ihre Sozialversicherung nach einem halben Jahr und bekommen kein Geld. Das alles bei fehlender Unterstützung für die Wohnungs- und Arbeitssuche und ohne gratis Sprachkurse. Das bedeutet de facto, dass Menschen ohne massives soziales Netzwerk keine andere Chance haben, als das Land zu verlassen. Wohlmerklich illegalisiert, da keine Reisedokumente mehr ausgestellt werden.

Diese Änderungen in ungarischen und österreichischen Gesetzen zeigen exemplarisch, in welche Richtung das europäische Grenz- und Asylregime geht: in Richtung Restriktionen und Illegalisierung, die Menschen dazu zwingt, noch gefährlichere Fluchtwege zu nehmen, um Hunger und Krieg zu entkommen oder sie inhaftiert und/oder in jahrelangem Vakuum hängen lässt, um danach eventuell doch abzuschieben.

Die offiziellen Änderungen sind schon brutal genug. Die tatsächlichen Praktiken übertreffen diese noch um einiges.

Inoffizielle Praktiken

Einige der Änderungen legalisieren teilweise, was schon seit Jahren Praxis ist. Ein Beispiel: Die Entscheidungsfrist der österreichischen Asylbehörden war schon vor der Gesetzesänderung um ein vielfaches länger als sechs Monate. Die Möglichkeit einer Säumnisbeschwerde, um ein schnelleres Ergebnis zu bekommen, war zwar rechtlich möglich, praktisch aber extrem gefährlich, da eine Möglichkeit der Beschwerde wegfällt und die Wahrscheinlichkeit einer Abweisung und Abschiebung somit viel höher ist, was de facto die Forderung der Einhaltung der Frist verunmöglichte.

Andere Praktiken sind weit davon entfernt offiziell zugegeben zu werden. Neben beispielsweise Richtungsweisungen bezüglich Anerkennungsquoten gehören auch Grenzpraktiken und psychische und physische Gewalt in (Untersuchungs-)Haft und bei Abschiebungen/Abschiebungsversuchen, die von Geflüchteten häufig beschrieben wird, zur Tagesordnung. An der ungarisch-serbischen Grenze werden Menschen unversorgt vor dem Zaun, aber bereits auf ungarischem Boden, festgehalten und warten tage- und wochenlang auf Einlass und Asylverfahren. Andere Geflüchtete berichten aus diesen sogenannten Transitzonen nach Serbien zurückgedrängt und/oder brutal von ungarischen Autoritäten geschlagen worden zu sein. Menschen werden auch bei dem Versuch, die Grenze von Österreich nach Ungarn zu überqueren, von österreichischen Grenzpolizist*innen wieder zurück nach Ungarn gebracht, ohne dass ihr Asylantrag angenommen wird, was gesetzlich unmöglich sein sollte. Solch eine Praxis ist im Grunde auf dem Level eines bereits verkündeten Notstands bei gleichzeitiger Verweigerung jeglicher Einspruchsmöglichkeit.

Sie ist somit sogar nach der neu beschlossenen österreichischen Novelle nicht gesetzeskonform. Obwohl die inoffiziellen Grenzpraktiken die offizielle Gesetzgebung noch weiter übertreffen, spielen die beiden Ebenen einander ausgezeichnet zu.

Zwischen den Fronten

Nachdem die sogenannte Balkanroute mit den sukzessiven Grenzschließungen – eingeleitet durch die österreichische Regierung – und schließlich den EU-Türkei-Deal als geschlossen gehandelt wurde, steigt die Anzahl der Menschen an, die trotz des ungarisch-serbischen Grenzzauns ihre Route wieder über Ungarn wählen. Die ungarische Asylpolitik macht die Entscheidung, dort um internationalen Schutz anzusuchen, beinahe unmöglich. Die österreichische Grenzpolitik tut ihr Möglichstes, um Menschen die Einreise schwierig und gefährlich zu machen.

Solche Politiken sind drastisch, und dürfen nicht ignoriert oder als ‚noch eine Novelle‘ bagatellisiert werden. Wir sollten sie lautstark skandalisieren. Es sind solch ‚kleine‘ Novellen, die schnell in den Tiefen von Newsfeeds und aus Zeitungen verschwinden, die allerdings die materielle Basis für das erschwerte (Über)Leben von Tausenden bilden. Es sind solche Politiken der Grenzen, der Abschottung und – wortwörtlich – Aushungerung, die Menschen dazu zwingen, auch innerhalb Europas Fluchtwege zu wählen, die tödlich enden können. Oder in dem konkreten Fall mit Schusswunde im Krankenhaus, im Erwarten von monatelanger Haft in einem ‚fremdenpolizeilichen Gefängnis‘. Und eingebettet in rassistische, nationalistische Rhetorik ist es nicht einmal ‚Schießen‘, sondern ‚Verteidigung der Normalität der jeweiligen Nation‘.

(1) Viele Organisationen haben juristische Stellungnahmen zu den Änderungen abgegeben. Besonders gut finde ich die der Diakonie Österreich, die die Änderungen erklärt und kritisiert. Siehe: https://fluechtlingsdienst.diakonie.at/sites/default/files/press/download/stellungnahme_diakonie_notstand.pdf

(2) Regelmäßige Updates zur politischen Situation in Ungarn gibt es im Blog der Migrant Solidarity Group Hungary (www.migzsol.com), dort u.a. eine Stellungnahme zur ersten Fassung der Gesetzesnovelle: www.migszol.com/blog/draft-amendments-to-asylum-law-in-hungary-will-drive-refugees-to-western-europe ; Ausgezeichnete Infos zur legalen Situation in Ungarn sind in den Materialien des Hungarian Helskinki Committee zu finden: www.helsinki.hu