wir sind nicht alleine

Die Illusion des „Volkskapitalismus“

Autoritärer Neoliberalismus und soziale Proteste in Russland

| Vadim Damier

Manche der liberalen Oppositionellen und RegimekritikerInnen in Russland behaupten gerne, dass der russische Präsident Wladimir Putin das alte sowjetische System wiederherstellt. Man muss kein Anhänger des alten sowjetischen paternalistischen und protektionistischen Staatskapitalismus sein, um zu verstehen, dass diese Meinungen nicht der Realität entsprechen. Das, was in Russland passiert, kann man treffend eher als einen autoritären Neoliberalismus definieren.

Der Sozialabbau im modernen Russland ist nicht neu. Diese Politik wurde durch die Herrschenden praktisch die ganze Zeit seit der Wende 1991 konstant durchgeführt. Und das den Bestimmungen der Verfassung zum Trotz, die die Russische Föderation als einen Sozialstaat definieren. Das Tempo des Abbaus variierte aber im Laufe dieser Jahre.

Neoliberale Reformpolitik in Russland

Die neoliberalen Reformen begannen mit der Abschaffung der Preissubventionen am Anfang der 1990er Jahre und mit den massenhaften Privatisierungen in der Wirtschaft. Die unentgeltlichen sozialen Leistungen in der Medizin oder Bildung wurden aber nicht abgeschafft, sondern systematisch durch eine Unterfinanzierung unterminiert.

Gleichzeitig erfolgte eine Liberalisierung dieser Dienstleistungen. Die Entwicklung der privaten und kommerziellen Einrichtungen im Gesundheitswesen, in der Bildung usw. wurde gefördert. Kennzeichnend dabei ist, dass diese Politik vor dem Hintergrund der sehr niedrigen Löhne und Renten stattfand. Doch die politische Instabilität der 1990er Jahre hinderte die Herrschenden daran, den Sozialabbau zu intensivieren.

Dies änderte sich seit dem Beginn der 2000er Jahren, in der Putin-Zeit. Das damalige Ansteigen der Erdölpreise erlaubte es, die ökonomische und damit auch die politische Situation für eine gewisse Zeit weitgehend zu stabilisieren. Das führte aber nicht etwa zu einer Erweiterung der sozialen Leistungen, sondern umgekehrt zu einer Verschärfung der neoliberalen Politik und des Sozialabbaus.

Einer der ersten Schritte im Rahmen dieser neuen Etappe war die Abschaffung der progressiven Einkommenssteuer im Jahr 2001. Seitdem müssen alle – vom Multi-Milliardär bis zum Billiglohnarbeiter – nur 13% von ihrem Einkommen als Steuer bezahlen. 2002 wurde das neue Arbeitsgesetzbuch eingeführt, das die Rechte der ArbeiterInnen drastisch beschnitt, die Möglichkeiten der Arbeitszeitverlängerung, der Kündigungen und der Strafen weitgehend liberalisierte sowie die Streikrechte begrenzte.

2005 folgte dann die „Monetisierung“ der Sozialleistungen für ältere Leute, Studierende usw. Das bedeutete die Abschaffung ihrer früheren Rechte, z.B. für die unentgeltliche Fahrt im Stadtverkehr, für preisgünstige Arzneimittel usw. Stattdessen bekamen sie gewisse Geldzuschüsse, die aber insgesamt viel niedriger waren, als die realen Preise für diese Dienstleistungen.

Seit 2005/2007 läuft die sogenannte Reform der Wohnungs- und Kommunalsphäre. Diese beinhaltet die Privatisierung der kommunalen Leistungen, der Strom-, Gas- und Wasserversorgung, die jetzt auf Grund der Markttarife erfolgen muss.

2010 wurde das Gesetz über die staatlichen und kommunalen Einrichtungen eingeführt, das von den Einrichtungen in der sozialen Sphäre (in der Bildung, Kinderbetreuung, Medizin usw.) forderte, das Geld zu verdienen und miteinander um die Staatsfinanzierung zu konkurrieren.

Der Staat deckt nur ein festgelegtes Minimum der Kosten. In der Hochschulbildung läuft eine konstante Verringerung der Zahl der unentgeltlichen bei einer gleichzeitigen Erweiterung der von den Studierenden bezahlten Studienplätze.

In den letzten fünf Jahren wurde die Sparpolitik in der sozialen Sphäre total vorherrschend. Es ist zu bemerken, dass dieser Kurs nicht mit der Wirtschaftskrise 2014/2015 verbunden ist, sondern schon früher begonnen wurde. Bereits im Haushalt für das Jahr 2013 waren die Kürzungen im Gesundheitswesen um 8% und in der Bildung um 3% vorgesehen. In den nächsten Jahren ging das weiter. Man behauptete, diese Ausgaben auf Kosten der regionalen und lokalen Haushalte kompensieren zu wollen, in diesen gibt es aber kaum Geld dafür.

Seit 2013 müssen die Eltern bis zu 100% der Kosten der Betreuung in den Kindergärten bezahlen; in mehreren Einrichtungen der Kinderbetreuung kürzt man mehrere Programme. In der Hochschulbildung muss in den nächsten Jahren die Zahl der freien Bildungsplätze von 170 je 10.000 EinwohnerInnen bis 132 reduziert werden. Die Krankenhäuser und Polikliniken müssen seit 2013 auch Geld verdienen; nur ein begrenztes Minimum der Prozeduren bleibt unentgeltlich für die PatientInnen.

Das ist noch nicht alles. Schon seit einigen Jahren wird eine Politik der sogenannten „Optisierung“ in der Bildung und im Gesundheitswesen durchgeführt. Die Behörden versuchen, mittels einer Amalgamierung der Einrichtungen zu sparen. Dabei schließen sie Hunderte von Schulen, Polikliniken, Krankenhäusern und sogar Hochschulen, die sie für „nicht effektiv genug“ halten. Der Ausmaß dieser Sparpolitik ist atemberaubend.

Allein im Jahr 2013 wurden in Russland 88 Polikliniken und 302 Krankenhäuser geschlossen, 2014 wurden mehr als 50.000 Krankenplätze in den Krankenhäusern gestrichen. Im Laufe von fünf Jahren wurden mehr als 12.000 Schulen geschlossen. Das heißt, dass nicht nur zigtausende medizinische ArbeiterInnen, LehrerInnen und ProfessorInnen arbeitslos wurden, sondern auch, dass ganze Bezirke aus den zugänglichen sozialen Dienstleistungen ausgeschlossen wurden. Es gab sogar schon Todesfälle, weil die Kranken nicht mehr rechtzeitig in die Krankenhäuser gebracht werden konnten. In den Großstädten kommt es dabei nicht selten dazu, dass die Gelände der geschlossenen Einrichtungen an Baufirmen verkauft werden, für kommerzielle Bauten. In den verbliebenen Einrichtungen wird die Zahl der ArbeiterInnen weiter gekürzt, was ihre Arbeitsbelastung stark erhöht.

Die Wirtschaftskrise, die durch den drastischen Rückgang der Erdölpreise hervorgerufen wurde, vergrößerte den Appetit der herrschenden „Optimierer“.

Immer wieder diskutiert man die Möglichkeit einer Rentenreform mit einer Steigerung des Rentenalters. Trotz Inflation und Preiswachstum wurden die Löhne und die Preise in der Wirklichkeit eingefroren. Man redet über weitere Kürzungen der Kindergelder, der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall usw. Dort, wo die Vergünstigungen für verschiedene sozial schwächere Schichten existieren, werden sie weggenommen. So müssen seit dem 1. August 2015 zum Beispiel etwa 1,2 Millionen RentnerInnen aus dem Moskauer Gebiet, die nach 2005 noch das Recht für die freie Fahrt im öffentlichen Verkehr der Stadt Moskau behielten, ihre Fahrt bezahlen – und das obwohl mehrere von ihnen nur Renten von 7.000 bis 10.000 Rubeln (ca. 112 bis 160 Euro) bekommen.

Was dabei ganz typisch ist:

Die Last der Krisenanpassung soll völlig auf den Schultern der Armen liegen. Die Vorschläge, die progressive Einkommenssteuer wieder einzuführen, wurden durch das russische Parlament prompt und eindeutig als eine „Diskriminierung“ abgelehnt.

Die Illusion einer „Gesellschaft der Eigentümer“

Besonders schwere Schläge gegen die ärmeren Leute bedeuten die neuen wohnungspolitischen Maßnahmen der Behörden. Hier ist es sinnvoll, einige spezifische Dinge zu erklären, um den gesamten Kontext verständlich zu machen. Am Anfang der 1990er Jahre förderten die Behörden die unentgeltliche Privatisierung der Wohnungen in den Städten durch die MieterInnen. Die Herrschenden wollten dabei einerseits sich von der Last des Pflegens und der Reparatur befreien und anderseits eine Illusion der „Gesellschaft der Eigentümer“, des „Volkskapitalismus“ schüren. So steht die Mehrheit der Wohnungen in den Städten in Russland im Eigentum der EinwohnerInnen selbst. Jetzt wird die Kehrseite dieser Reform für die Leute bemerkbar. 2015 wurde ein System eingeführt, nachdem die EigentümerInnen der Wohnungen (das heißt, die große Mehrheit der Bevölkerung) auch die Reparatur der Häuser bezahlen müssen. Bisher war es so, dass sie nur die Renovierung der Wohnungen selbst bezahlten, die Generalreparatur der Häuser wurde durch die Stadt übernommen. Das neue Gesetz führte nun eine Art Renovierungssteuer ein. Jede Wohnung muss jetzt eine Menge Geld in einen Renovierungsfonds einzahlen. In der Stadt Moskau betrifft diese Summe 15 Rubel pro Quadratmeter der Wohnung pro Monat. Was noch schlimmer ist: es sind nicht die EinwohnerInnen selbst, die den Termin solcher Renovierungen bestimmen, sondern die Behörden. Es ist so, dass wir schon jetzt das Geld bezahlen müssen, aber die Renovierung unseres Hauses z.B. erst im Jahr 2030 bevorsteht.

Immobiliensteuer

Eine weitere schwere Last ist die neue Immobiliensteuer, die ab 2016 eingeführt wurde. Es ist ein Schlag gegen die Mehrheit der Bevölkerung, die ihre Wohnungen privatisiert hat. Früher war diese Steuer eher symbolisch, diesmal wird sie real. Seine Höhe werden die Behörden aufgrund des Katasterwerts der Immobilie bestimmen. Das heißt, dass sogar die armen Leute für ihre Wohnung bis zu 20.000 Rubel jährlich zahlen, wenn diese Wohnung sich in den Zentralbezirken Moskaus befindet.

Wenn wir diese und andere Maßnahmen sowie Pläne der Herrschenden zusammenfassen, dann können wir leicht feststellen, dass sie alle einen konstanten und unermüdlichen Angriff auf die soziale und materielle Lage der einfachen Leute darstellen. Was noch wichtiger ist: das passiert vor dem Hintergrund der extra-niedrigen Löhne und Renten in Russland. Die offizielle Statistik definierte 2016 den Durchschnittslohn in der Höhe von etwa 33.000 Rubel (ca. 525 Euro).

Das ist allerdings ein Trick, weil dabei in der Wirklichkeit nicht der Durchschnittslohn, sondern der durchschnittliche Lohnsatz gemeint wird, ohne zu berücksichtigen, welche Zahl der Leute diesen Lohn real bekommt. Die Realität sieht ziemlich anders aus. Der offizielle Mindestlohn ist etwa 6.000 Rubel (ca. 96 Euro) hoch, eine garantierte Mindestrente gibt es nicht. 19% der Bevölkerung haben ein Einkommen von weniger als 7000 Rubel pro Monat und 35% zwischen 7.000 und 15.000 Rubel.

Da entsteht natürlich logischerweise eine Frage: warum bleibt in einer solchen Situation das Niveau des sozialen Protests recht niedrig? Die Antwort liegt in den Besonderheiten der sozialen Beziehungen und der sozialen Psyche in Russland. Um mit den sozialwissenschaftlichen Begriffen zu sprechen, können wir die Lage als eine tiefe soziale Atomisierung der russischen Gesellschaft bezeichnen. Im Ausland gibt es eine Vorstellung über die russische Bevölkerung als etwas kollektivistisches und traditionell-gemeinschaftliches. Das konnte wahrscheinlich vor etwa 100 Jahren noch irgendwie stimmen, als die Mehrheit der Leute noch in den Bauerngemeinden lebte. Heute ist das ein Mythos. Die russische Gesellschaft erlebte im 20. Jahrhundert mindestens zwei Atomisierungswellen. In der Zeit des Stalinismus forcierten Zwangsmodernisierung wurde die Bauerngemeinde zerstört und die Beziehungen zwischen den Menschen durch den totalitären Staat vermittelt. Was noch von dem kleinstädtischen oder nachbarschaftlichen Zusammenleben übrig blieb, verschwamm immer mehr mit der schnellen Urbanisierung und Anonymität der Fabrikgesellschaft.

Dann folgte eine zweite Atomisierungswelle, und zwar nach der Wende Anfang der 1990er Jahren. In der Situation der schwersten sozialen und Wirtschaftskrise kämpften die Leute vorzugsweise individuell und strikt egoistisch ums Überleben. Nach der tiefen Frustration durch die Folgen von Perestroika und der Einführung der Marktwirtschaft, hatten sie noch weniger Vertrauen in ihre kollektive Kraft und in die Möglichkeiten, etwas zu verändern, als in die Politik der Herrschenden. Ihre Strategien des Auswegs aus der Krise wurden vor allem personell. Dieser Zustand herrscht seit den 1990er Jahren bis heute vor.

Protest

Das heißt aber nicht, dass es seitdem überhaupt keine Protestbewegungen oder Protestaktivitäten gab und gibt. Auch in den letzten Dutzend Jahren haben wir z.B. auch hier in Moskau nicht wenige gesehen. Nur blieben und bleiben sie hauptsächlich lokal, vereinzelt und wenig koordiniert. Einige von ihnen verdienen eine kurze Übersicht.

So entstand 2005, als die von mir schon erwähnte Monetisierung der sozialen Leistungen und Vergünstigungen durchgeführt wurde, eine spontane Protestbewegung. Daran nahmen vor allem ältere Leute und RentnerInnen teil. Sie gingen auf die Straßen und forderten, dieses Gesetz zurückzunehmen. Tausende Leute demonstrierten und blockierten den Verkehr in vielen Städten Russlands. Es gab Zusammenstöße mit der Polizei und Verhaftungen. Die Behörden wurden durch das Maß und die Spontaneität der Proteste überrascht und machten Zugeständnisse, indem man versuchte die Protestierenden zu spalten. So wurde in einigen Städten und Regionen, wo die Proteste am hartnäckigsten waren, die unentgeltliche Fahrt für die RentnerInnen im öffentlichen Verkehr erhalten. Diese Zugeständnisse wurden dann aber später Schritt für Schritt zurückgenommen, und zwar nicht einmal, sondern zu unterschiedlichen Zeiten in den verschiedenen Regionen. So verloren z.B. die RentnerInnen im Moskauer Umland ihre Rechte für die unentgeltliche Benutzung des Moskauer Verkehrs in diesem Jahr. Die RentnerInnen in der Stadt Moskau selbst genießen noch diese Möglichkeit – niemand riskiert aber zu sagen, wie lange noch.

Die zweite interessante Protestbewegung in Moskau in den letzten zehn Jahren war der Widerstand gegen die so genannte „Punkt-Bebauung“. Anfang der 2000er Jahre herrschte in Moskau ein richtiger spekulativer Bau-Boom. Da das Land in der Stadt sehr teuer war (und ist), errichteten die Baufirmen neue kommerzielle Wohnungshäuser, Handels- oder Business-Zentren in der gefährlichen Nähe zu den bereits existierenden Häusern oder an der Stelle der Parks, Kindergärten usw. Dann wurden die Wohnungen an die Reichen verkauft. Manchmal war es sogar so, dass riesige Neubauten, wenige Meter von den existierenden Häusern entfernt, diesen letzten das Sonnenlicht nahmen. Oder es entstanden große Risse an den Hausfundamenten. So entwickelte sich 2007 – 2008 eine Protestbewegung, deren TeilnehmerInnen versuchten, diese Bauprojekte zu verhindern. Die Initiativen der Betroffenen entstanden in mehreren bedrohten Stadtvierteln. Zuerst waren sie vereinzelt, später begannen sie aber ihre Aktivitäten miteinander zu koordinieren. Ein Koordinierungsrat wurde gebildet. Die Protestierenden organisierten Demonstrationen und Mahnwachen, blockierten Straßen und Baustellen, verhinderten die Bauarbeiten, vernichteten die Umzäunung der Baustellen usw. Die Konfrontation war sehr scharf. Es gab Angriffe nicht nur seitens der Polizei, sondern auch der Mafias der Baufirmen. Dutzende Leute wurden festgenommen oder verletzt; die Wache an den Baustellen schoss sogar einige Male auf die Demonstranten. Es soll hinzugefügt werden, dass solche Probleme und auch solche Proteste nicht nur in Moskau existierten, obwohl es keine überregionale Koordinierung der Bewegung gab. Die Proteste hatten einen Teilerfolg. Einige Projekte wurden verhindert. Eine positive Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch die Wirtschaftskrise von 2008, die auch den Bau-Boom verlangsamte.

Die politischen Proteste von 2010 und 2011 stellten eine Zäsur in den sozialen Protesten dar. Die sogenannte Kampagne „Für freie Wahlen“ wurde von den oppositionellen PolitikerInnen und Leuten aus den so genannten „aufsteigenden Mittelklassen“, den Menschen „ohne materielle Probleme“ (wie man damals sagte) organisiert. Es gab dabei keine sozialen Forderungen oder Themen. Das hilft zu verstehen, warum diese Proteste kaum Unterstützung außerhalb von Moskau, Petersburg und ein paar Großstädten fanden: solche rein politische Spiele und Machtkämpfe waren den Menschen in den Regionen gleichgültig, da ihre realen tagtäglichen Probleme und Bedürfnisse dadurch unberührt blieben. Anderseits lenkte diese politische Kampagne die Aufmerksamkeit der kritisch gesinnten Leute in Moskau ab: mehrere AktivistInnen stellten damals die recht dringlichen sozialen Fragen beiseite und inkorporierten sich in die fruchtlosen politischen Spiele.

Erst nach einer Niederlage der politischen Protestwelle kehrten die Leute allmählich zu den sozialen Themen zurück. Die wichtigste Frage ist heute der Widerstand gegen die Sparpolitik der Behörden und gegen die neoliberalen Reformen im Gesundheitswesen und in der Bildung. Seit 2012 gibt es immer wieder Protestaktionen gegen die Schließung der konkreten Krankenhäuser sowie gegen die generelle Politik in der Medizin. Die sind von den gesellschaftlichen Initiativgruppen, von den alternativen Gewerkschaften der MedizinerInnen sowie von den Patientengruppen organisiert. Die prinzipiellen Protestformen sind Pickets vor den Einrichtungen und Ämter, Straßenkundgebungen und Demonstrationen, obwohl es in einigen Städten auch kleinere Streiks der medizinischen ArbeiterInnen gab. Auch die Protestaktionen der BildungsarbeiterInnen sind zu erwähnen.

Leider war dieser Widerstand gegen die „Optimierung“ bisher wenig erfolgreich. Der Hauptgrund liegt in der schon erwähnten generellen Passivität der Bevölkerung. Nur so kann man erklären, warum die Themen der Zerstörung der allgemein-zugänglichen sozialen Dienste wie Gesundheitswesen und Bildung bestenfalls einige Tausend Leute auf die Straße bringen, obwohl sie fast jeden Menschen auf die eine oder andere Weise berühren. Die Leute bevorzugen es, einfach zu murren, zum aktiven Protest sind sie mehrheitlich noch nicht bereit.

Eine weitere Tendenz bilden die Proteste für die Verteidigung der Commons. Ein Teil von ihnen bleibt der Widerstand gegen den kommerziellen Bau. So gibt es z.B. einen Konflikt im Lewobereshnij Bezirk im Norden Moskaus, wo die lokale Bevölkerung ab dem 18. August 2015 die Bauarbeiten im Park blockierte. Dort sollen kommerzielle Sportgelände und administrative Gebäude gebaut werden. Die Konfrontation ist inzwischen ziemlich hartnäckig. Die Polizei griff schon einige Male die protestierenden Leute im Park an, nahm zeitweilig Leute fest und löste das kleine Protestcamp auf.

In einem Park um den ehemaligen Landsbesitz Kuskowo (heute ist es ein Museum) bei Moskau gibt es eine Widerstandsbewegung gegen den Bau einer neuen Chaussee. Die Fahrt dort soll eigentlich gebührenpflichtig sein. Der Kulturminister erlaubte persönlich Hunderte von hundertjährigen Bäumen dort zu schneiden, wodurch ein Teil dieses Parks vernichtet wurde. Die Polizei greift immer wieder die AktivistInnen an, die die Bauarbeiten blockieren. Es gibt Verhaftungen und Gerichtsurteile.

Ein weiteres Thema ist der Widerstand gegen den breiten Bau der Kirchen in Parks und auf anderen gemeinnützigen Geländen. Die Behörden betreiben die Politik der schleichenden Klerikalisierung der Gesellschaft, und in diesem Rahmen gibt es einen Plan, etwa 200 neue Kirchen in der Nähe von Wohngebieten zu bauen. Nicht selten trifft das auf den harten Widerstand der lokalen Bevölkerung, die ihre Parks, die Kinderspielplätze usw. verteidigt. In einigen Fällen war dieser Widerstand schon erfolgreich. Gerade jetzt gibt es in Moskau einen Konflikt, der eine richtige Probe darstellt. Im Norden Moskaus kämpft die lokale Bevölkerung gegen den Bau einer Kirche, also gegen einen Projekt, das in Wirklichkeit den ganzen kleinen Park „Torfjanka“ zerstören wird. Der Klerus hat dabei nicht nur die völlige Unterstützung seitens der Behörden, sondern benutzt aktiv auch die Kräfte von Mafias und Rechtsradikalen. Die EinwohnerInnen organisierten Protestposten im Park und verhinderten die Bauarbeiten. Sie wurden mehrmals von Rechtsradikalen und auch von der Polizei angegriffen. Die Moskauer Behörden verabschiedeten sogar eine Regel, die verbietet, Camps und Zelte in den Parks aufzustellen. Die Polizisten räumten schon einige Male diese Zelte oder auch Sonnendächer. Die Protestierenden geben aber nicht auf. Der Konflikt geht weiter. Die Kirche bekam eine neue Stelle für den Bau, will aber das Stück Platz im Park nicht verlassen. Dort stehen das hölzerne Kreuz und der Zaun weiter, und die Kirchenleute organisieren dort jeden Sonntag ihre Gottesdienste. Die Proteste der Bevölkerung wurden unterdrückt und die AktivistInnen dem systematischen Terror der Polizei und Verhaftungen ausgesetzt.

Inzwischen haben solche lokale Initiativen in Moskau einen Koordinierungsausschuss gebildet.

Ende 2015/Anfang 2016 gab es eine ganz neue Erscheinung: eine Bewegung der LKW-Fahrer, der Trucker. Der Protest war gegen die Einführung einer LKW-Maut gerichtet. Die protestierenden Fahrer versuchten in einigen Orten Wege und Chaussees zu blockieren. Sie organisierten ein Protestcamp bei Moskau und drohten sogar mit Streik. Die Bewegung wurde aber unterdrückt – teilweise mittels der direkten Repressionen oder auch mithilfe von Drohungen. Der Widerstand wurde dadurch erschwert, dass nur eine Minderheit der LKW-Fahrer ihn unterstützte.

Was die Proteste der LohnarbeiterInnen anbetrifft, so sind sie gerade besonders in der Zeit der aktuellen Wirtschaftskrise vor allem gegen die Nichtauszahlung der Löhne gerichtet. Es gab in den letzten Jahren gerade mehrere Konflikte solcher Art. Trotzdem bleibt Russland von einer sozialen Explosion noch weit entfernt. 2017 ist (noch?) kein 1917.

Vadim Damier

Dr. hist. habil. Vadim Damier (* 1958) ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied der Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik innerhalb der Konföderation Revolutionärer Anarchosyndikalisten (KRAS). Zwei lange Interviews mit ihm finden sich in den von Bernd Drücke herausgegebenen Büchern "Anarchismus Hoch 2" (Karin Kramer Verlag, Berlin 2014) und "Anarchismus Hoch 3" (Unrast-Verlag, Münster 2016).