Im Zuge der ökonomischen Krise und der Spar-, Kürzungs- und Restrukturierungspolitik, mit der die spanischen Regierungen auf diese reagierten, haben sich die alltäglichen Lebensbedingungen der spanischen Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert.
Für viele Spanierinnen und Spanier ging die Krise mit Arbeitslosigkeit, Prekarisierung, sozialem Abstieg, ökonomischer Vulnerabilität und Verarmung einher, während die soziale Ungleichheit deutlich anstieg. Die Folgen waren hunderttausende Zwangsräumungen, während Angststörungen, Depressionen und andere psychische Erkrankungen zunahmen.
In der Folge kam es zu massiven sozialen Protesten – von den Platzbesetzungen der Bewegung 15-M über die Kämpfe um Wohnraum bis hin zu Protesten gegen Kürzungen, Privatisierungen und neoliberale Reformen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. (1)
Kollektive Organisierung
Über kollektive Organisierung gegen alltägliche soziale Probleme gelang es in den Bewegungen, mit der permissiven und passiven Stimmung innerhalb der Bevölkerung, die die ersten Jahre der Krise kennzeichnete, zu brechen. Zentral hierfür war eine Neuerfindung linker Politik. Über offene und partizipative Strukturen, einen solidarischen und anerkennenden Umgang miteinander und eine konsequente Politik der ersten Person – das heißt, eine Politik, die primär auf subjektiver Betroffenheit statt auf scheinbar objektiven ‚Notwendigkeiten‘, ‚Sachzwängen‘ oder gesellschaftstheoretischen Prämissen basierte – gelang es, die Distanz linker Politik von alltäglichen Erfahrungen breiter Teile der Bevölkerung zu überwinden und die Sinnhaftigkeit kollektiven politischen Handelns erfahrbar zu machen.
Die spanischen Krisenproteste sind weit über Spanien hinaus aufschlussreich für linke Debatten
Sie zeigen, wie es gelingen kann, Politik erneut an alltäglichen Problemen der Bevölkerung auszurichten, mehrheitsfähig zu werden sowie die eigenen subkulturellen Szenegrenzen und die mit ihnen nicht selten einhergehende Überheblichkeit und Erfahrungsarmut zu überwinden. (2)
„Ohne eine Antwort.“ Linke Politik in den ersten Jahren der Krise
Obwohl schwerwiegende soziale Folgen der ökonomischen Krise für viele Spanierinnen und Spanier bereits ab 2008 spürbar wurden und die Regierungen (3) bereits 2010 begannen, eine drastische Austeritätspolitik (u.a. Kürzungen im öffentlichen Dienst, Abbau des Kündigungsschutzes, neoliberale Reformen des Tarifvertragssystems, Erhöhung des Renteneintrittsalters) durchzusetzen, war die Bevölkerung zunächst relativ passiv: „Die Leute waren unglücklich, aber sehr ruhig […], ohne eine […] Antwort […]. [Es gab] höchstens sehr spezifische und limitierte Proteste entlassener Arbeiter, wenn eine Fabrik schloss. […] Es schien unglaublich, dass die Arbeiter und die Leute nicht mehr reagierten, aber so war es.“ (4)
Die Menschen versuchten, die sozialen Probleme, mit denen die Krise einherging, individuell oder über familiäre Solidarstrukturen zu lösen, was nicht nur die Betroffenen überforderte, sondern auch viele Familien überlastete.
Die spanischen Mehrheitsgewerkschaften CC.OO. und UGT waren durch das Tempo, in dem die Austeritätspolitik durchgesetzt wurde, durch den Zusammenbruch des sozialen Dialogs, da staatliche Apparate und Arbeitgeber kaum noch bereit waren Zugeständnisse zu machen, durch die Verbetrieblichung der Tarifverhandlungen sowie durch Abwehrkämpfe und Konzessionstarifverhandlungen in den Betrieben geschwächt.
Ihre eigene Mobilisierungsfähigkeit schätzten sie zunächst als zu schwach ein, „um zu sagen, wir schließen keinen Pakt, wir gehen auf die Straße“ (Interview CC.OO., Madrid, 17.7.2012). Ihnen fiel es schwer, sich auf die veränderte Situation einzustellen. Sie setzten sich zunächst in erster Linie dafür ein, den sozialen Dialog wiederzubeleben, und entwickelten nur zögerlich konfrontativere Strategien (u.a. Generalstreiks). (5)
Die spanische Linkspartei Izquierda Unida (IU) wurde aufgrund ihrer Fokussierung auf staatliche Institutionen und ihrer Regierungsbeteiligungen von vielen Spanierinnen und Spaniern kaum als politische Alternative wahrgenommen. Sie regierte in „vielen Kommunen und einigen Regionen […] zwar mit. Aber nicht immer wurde dabei ein Unterschied deutlich. Auch zu Korruptionsfällen ist es in der Vergangenheit gekommen, auch wenn diese mittlerweile aufgeklärt sind und die entsprechenden Personen die Partei verlassen haben“. (6) Selbst viele derjenigen, die in der Partei aktiv waren, verbanden sie mit „unangenehme[n] Erfahrungen: wenig Beteiligung, viel Bürokratie, alles sehr kleinkariert, auf die Institutionen fixiert. Man hatte große Angst davor, etwas auszuprobieren, Fragen zu formulieren, zu forschen. Das Innenleben der Partei war immer wichtiger als die gesellschaftliche Situation“. (7)
Teile der radikalen Linken hatten zwar bereits vor der Krise – etwa in den Kämpfen gegen Prekarität und für Wohnraum oder den Protesten gegen die Bologna-Reformen – die „klassische[…] jugendliche[…] Autonomie, schwarz angezogen, mit all ihrem Merchandise und ihrer urbanen Folklore und den besetzten sozialen Zentren“ und mit ihr das „jugendliche und identitäre Ghetto“ (Interview Traficantes de Sueños, Madrid, 19.3.2014) hinter sich gelassen. Ihnen gelang es dennoch in den ersten Jahren der Krise kaum, gegenüber den eskalierenden alltäglichen Problemen über linke Subkulturen hinaus gesellschaftlich wahrnehmbar zu werden.
„Eine kathartische Explosion, in der alle wieder politisch wurden.“
Die Welle alltäglicher sozialer Kämpfe infolge des 15-M
Die Movimiento 15-M (Bewegung 15. Mai) wirkte dieser Krise linker Politik gegenüber als „kathartische Explosion, in der alle wieder politisch wurden und einen Haufen Sachen machten“ (Interview 15-M, Barcelona, 27.9.2012). Ausgangspunkt der Bewegung waren am 15. Mai 2011 Demonstrationen in zahlreichen spanischen Städten unter dem Motto „Wir sind keine Waren in den Händen der Politiker und Banker“, an denen sich überraschend viele Menschen beteiligten, obwohl sie lediglich von der relativ kleinen und unbekannten Plattform Democracia Real Ya! initiiert wurden, die unterschiedliche Gruppen verknüpfte. (8)
Grundlage des Erfolgs waren internetbasierte Formen der Mobilisierung, etwa über Facebook. Zumindest teilweise lag die erfolgreiche Mobilisierung an der Abwesenheit etablierter politischer Organisationen: „Es war eine andere Demonstration […]. Ohne die traditionellen Kollektive. […] Wir haben uns alle angeschaut […]: Ach was! Wir sind hier als Personen, als Individuen, die sich für die Situation, in der wir leben verantwortlich fühlen“ (Interview 15-M, Madrid, 17.7.2012).
Der Demonstration gelang es, der Unzufriedenheit der Bevölkerung einen politischen Ausdruck zu verleihen. Nach dem Ende der Demonstration kam es in Madrid zu einer Sitzblockade, gegen die die Polizei repressiv und mit Verhaftungen vorging, woraufhin etwa 100 Protestierende – vor allem aus der radikalen Linken – zur Puerta del Sol weiterzogen, wo sie beschlossen, nach dem Vorbild des Tahrir-Platzes die Nacht zu verbringen. Am nächsten Tag fand die erste Vollversammlung mit etwa 200 Teilnehmenden statt. Am frühen Morgen des 17. Mai versuchte die Polizei das Camp in Madrid aufzulösen. Daraufhin fand am Abend auf dem Platz eine Vollversammlung mit 12.000 Menschen statt, die eine unbefristete Fortführung der Besetzung beschloss. In der folgenden Nacht standen bereits etwa 100 Zelte auf der Puerta del Sol. Parallel dazu weiteten sich die Protestcamps auf mehr als 50 Städte aus.
Die besetzten Plätze wurden zu Zentren der Entwicklung einer vielfältigen Protestbewegung, in der erfahrene Aktivistinnen und Aktivisten eine Minderheit waren. 15-M „wurde wie aus einem anderen Madrid geboren. Ich erinnere mich daran, in den Tagen kurz nach dem 15-M über den Platz … über den Puerta del Sol zu gehen, und du trafst Aktivisten, die völlig fassungslos waren: ‚Wir kennen niemanden‘. Und einigen missfiel das sogar, es machte sie wie wütend: ‚Aber hier spielen wir keine Rolle'“ (Interview FRAVM, Madrid, 12.3.2014). Die Marginalisierung der radikalen Linken innerhalb der Platzbesetzungen ermöglichte eine offene, inklusive und neuartige Bewegung: „Es war bereichernd, dass es Leute ohne politische Kultur gab. Ja, ihre Unschuld, ihr neuer Blick […] war das, was bereicherte und es ermöglichte, die Dogmen niederzureißen und von neuen Ideen auszugehen. Und es war anders“ (Interview 15-M, Barcelona, 25.9.2012).
Zentrales Element der Platzbesetzungen waren allgemeine und thematische Vollversammlungen, auf denen organisatorische Fragen sowie die inhaltliche Ausrichtung der Bewegung kollektiv diskutiert und beschlossen wurden. Kennzeichen der Vollversammlungen der Bewegung 15-M waren eine Reihe von Mechanismen, die eine dynamische, partizipative und kooperative Auseinandersetzung ermöglichen sollten. Ausgangspunkt war eine Politik der ersten Person, durch die individuelle, alltägliche Probleme ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen rückten. Wie ein Aktivist erklärt, wurde weniger „über Ideologien geredet, sondern über konkrete Probleme“. (9)Mit Espinar und Abellán hat 15-M dadurch „eine Politisierung sozialer Bedürfnisse erreicht, die bislang in der Privatsphäre gelöst und verhandelt wurden. Durch seine Präsenz im öffentlichen Raum und seinen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben sich zumindest ansatzweise private soziale Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen verwandelt.“ (10)
Ermöglicht wurde dies auch dadurch, dass die Aktiven in zahlreichen Versammlungen „immer wieder darauf hingewiesen [wurden], dass sie stets als Person sprechen, nicht als Vertreter von Parteien oder Gewerkschaften, auch wenn sie Mitglieder dieser sind“. (11)
Diese Praxis resultierte aus Erfahrungen von Teilen der spanischen Studierendenbewegung, die zu der Überzeugung gelangt waren, dass „um etwas […] zu machen, das sichtbar ist, und um die Gesellschaft zu erreichen, […] die Namen der Organisationen verschwinden müssten“ (Interview 15-M, Madrid, 17.7.2012). 15-M gelang es damit, einen Raum für „kosmopolitische Erfahrungen“ zu konstituieren, der es ermöglichte, „sektiererische Streitigkeiten“ abzuwehren und zu überwinden. (12)Etablierte linke Handlungsroutinen wurden in diesem Prozess fragwürdig: „Nur hier in der Praxis checkst du plötzlich, dass es so was gibt wie dringliche Bedürfnisse. Damit meine ich Sachen des Alltags, wie Kinder, die essen müssen. Für mich ist es ein ernstes Dilemma: Ich wollte all diese Probleme ja auch in der Vergangenheit lösen, aber mit einem Wechsel des Systems und einer Dynamik der Konfrontation, doch dazu bin ich nicht fähig gewesen. Es hat mich viel Kraft gekostet, mich nun auf diese viel direktere Art und Weise einzulassen, doch nun sehe ich darin auch ein Potential der Transformation. Kurzfristig, wenn wir Erfolg haben, dann gewinnen wir was, also ganz konkret für das Leben der jeweiligen Personen.“ (13)
Handzeichen, um Zustimmung, Ablehnung oder Vetos auszudrücken sowie Wiederholungen sichtbar zu machen, ermöglichten es auch den Zuhörenden, unmittelbar auf Wortbeiträge zu reagieren. Die Versammlungen waren in der Regel auf Konsens ausgerichtet. Insbesondere für unerfahrene Aktive war es durch die inklusiven, horizontalen Formen der Bewegung sowie durch ihre ideologische Offenheit und Unbestimmtheit leichter, sich wahrgenommen und gehört zu fühlen. Dass „es ein sehr offener Raum war, hat dazu geführt, dass Leute, die sich in keiner Organisation widergespiegelt gesehen haben, […] sich hier gesehen haben, weil es möglich war, sich offener zu beteiligen, weil ihre Meinung berücksichtigt wurde“ (Interview 15-M, Madrid, 18.7.2012). Den erlebten gegenseitigen Respekt und den wohlwollenden oder sogar liebevollen Umgang zählten viele Aktive zu ihren eindrücklichsten Erfahrungen im Rahmen von 15-M.
Auch wenn die Dynamik der Bewegung 15-M bereits 2011 abebbte – etwa aufgrund von Ermüdung – gelang es der Bewegung, die Bevölkerung nachhaltig zu aktivieren und zu politisieren. In der Folge entstanden in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen soziale Bewegungen, die sich an der basisdemokratischen und inklusiven ‚Grammatik‘ von 15-M orientierten.
Die Plattform der Hypothekenbetroffen organisierte basisdemokratische Vollversammlungen, in denen Betroffene sich gegenseitig über den Umgang mit Hypothekenschulden berieten und kollektive Aktionen für ein Recht auf Wohnraum planten (u.a. ziviler Ungehorsam gegen Zwangsräumungen, Besetzungen von Banken, Aushandlung von Schuldenerlassen, Aneignung von Wohnraum), durch die es gelang, eine Vielzahl „kleiner großer Erfolge“ (14) zu erzielen. Im Gesundheitsbereich in Madrid gelang es durch die neu entstandenen berufs- und statusübergreifenden basisdemokratischen Vollversammlungen in den Kliniken gemeinsam mit etablierten Gewerkschaften und Berufsverbänden starke Proteste zu entfachen, durch die ein weitreichendes Privatisierungsprojekt der Regierung gestoppt werden konnte. Auf den Balearen organisierten basisdemokratische Vollversammlungen im Bildungsbereich einen mehrtägigen Streik sowie eine Streikkasse. (15)
„Von singulären Erfahrungen ausgehen.“ Die Neuerfindung linker Politik
Eine Folge der Welle sozialer Kämpfe infolge des 15-M war ein verändertes Rollenverständnis bei vieler linken Aktivistinnen und Aktivisten: „Der Aktivist kam […] [zuvor] mit einem messianischen Profil. Er kam um zu lehren. ‚Oh, ihr die ihr keine politische Kultur habt‘. Ich glaube, in diesem ganzen Prozess wurde gelernt, dass du natürlich mit deinen [Erfahrungen und Kompetenzen] […] kommst, dabei aber nicht das, was die anderen Personen haben, herabwürdigen oder ignorieren kannst.“ (Interview Intercomisión de Vivienda, Sevilla, 13.11.2013)
Grundlage dafür war es, „nicht von den ideologischen Kategorien auszugehen, mit der die Linke, einschließlich der am wenigsten orthodoxen, bisher operiert hat und die vielfach abstrakte Inseln der Selbstgefälligkeit […] hervorgebracht haben […]: Man muss von singulären Erfahrungen ausgehen, die wenig oder nichts mit Ideologie zu tun haben, von einer akribischen Arbeit, um Widerstände und Unbehagen festzustellen, die sich im Sozialen bereits produzieren, und man muss daher auch von einer Revision der übermäßig homogenen Zusammensetzung militanter Bewegungen und Modelle ausgehen, die einem bestimmten Subjektivitätstypus entsprechen (jung, ohne zu versorgende Personen, die mit geringen Mitteln vereinnahmt werden können, keine Krankheiten haben etc.).
Die Artikulation von Rechten ausgehend von gemeinsamen Erfahrungen in diesem offenen, fragmentierten und zerstreuten Kontext, der Realitäten entkoppelt und voneinander entfernt, taucht wieder als notwendiger Imperativ auf, um eine enteignete Subjektivität zu ermächtigen und neu zusammenzusetzen.“ (16)
Die Linke kann, fasst Pablo Iglesias die Erfahrung zusammen, wenn sie gesellschaftlich wirkmächtig werden will, „keine Religion, keine Hymne, keine Fahne, kein Buch von Marx sein, wo alle Antworten geschrieben sind, wo man Zuflucht nimmt, wenn es einen Zweifel oder ein Problem gibt“. (17)
„Phase der Sackgasse.“ Aktuelle Herausforderungen und Perspektiven
Die Strukturen der Bewegungen blieben zerbrechlich und prekär. Sie standen massiven externen Problemen gegenüber, etwa der extremen Beschleunigung politischer Prozesse, einer fehlenden Übersetzung ihrer Forderungen in staatliche Politik aufgrund der zunehmenden Verhärtung der repräsentativen Demokratie sowie Schwierigkeiten, alltägliche Lebensbedingungen konkret zu verändern. Hinzu kamen aber auch interne Probleme wie Ermüdungserscheinungen infolge intensiver und lang andauernder Mobilisierungen, organisatorische Fragmentierung oder eine gewisse soziale Exklusivität.
Während die Dynamik der Bewegungen in den vergangenen Jahren nachließ, gründeten sich Wahlplattformen (z.B. Ahora Madrid, Barcelona en Comú) und neue linke Parteien (z.B. Podemos), denen es im Kontext des veränderten politischen Klimas gelang, das spanische Parteiensystem durch Wahlerfolge partiell zu öffnen. In Madrid, Barcelona und anderen spanischen Kommunen übernahmen sie Regierungsverantwortung.
Gegenwärtig hat sich der Protestzyklus weitgehend erschöpft, während es den aus ihm heraus entstandenen Parteien nur begrenzt gelingt, dessen radikaldemokratische Impulse gegenüber den Eigenlogiken des institutionellen Systems zu bewahren. (18)
Die sozialen Verelendungsdynamiken und Abstiegsprozesse während der Krise schwächten sich trotz einer vorsichtigen wirtschaftlichen Erholung nicht grundsätzlich ab, sie wurden jedoch zunehmend Teil der ’normalen‘ Lebensrealität, auf die die Bevölkerung statt mit politischen Forderungen und Protesten zunehmend mit individuellen Umgangsstrategien reagierte.
Die übrig gebliebenen Aktiven der sozialen Bewegungen stehen dadurch vor der schwierigen Herausforderung, parallel zu parteipolitischen und institutionellen Strategien „Bewegungszyklus, soziale Organisierung und politische Mobilisierung wieder aufzubauen“ (19).
Soziale Gegenmacht im Alltag zu (re-)organisieren, so Emmanuel Rodríguez, ist auch die Grundlage dafür, dass die neuen Parteien und kommunalen Regierungen ihr transformierendes Potential und ihre politische Verpflichtung gegenüber alltäglichen sozialen Krisen aufrechterhalten. Nur wenn erneut im kollektiven Austausch über singuläre alltägliche Erfahrungen Organisationsformen entwickelt würden, die konkrete und emanzipatorische Lösungen für den Alltag anbieten, könne es gelingen, die momentane „Phase der Sackgasse abzukürzen“ (20).
Deutlich stärker als in den vergangenen Jahren scheint die Aktivierung dieser Prozesse jedoch momentan eine „harte, mühselige Maulwurfsarbeit“ (21) zu sein.
Nikolai Huke
(1) vgl. Huke, Nikolai, Krisenproteste in Spanien, Münster 2016; ders., "Sie repräsentieren uns nicht." Soziale Bewegungen und Krisen der Demokratie in Spanien, Münster 2017
(2) vgl. zu den Debatten u.a. arranca!, #48: Zurück in die Zukunft. Eine Frage der Organisierung, 14.11.2016, http://arranca.org/ausgabe/48; dass., #49: Form Follows Function. Eine Frage der Organisierung II, 14.11.2016, http://arranca.org/ausgabe/49; Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016; López, Silvia/Xavier Martínez/Javier Toret, Büros für soziale Rechte, 14.11.2016, http://eipcp.net/transversal/0508/lopezetal/de
(3) Zu Beginn der Krise regierte die sozialdemokratische PSOE, seit November 2011 regiert die rechtskonservative PP.
(4) Etxezarreta, Miren/Francisco Navarro/Ramón Ribera/Victòria Soldevila, Boom and (deep) crisis in the Spanish economy, 6.2.2012, www.euromemorandum.eu/uploads/ws1_etxezarreta_et_al._boom_and_deep_crisis_in_the_spanish_economy_the_role_of_the_eu_in_its_evolution.pdf, S. 26
(5) vgl. Huke, Nikolai/Olaf Tietje, Zwischen Kooperation und Konfrontation. Machtressourcen und Strategien der spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT in der Eurokrise, Industrielle Beziehungen, Jg. 21, H. 4 (2014), S. 371-389; dies., Gewerkschaftliche Erneuerung in der Eurokrise, PROKLA, Jg. 44, H. 4 (2014), S. 531-548
(6) Garzón, Alberto, "Es geht uns um eine umfassende Transformation unseres politischen Systems", 3.10.2014, www.zeitschrift-luxemburg.de/es-geht-uns-um-eine-umfassende-transformation-unseres-politischen-systems
(7) Urbán, Miguel, "Das Verrückte an Podemos war, dass es von der Bevölkerung sofort überrannt wurde", Neues Deutschland vom 20.6.2015
(8) vgl. Candeias, Mario/Eva Völpel, Plätze sichern!, Hamburg 2014, S. 101
(9) Zit. nach García Ajofrín, Lola/Rafael Miralles Lucena/Jaume Carbonell Sebbarroja, El movimiento del 15-M, 19.6.2012, www.cuadernosdepedagogia.com/ver_pdf.asp?idArt=14780, S. 17
(10) Espinar, Ramón/Jacobo Abellán, "Lo llaman democracia y no lo es", PROKLA, Jg. 42, H. 1 (2012), S. 135-149, hier: S. 147
(11) Ebd.
(12) Bayat, Asef, Life as Politics, Amsterdam 2010, S. 13
(13) Malaboca Kollektiv, Preguntando Cambiamos, 14.11.2016, https://malaboca.noblogs.org/files/2015/12/cambiamos_dt_final.pdf, S. 9
(14) Colau, Ada/Adrià Alemany, ¡Sí se puede! Crónica de una pequeña gran victoria, Barcelona 2013
(15) Vgl. Huke, Krisenproteste in Spanien [wie Anm. 1]
(16) López u.a., Büros für soziale Rechte, 14.11.2016 [wie Anm. 2]
(17) Zit. nach Rivero, Jacobo, Podemos, Barcelona 2015, S. 37
(18) Vgl. Huke, Krisenproteste in Spanien [wie Anm. 1]
(19) Carmona, Pablo, 11.01.2017, https://www.diagonalperiodico.net/blogs/funda/sindicalismo-social-la-nueva-fase-del-ciclo-institucional.html
(20) Rodríguez, Emmanuel, 11.01.2017, https://www.diagonalperiodico.net/panorama/30448-corresponsabilidad-companero-doce-meses-ayuntamientos-del-cambio.html
(21) Agnoli zit. nach Narr, Wolf-Dieter, Theoretisieren als Partisanenarbeit. Zum Politikum subversiven Denktuns am Exempel Johannes Agnoli (22.2.1925-4.5.2003), PROKLA, Jg. 33, H. 2 (2003), S. 191-200, hier: S. 194
Nikolai Huke ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Er ist u.a. in der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) aktiv und forscht zu sozialen Bewegungen und Krisen der Demokratie in Spanien. In seinem Buch "Krisenproteste in Spanien" gibt er auf der Grundlage von Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten verschiedener Bewegungen einen Einblick, wie sich als Reaktion auf Krisen und autoritäre Austeritätspolitik neue Formen der Selbstorganisation und des zivilen Ungehorsams herausbilden. Vgl. Rezension von Martin Baxmeyer, in: Graswurzelrevolution Nr. 412/Libertäre Buchseiten, Oktober 2016.