"Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich."
(An die Nachgeborenen, 1934)
Vor 20 Jahren, im Februar 1978, erschien im Spiegel ein Essay mit dem Titel „Brecht ist tot“. Im obligatorischen Jubiläumsartikel zum 100. Geburtstag des Stückemachers muß das Wochenmagazin Ende des Jahre 1997 zähneknirschend zugeben, daß der zwei Jahrzehnte zuvor für tot erklärte Brecht „rund um die Welt als erfolgreichster Dramatiker dieses Jahrhunderts“ gilt. Ein Autor vom Range Brechts kann nicht einfach durch einen Spiegel-Artikel für immer ins Jenseits befördert werden. Doch gibt es auch andere Möglichkeiten, einen unbequemen Autor politisch zu neutralisieren, beispielsweise, indem er als „geniales Scheusal“ hingestellt wird.
Zu dieser Einschätzung gelangte der Spiegel vor allem durch die Studien des Brecht-Forschers John Fuegi, der behauptet, ein bedeutender Teil der Werke, durch die Brecht weltberühmt wurde, sei in Wirklichkeit von seinen Mitarbeiterinnen und Geliebten, vor allem aber von Elisabeth Hauptmann, geschrieben worden. Brecht habe es geschickt verstanden, die Arbeit der Frauen um ihn herum als sein eigenes Werk auszugeben.
Es ist hier nicht meine Absicht, die Zuverlässigkeit von Fuegis Studie im Detail zu untersuchen. Unbestreitbar scheint mir zu sein, daß Brecht andere Menschen – vor allem Frauen – benutzt, häufig auch ausgenutzt, ja ausgebeutet hat. Hinsichtlich seines oft schäbigen Verhaltens anderen Menschen gegenüber möchte ich nichts verteidigen, nichts zurechtbiegen, nichts relativieren. Und wenn nun durch John Fuegi, Sabine Kebir und andere der Blick auf die hochbegabten Mitarbeiterinnen Brechts fällt, kann ich das nur begrüßen.
Trotz seines oft höchst problematischen Umgangs mit anderen Menschen hat Brecht mit seinen Dramen, Erzählungen und Gedichten ein Werk hinterlassen, das hinsichtlich seiner politischen Brisanz und Aktualität seinesgleichen sucht. Dies möchte ich im folgenden anhand einiger Beispielen – vor allem einiger Gedichte – deutlich machen.
Der antimilitaristische Brecht
Von großer Aktualität erscheint mir etwa sein radikaler Antimilitarismus. Brecht war, spätestens seit seinem 18. Lebensjahr, ein konsequenter und kompromißloser Gegner des deutschen Militarismus. Schon im Jahre 1915, also mitten in der Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkriegs, nannte er in einem Schulaufsatz den Ausspruch Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben eine „Zweckpropaganda“, auf die nur „Hohlköpfe“ reinfallen würden. Dies führte zu einem kleinen Schulskandal. Zwei Jahre später schrieb Brecht die Legende vom toten Soldaten, meiner Ansicht nach eins der kraftvollsten und gelungensten Anti-Kriegs-Gedichte, das je geschrieben wurde. Es war vor allem dieses Gedicht, das die Nazis veranlaßte, in Brecht einen ihrer wichtigsten Feinde zu sehen.
Brecht seinerseits gehörte zu denen, die sehr klar sahen, daß die Nazis einen neuen Krieg ansteuerten. In den Svendburger Gedichten, die er – zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen – im dänischen Exil (1933-1938) verfaßte, gehört die Warnung vor einem zweiten Weltkrieg zu den wichtigsten Themen. In Anspielung auf Hitlers beschwichtigende Reden aus dieser Zeit heißt es etwa:
Wenn die Oberen vom Frieden reden
Weiß das gemeine Volk
Daß es Krieg gibt.
Wenn die Oberen den Krieg verfluchen
Sind die Gestellungsbefehle schon ausgeschrieben.
(Bertolt Brecht: Die Gedichte [BBG], S. 636)
Die Oberen
Haben sich in einem Zimmer versammelt.
Mann auf der Straße
Laß alle Hoffnung fahren.
Die Regierungen
Schreiben Nichtangriffspakte.
Kleiner Mann
Schreibe dein Testament.
(BBG, S. 636)
Die Oberen sagen:
Es geht in den Ruhm.
Die Unteren sagen:
Es geht ins Grab.
(BBG, S. 637)
Und in einem der eindrucksvollsten Gedichte aus dieser Zeit können wir lesen:
Deutsches Lied
Sie sprechen wieder von großen Zeiten
(Anna, weine nicht)
Der Krämer wird uns ankreiden.
Sie sprechen wieder von Ehre
(Anna, weine nicht)
Da ist nichts im Schrank, was zu holen wäre.
Sie sprechen wieder vom Siegen
(Anna, weine nicht)
Sie werden mich schon nicht kriegen.
Es ziehen die Heere
(Anna, weine nicht)
Wenn ich wiederkehre
Kehr ich unter andern Fahnen wieder.
(BBG, S. 641)
Sind diese Verse nicht ähnlich aktuell und brisant wie das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“? Die Zahl der Arbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen steigt, gleichzeitig beschließt der Bundestag das teuerste Rüstungsprogramm in der Geschichte der BRD, den Eurofighter. Einer der bekanntesten Neonazis hält einen Vortrag an einer Führungsakademie der Bundeswehr, deutsche Soldaten dürfen wieder überall in der Welt eingesetzt, aber nicht als Mörder bezeichnet werden, denn diesmal geht alles freiheitlich-demokratisch zu, egal, ob „unsre Jungs“ vor laufender Videokamera Folterungen üben, „aus Versehen“ einen Somali töten oder – wie lange wird es noch dauern? – der „Raum Königsberg“ (M. Roeder) als „neuestes Bundesland“ der BRD „angegliedert“ wird.
Der nationalismuskritische Brecht
Brecht war natürlich nicht der einzige bedeutende deutsche politische Dichter in diesem Jahrhundert. Neben dem schon genannten Kurt Tucholsky schrieben auch Erich Mühsam, Ingeborg Bachmann, Erich Fried und andere eindrucksvolle politische Gedichte.
Und doch ist Brechts Lyrik in mancherlei Hinsicht einzigartig. Nehmen wir etwa folgendes 1933 geschriebenes Gedicht:
Deutschland
Mögen andere von ihrer Schande sprechen
ich spreche von der meinen.
O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.
Unter den Befleckten
Fällst du auf. […]
In deinem Hause
Wird laut gebrüllt, was Lüge ist
Aber die Wahrheit
Muß schweigen.
Ist es so?
Warum preisen dich ringsum die Unterdrücker, aber
Die Unterdrückten beschuldigen dich?
Die Ausgebeuteten
Zeigen mit Fingern auf dich, aber
Die Ausbeuter loben das System
Das in deinem Hause ersonnen wurde! […]
Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.
Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer
Wie beim Anblick einer Räuberin.
O Deutschland, bleiche Mutter!
Wie haben deine Söhne dich zugerichtet
Daß du unter den Völkern sitzest
Ein Gespött oder eine Furcht!
(BBG, S. 487)
In der deutschsprachigen politischen Lyrik des 20. Jahrhunderts kenne ich eigentlich nur ein Gedicht, das eine ähnliche Intensität erreicht wie die besten Brecht-Gedichte aus den 30er Jahren, und das ist die Todesfuge von Paul Celan. In Brechts Lyrik ist es eine eigentümliche Verbindung der politischen Lage mit dem subjektiven Befinden des lyrischen Ichs, die seine Gedichte aus dieser Zeit auszeichnen. Dabei denke ich vor allem an das Gedicht An die Nachgeborenen, das zu recht zu den bekanntesten Brecht-Gedichten zählt (BBG, S. 722-725).
Zitiert werden müßten hier auch das autobiographische Gedicht Verjagt mit gutem Grund (BBG, S. 721f), die drei Stophen von Die Hoffnung der Welt (BBG, S. 738f) oder auch Frühling 1938 aus der Steffinischen Sammlung (BBG, S. 815f). Daß ein gutbezahlter Spiegel-Schreiberling mit diesen Werken nicht viel anfangen kann, sollte uns nicht weiter verwundern. Doch wer wie Brecht die Hoffnung auf eine gerechtere Welt noch nicht aufgegeben hat, wird diese Gedichte zu den unvergänglichen Kostbarkeiten der deutschen Literatur zählen.
Über Brechts Theaterstücke – oder genauer: über die Theaterstücke, die Brecht mit Hilfe seiner Mitarbeiterinnen schrieb – ist oft gesagt worden, sie seien belehrend, didaktisch, nicht länger aktuell. Einige Stücke, etwa Die Mutter, wirken heute tatsächlich etwas anachronistisch, andere dagegen erscheinen mir brennend aktuell. An erster Stelle möchte ich hier Mutter Courage nennen, das meiner Ansicht nach zu den ganz großen Theaterstücken des 20. Jahrhunderts gehört. Es lohnt sich, denke ich, einmal ein literaturwissenschaftliches Werk (etwa das Brecht-Handbuch von Jan Knopf) zur Hand zu nehmen, um zu sehen, wie kunstvoll Mutter Courage komponiert ist. Solange es Kriege gibt und Menschen, die davon profitieren, solange wird dieses Drama aktuell sein.
Ein anderes Meisterwerk von bleibender Bedeutung ist die Szenenfolge Furcht und Elend des Dritten Reiches. In einer Zeit, in der sich viele Jugendliche neo-nazistischen Gruppen zuwenden, ist ein Theaterstück, das mit großer Eindringlichkeit die Grausamkeit des alltäglichen Faschismus zeigt, von herausragender Wichtigkeit. Und daß sich dieses Drama gut weiterschreiben läßt, hat meiner Ansicht nach Franz Xaver Kroetz im Jahre 1993 mit seinem Stück Ich bin das Volk. Volkstümliche Szenen aus dem neuen Deutschland auf überzeugende Weise demonstriert. Beide Stücke erscheinen nur selten auf den Spielplänen der großen Theaterhäuser. Aus verständlichen Gründen, wie mir scheint.
Der aktuelle Brecht
Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, sich einmal zu fragen, warum die von Brecht und seinem Team geschriebenen Werke rund um den Globus in den letzten Jahrzehnten so überaus erfolgreich waren. Beruht das alles nur auf einem Mißverständnis? Wohl kaum. Im Gegenteil: In Sao Paolo, Nairobi oder Kalkutta werden diese Stücke heute sicherlich besser verstanden als in Frankfurt oder Düsseldorf. Ein Theaterstück wie Der gute Mensch von Sezuan hat hier ungleich mehr mit der Lebenswirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit zu tun als die Dramen von Thomas Bernhard oder Botho Strauss.
Doch auch in Europa ist die Auseinandersetzung mit den Werken von „Brecht & Co.“ (J. Fuegi) nach wie vor eine äußerst lohnenswerte Sache. Vieles könnte heute geschrieben sein. Etwa folgendes Gedicht:
An den Schwankenden
Du sagst:
Es steht schlecht um unsere Sache.
Die Finsternis nimmt zu. Die Kräfte nehmen ab.
Jetzt, nachdem wir so viele Jahre gearbeitet haben
Sind wir in schwierigerer Lage als am Anfang.
Der Feind aber steht stärker da denn jemals.
Seine Kräfte scheinen gewachsen. Er hat ein unbesiegliches Aussehen angenommen.
Wir aber haben Fehler gemacht, es ist nicht zu leugnen.
Unsere Zahl schwindet hin.
Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter
Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.
Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben
Einiges oder alles?
Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert
Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben
Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?
Müssen wir Glück haben?
So fragst du. Erwarte
Keine andere Antwort als die deine!
(BBG, S. 678)
Oder folgende Strophen aus der Resolution der Kommunarden:
In Erwägung unsrer Schwäche machtet
Ihr Gesetze, die uns knechten solln.
Die Gesetze seien künftig nicht beachtet
In Erwägung, daß wir nicht mehr Knecht sein wolln. […]
In Erwägung, daß da Häuser stehen
Während ihr uns ohne Bleibe laßt
Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
Weil es uns in unsern Löchern nicht mehr paßt. […]
In Erwägung, daß wir der Regierung
Was sie immer auch verspricht, nicht traun
Haben wir beschlossen, unter eigner Führung
Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.
(BBG, S. 653-655)
Der anarchistische Brecht
Damit sind wir bei einem Thema, das in Feierreden und Jubiläumsartikeln nicht allzuviel Erwähnung findet: beim anarchistischen Brecht. Damit meine ich nicht den Autor des Dramas Baal. Dieses Stück über den egozentrischen Genußmenschen Baal, das Brecht als 20jähriger schrieb, fand ich schon immer recht problematisch. Anarchistisch (im Sinne von: Ablehnung jeglicher Herrschaft) finde ich demgegenüber etwa folgende Strophe aus der Ballade vom Wasserrad:
Ach, wir hatten viele Herren
Hatten Tiger und Hyänen
Hatten Adler, hatten Schweine
Doch wir nährten den und jenen.
Ob sie besser waren oder schlimmer:
Ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer
Und uns trat er. Ihr versteht: ich meine
Daß wir keine andern Herren brauchen, sondern keine!
(BBG, S. 1176)
War der Autor dieser Verse ein „Scheusal“? In gewisser Hinsicht war er es, wie wir gesehen haben, tatsächlich. Aber im Unterschied zu anderen berühmten „Scheusalen“ – etwa Goethe oder Richard Wagner – war er auch ein Mensch, der sich bewußt auf die Seite der Unterdrückten gestellt hatte und seine großen künstlerischen Fähigkeiten dazu einsetzte, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Und ich denke, daß es keine Koketterie war, als er folgende Bitte An die Nachgeborenen richtete:
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.
(BBG, S. 724f)