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Die Türkei vor dem Referendum

| Rudi Friedrich

Am 13. März 2017 wurde in einem Ort weit im Südosten der Türkei, in Sirnak, gegen einen Arzt verhandelt, dem vorgeworfen wird, mutmaßliche Militante behandelt zu haben. Wenige Tage später wurden unweit davon, in Diyarbakir, der Vorsitzende des dortigen Menschenrechtsvereins und weitere elf MenschenrechtsaktivistInnen verhaftet. Die Repressionswelle in der Türkei geht auf vielen Ebenen weiter. Und alle schauen auf den 16. April, wenn über die von Präsident Erdogan und der "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu einem Präsidialsystem ein Referendum stattfindet. Aus der Türkei berichtet Rudi Friedrich von Connection e.V. Sein Artikel leitet den Türkei-Schwerpunkt der GWR 418 ein. (GWR-Red.)

Exemplarischer Fall in Sirnak

Eigentlich war die Verhandlung, die am 13. März 2017 in Sirnak in der gleichnamigen Provinz stattfand, ein Lehrstück darüber, wie die Polizei und Sicherheitskräfte während der Ausgangssperren 2015 und 2016 vorgegangen waren. Noch im Februar 2015 war von der AKP geführten Regierung und der pro-kurdischen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) ein Zehn-Punkte-Friedensplan (Dolmabahçe-Abkommen) bekannt gegeben worden. Als aber klar wurde, dass die regierende AKP unter Präsident Erdogan in den darauf folgenden Wahlen die absolute Mehrheit verfehlen würde und die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten könnte, kündigte der Präsident das Abkommen auf und erklärte, dass er „unter keinen Umständen die Vereinbarungen des Dolmabahçe-Abkommens akzeptiere“ und dass „ein Abkommen nicht mit denen gemacht werde, die sich auf eine terroristische Organisation (PKK) stützen“. (1)

Daran schloss sich eine Eskalation an, die im Südosten des Landes, in den vor allem von KurdInnen bewohnten Bezirken, in einen Krieg mündete. Auf der einen Seite standen bewaffnete Gruppen der „Patriotisch Revolutionären Jugendbewegung“ (YDG-H), die in den Städten Gräben aushoben und Barrikaden errichteten. Auf der anderen Seite rückten türkische Polizei und Militär an. Es folgten monatelange Rund-um-die-Uhr Ausgangssperren in 30 Stadtteilen in neun Provinzen. 1,8 Millionen Menschen waren davon betroffen. In einem Bericht des Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen von Mitte Februar 2017 wird die Zahl der Getöteten mit 2.000 angegeben, 350.000 bis zu einer halben Million Menschen wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben. (2)

In Sirnak sieht das jetzt so aus: Die Stadtteile, die unter Ausgangssperre standen, wurden zunächst vollständig von den türkischen Sicherheitskräften abgeriegelt und es wurde dann ohne Unterschied gegen die noch in den Gebieten befindlichen Personen vorgegangen. Nach der Räumung wurden die Hausbesitzer vom Staat enteignet und mit einer völlig unzureichenden Entschädigung abgefunden. Dann kamen Bagger und Bulldozer und rissen die kompletten Stadtviertel bis auf die Grundmauern ab. 40.000 von insgesamt 62.000 BewohnerInnen, so ein Mitarbeiter der Menschenrechtsstiftung der Türkei, verloren so ihre Wohnung, ihr Hab und Gut. Tiefe Wunden sind in die Stadt gerissen.

Die nackten Zahlen sind eins. Wie die Repression in der Realität aussieht, spiegelte sich beispielhaft in der Gerichtsverhandlung. Die Staatsanwaltschaft hatte vier Zeugen gegen den Arzt Dr. Serdar Küni aufgeboten, um nachzuweisen, dass er bei seiner Tätigkeit im Gesundheitszentrum von Cizre, einer Nachbarstadt von Sirnak, „mutmaßlich Militante behandelt hatte“ und dies nicht gegenüber den Sicherheitskräften zur Anzeige gebracht habe. Er sei zudem Mitglied der PKK.

Nun stand ein Belastungszeuge nach dem anderen vor Gericht. Sie wurden vereidigt und gefragt, ob sie den Angeklagten kennen, was alle verneinten. Sie hätten Dr. Serdar Küni nie gesehen und würden ihn nicht kennen. Einer erklärte, auf ihn sei psychisch Druck ausgeübt worden, damit er die Aussage unterschreibe. Alle anderen Zeugen machten deutlich, dass sie nach ihrer Verhaftung durch die Polizei und Sicherheitskräfte gefoltert worden seien. „Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen“, berichtete einer von ihnen. „Dann zogen sie mir eine Weste mit einem Sprengsatz an und drohten mich in die Luft zu sprengen. Ich habe unterschrieben, aber nichts davon, was dort steht, ist wahr.“

Spätestens an diesem Punkt hätte der Arzt aus der Untersuchungshaft entlassen und das Verfahren eingestellt werden müssen. Zu offensichtlich beruhte die Anklage auf unter Folter erpressten Geständnissen. Das Gericht folgte aber am Ende des Verfahrens dem Antrag des Staatsanwaltes, der weiterhin Zweifel an der Unschuld des Angeklagten äußerte, und verlängerte die Untersuchungshaft bis zum nächsten Prozesstermin am 24. April 2017.

Bemerkenswert ist, mit welcher Unverfrorenheit die Justiz gegen Oppositionelle vorgeht, hier gegen einen Arzt, der die Menschenrechtsstiftung der Türkei in Cizre vertritt und Präsident der Ärztekammer in Sirnak war. Es zeigt, wie weit die politischen Vorgaben der türkischen Regierung bis in das Justizwesen hinein wirken.

Eine andere Seite dieses Vorgehens schildert der UN-Menschenrechtskommissar in seinem Bericht. Trotz zahlreicher Dokumentationen über widerrechtliches Vorgehen, Willkür, außergerichtliche Tötungen und Folter der türkischen Sicherheitskräfte wurde bislang kein einziges Verfahren eröffnet. Am 23. Juni 2016 verabschiedete das türkische Parlament Regelungen, mit denen die Sicherheitskräfte erweiterte Befugnisse erhalten und bei ihren Einsätzen faktisch straflos gestellt werden. (3)

Repressionswelle und Säuberungen im ganzen Land

Seit dem versuchten Putsch hat die Repressionswelle das ganze Land ergriffen. Zumeist unter dem Vorwurf, entweder der für den versuchten Putsch verantwortlich gemachten Gülen-Bewegung anzugehören oder aber unter dem Vorwurf des Terrorismusverdachts, wurden tausende LehrerInnen, AkademikerInnen und Beamte entlassen, ein Drittel der Richterschaft. Die Gefängnisse sind voll von frisch Inhaftierten, darunter auch viele JournalistInnen.

Einer der Professoren, der im Januar 2016 den Internationalen Appell der AkademikerInnen für den Frieden (4) mit unterzeichnet hatte, berichtet über die ganz persönlichen Konsequenzen seiner Entlassung: „Mich traf der dritte Erlass im Januar 2017 gegen die AkademikerInnen. Nach und nach werden Verfügungen verhängt, die immer mehr Personen treffen. Niemand kann sicher sein vor dieser Art der Repression. Es bedeutet, dass du von einem Tag auf den anderen den Job verlierst. In manchen Fällen traf dies beide Elternteile von Familien.“ (5)

Die Entlassung bedeutet aber nicht nur, dass die wirtschaftliche Grundlage für den Lebensunterhalt von heute auf morgen entfällt. Den Betroffenen wurden auch die Pässe entzogen, so dass sie nicht mehr ins Ausland gehen können. Zudem können sie keine Anstellung bei Behörden oder öffentlichen Institutionen aufnehmen.

Eine andere Gruppe, die nun in Deutschland um Asyl nachsucht, sind türkische Soldaten, die im Rahmen der NATO in Deutschland stationiert waren. Auch sie wurden von einem auf den anderen Tag aus dem Dienst entlassen, unter dem Vorwurf, an dem Putschversuch beteiligt zu sein. Zwei Offiziere sind Ende Januar 2017 erstmals an die Öffentlichkeit getreten. „Wenn ich in die Türkei zurückgehe, riskiere ich, verhaftet und womöglich gefoltert zu werden“, sagte ein hochrangiger Offizier. Mit dem Putschversuch in der Türkei hätten sie nichts zu tun, betonten die Soldaten. Andere, die zurückgegangen sind, seien in der Türkei unverzüglich verhaftet worden. (6)

In der Türkei wird unterdessen gegen die Wehrpflichtigen vorgegangen, die sich seit Jahren der Ableistung des Militärdienstes entziehen. Es sind nicht nur Kriegsdienstverweigerer, die öffentlich ihre Verweigerung erklärt hatten. Es betrifft zwischen 590.000 und 800.000 Wehrpflichtige. Viele von ihnen leben verborgen in der Türkei und haben sich ihr Leben außerhalb der staatlichen Kontrolle eingerichtet. (7)

In der Türkei besteht für alle Männer die Verpflichtung einen zwölfmonatigen Militärdienst abzuleisten. Wer sich dem Dienst entzieht, verliert faktisch die bürgerlichen Rechte. Er erhält keinen Pass, kann kein Konto eröffnen, keine legale Arbeit annehmen, nicht heiraten und auch die eigenen Kinder nicht anerkennen. Kriegsdienstverweigerern droht überdies mehrmalige Rekrutierung und Strafverfolgung, da die Wehrpflicht erst dann als erfüllt gilt, wenn der Militärdienst abgeleistet wurde. (8)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte dies in einer Entscheidung im Jahr 2006 einen „Zivilen Tod“ (9).

Im Dezember 2016 erging ein Erlass des Verteidigungsministeriums, mit dem die Arbeitgeber aufgefordert wurden, den Wehrpflichtstatus ihrer Mitarbeiter prüfen zu lassen. Die Arbeitnehmer sollen sich innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden und sich registrieren lassen. Wer dem nicht nachkommt, verliert unweigerlich den Job. Damit verlieren sie auch jede soziale Absicherung z.B. bei Krankheit. Der Verein für Kriegsdienstverweigerung schreibt dazu: „Mit dieser Praxis können die Kriegsdienstverweigerer keine bürgerlichen Rechte wie andere Bürger wahrnehmen. Kriegsdienstverweigerer sind dazu gezwungen sich aus dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben zurückzuziehen.“ (10)

Große Unsicherheit vor dem Referendum

All dies sorgt für große Unsicherheit vor dem Referendum, mit dem über die von der AKP vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll. Ein Referendum ist übrigens nur deshalb erforderlich, weil die AKP gemeinsam mit der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) nicht die notwendige 2/3-Mehrheit im Parlament für eine sofort wirksame Verfassungsänderung hat. Mit mehr als 3/5 der Stimmen jedoch konnte das Referendum initiiert werden, das am 16. April 2017 stattfinden soll.

Die Eskalation und Unsicherheit, so lässt sich in den letzten zwei Jahren deutlich feststellen, ist Programm des Präsidenten Tayyip Erdogan und seiner Partei AKP. Nachdem die AKP im Juni 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte, reagierte Erdogan mit der Aufkündigung des Friedensprozesses und der Eskalation im Südosten des Landes. Die AKP blockierte zugleich die Parlamentsarbeit, um eine neue Wahl zu erzwingen, bei der sie dann auch mehr Stimmen erringen konnte. Im Mai 2016 brachte die AKP unter Erdogan eine Gesetzesvorlage ein, durch die die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben wurde. Die Entscheidung traf vor allem die pro-kurdische HDP. Im November 2016 waren daraufhin zwölf Abgeordnete der Partei verhaftet worden. (11)

Präsident Erdogan will sich als der starke Mann präsentieren, der allein für Sicherheit, Aufschwung und Wohlstand sorgen kann.

Nun steht er vor dem entscheidenden Schlag, der seine Macht als Präsident für ein weiteres Jahrzehnt festigen könnte. Seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 regiert er über die Ausrufung des Ausnahmezustandes gemeinsam mit dem Ministerrat über das Parlament hinweg. Vom Ministerrat erlassene Dekrete haben faktisch Gesetzeskraft. In Zukunft, das ist ein Bestandteil der Verfassungsänderung, soll diese Möglichkeit dem Präsidenten in alleiniger Verantwortung offenstehen.

Die Verfassungsänderung würde zugleich bedeuten, dass der Präsident die Gerichtsbarkeit kontrolliert, indem er den Präsidenten und die Hälfte der Mitglieder des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Mitgliedern des Obersten Verfassungsgerichtes beruft.

Er erhält auch in anderen Bereichen umfangreiche Befugnisse, bestimmt die nationale Sicherheitspolitik, wird Oberkommandierender der Armee und entscheidet über den Einsatz der Armee und die Ausrufung des Ausnahmezustandes. (12)

Kurz: Der Präsident erhält weitreichende Machtbefugnisse, die ihm zum einen ermöglichen, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, und zum anderen dafür sorgen, dass er Kontrolle über die Institutionen, wie z.B. das Justizwesen, hat, die eigentlich ihn und die staatlichen Organe kontrollieren sollen. Damit wird der derzeit bestehende Ausnahmezustand mit all seinen Folgen verfassungsrechtlich legitimiert.

„Wir wissen wirklich nicht, was wir zu erwarten haben“, so ein Aktivist am Rande der Verhandlung in Sirnak. Wenn Erdogan das Referendum verliert, wenn also wirklich die Mehrheit mit Nein stimmt, könnte das wieder eine Eskalation und Krieg zur Folge haben, wie vor zwei Jahren. Aber wenn er das Referendum gewinnt, kann er schalten und walten, wie er will.“ Es ist offensichtlich, dass die bisherigen Maßnahmen nicht nur die Opposition ausschalten sollen, sondern auch die Kontrollinstanzen des Staates schwächen und eine Öffentlichkeit über Menschenrechts- und Rechtsverletzungen verhindert werden soll.

Es gibt in der Türkei zahlreiche Versuche, sich für ein Hayir, ein Nein, am 16. April stark zu machen. Und es ist nach heutigem Stand nicht sicher, wie es tatsächlich ausgehen wird, vorausgesetzt, dass es ein freies Referendum ohne Manipulationen gibt. „Noch sind nach Umfragen 17% unentschlossen“, so ein Mitglied der HDP in Izmir. „Es sind aber zumeist Anhänger der AKP oder MHP. Es ist wirklich sehr unsicher, wie es ausgehen wird.“

Gehen oder kämpfen

Einige aus der Opposition, insbesondere jene, gegen die Anklagen vorbereitet wurden oder gegen die Strafverfahren laufen, sind bereits ins Ausland gegangen. Andere bleiben im Land, ratlos, unsicher ob der eigenen und der Zukunft des Landes und mit der Erwartung, dass sie jederzeit verhaftet werden könnten.

Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – werden weitere Aktivitäten vorbereitet. In Izmir soll es am 1. April 2017 ein Festival geben, um das Hayir gegen die Verfassungsänderung zu stärken. Andere Gruppen in Izmir planen für die Tage danach eine Kriegsdienstverweigerungsaktion. Sie alle wissen, unter welchen Gefahren sie agieren und wie wichtig ihnen internationale Unterstützung ist.

Rudi Friedrich

(1) Rudi Friedrich: Reise durch ein Kriegsgebiet, in: GWR 410, Sommer 2016

(2) Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in South-East Turkey, July 2015 to December 2016, February 2017

(3) Amnesty International: Südost-Türkei droht Rückfall in düstere Zeiten der 1990er Jahre

(4) http://voiceofjiyan.com/2016/01/13/turkish-academicians-forpeace-we-will-not-be-a-party-to-this-crime/

(5) Zum Schutz der Personen sind in diesem Artikel keine Namen genannt

(6) Spiegel Online: Asyl-Anträge türkischer Nato-Soldaten - Türkei bedrängt deutsche Behörden. 29.1.2017

(7) Association for Conscientious Objection: Briefing paper regarding the OHCHR of Turkey. 17.02.2017

(8) Auf Dauer im Ausland lebende türkische StaatsbürgerInnen haben die Möglichkeit, die sogenannte Freikaufsregelung in Anspruch zu nehmen und 1.000 € zu zahlen als Ersatz für die Ableistung des Militärdienstes

(9) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pressemitteilung vom 24.01.2006 zur Entscheidung Ülke v. Turkey, application no. 39437/98

(10) Association for Conscientious Objection, ebd.

(11) FAZ: Ein Land im Ausnahmezustand. 4.11.2016

(12) Telepolis: Wodurch unterscheidet sich Erdogans Präsidialdiktatur von anderen existierenden Präsidialsystemen? 12.1.2017

Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V.
Weitere Infos unter www.Connection-eV.org/Stoppt-den-Kreislauf-der-Gewalt-in-der-Tuerkei