es wird ein lächeln sein

Andrea Caffi (1887-1955)

Kosmopolit, Nomade und gewaltfreier Libertärsozialist nach dem Zweiten Weltkrieg

| Lou Marin

Der hier nebenstehende, in deutscher Übersetzung zu lesende Aufsatz von Andrea Caffi, wurde in seiner frühesten Version erstmals im Januar 1946 in der New Yorker Zeitschrift "Politics", die von Dwight Macdonald (1906-1982) herausgegeben wurde, unter dem Titel "A Critique of Violence" veröffentlicht. In erweiterter Form erschien der Text dann in einer gleichnamigen Aufsatzsammlung Caffis, die sein Freund und erklärter Schüler Nicola Chiaromonte (1905-1972) posthum herausgab (1966 auf Italienisch; 1970 auf Englisch). In "Politics" erschienen später weitere Texte von Caffi, die aus dessen Briefwechsel mit Macdonald stammten.

Auch deutsche Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker oder Helmut Rüdiger sahen für die BRD unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keinen Sinn in einer direkten Propaganda für eine gewaltsame, libertäre Revolution. Sie optierten angesichts der zahlenmäßigen Schwäche der übriggebliebenen oder zurückgekehrten AnarchosyndikalistInnen für die Beteiligung an Kommunalparlamenten, am Wiederaufbau der Gemeinden und für den Reformismus. Auf der anderen Seite des Ozeans gab es jedoch Versuche, die direkte gewaltfreie Basisaktion, ja die gewaltfreie Revolution als Konsequenz aus der unmittelbaren Kriegserfahrung zu begründen und darauf hinzuarbeiten.

Dieser Aufsatz von Andrea Caffi beeinflusste Dwight Macdonald und führte u.a. zu dessen Organisation CNVR (Committee for Non-Violent Revolution). Sie wurde im Februar 1946 gegründet, eine Art Umsetzungsversuch dieses Textes also, der im Januar 1946 erschien. Das CNVR bestand bis Ende 1948, als die Erwartung einer gewaltfreien Revolutionsperspektive in den USA zunächst aufgegeben wurde. (1)

Albert Camus war seit 1941 mit Nicola Chiaromonte, dem er bei dessen Flucht aus Europa geholfen hatte, befreundet. Chiaromonte war im US-Exil im Kreis um „Politics“ gelandet und lud Camus nach der Befreiung zu einer dreimonatigen Reise von März bis Mai 1946 in die USA ein. In New York diskutierte Camus mit Macdonald und Chiaromonte über diesen Text Caffis, den wohl Chiaromonte an „Politics“ übermittelt hatte, und weitere Texte aus „Politics“. Daraus entstand unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Paris Camus‘ Schrift „Weder Opfer noch Henker“ (Herbst 1946). In seiner bald darauf folgenden englischen Übersetzung durch Nancy und Dwight Macdonald rezipierte diese Schrift Camus‘ wiederum in den USA der schwarze gewaltfreie Aktivist Bob Moses, der, explizit dadurch inspiriert, einige Jahre später, 1960, das radikal-gewaltfreie, basisdemokratische und bürgerrechtsbewegte SNCC (Student Non-Violent Coordinating Committee) in den Südstaaten der USA mit begründete und prägte.

Der hier abgedruckte, lange vergessene Text von Caffi hat also eine erstaunliche Rezeptionsgeschichte dies- und jenseits des Atlantiks. Wir veröffentlichen ihn in der GWR in deutscher Übersetzung in mehreren Teilen. Dieser erste Teil wurde an zwei Stellen leicht gekürzt: um eine Erörterung der Zivilisationstheorien von Condorcet und Voltaire im 18. Jahrhundert; sowie um einen historischen Exkurs Caffis in die Antike. Die Kürzungen schmälern nicht die Essenz des Textes.

Wer war Andrea Caffi?

Andrea Caffi war ein politisches Phänomen, eine Art Polit-Nomade und Kosmopolit. Er beteiligte sich an wesentlichen Kämpfen des frühen 20. Jahrhunderts, wurde mehrfach verletzt, u.a. von den Nazis gefangen genommen und gefoltert und zog seine hier aufbereiteten theoretischen Schlüsse nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Basis dieses breiten eigenen Erfahrungsschatzes. Sein Freund Chiaromonte nannte ihn ein wandelndes Lexikon. Er war ständig verarmt, oft sogar wohnungslos. Caffi übernachtete manchmal in Bibliotheken, wo er sich abends versteckte und einschließen ließ.

Andrea Caffi wurde in St. Petersburg von italienischen Eltern geboren. Im Alter von 16 Jahren war er bereits Mitorganisator der ersten Typographen-Gewerkschaft in St. Petersburg. Er nahm auf der Seite der Menschewiki an der Revolution von 1905 teil, wurde verhaftet, zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, kam 1907 frei und verbrachte seine Studienjahre dann in Berlin. Er ging später nach Paris, wo er auch insgesamt die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. 1914 finden wir ihn als Freiwilligen der französischen Armee; fast unmittelbar nach Beginn der Kämpfe wurde er bei Verdun verletzt. Er wurde nach Italien versetzt und wieder verletzt, diesmal an der Trentino-Front. 1917 war Caffi mit dem Journalisten Guiseppe Antonio Borgese in Zürich und betrieb dort ein Propagandabüro für die unterdrückten Nationalitäten des Habsburgerreichs. 1919 ging Caffi nach Italien und veröffentlichte dort zusammen mit dem Philanthropen Umberto Zanotti Bianco die Zeitschrift „La Voce di Popoli“ (Die Stimme des Volkes); er schrieb ebenfalls für die Tageszeitung „Corriere della Sera“ (Abendkurier). Letztere schickte ihn als Auslandsberichterstatter ins revolutionäre Russland. In Odessa gab Caffi den Journalistenjob auf. Angesichts des von ihm erlebten Elends und Hungers im russischen Bürgerkrieg beteiligte er sich an der internationalen Hilfsaktion des Norwegers Fridtjof Nansen. Er kritisierte bereits die Bolschewiki, wandte sich aber auch gegen die französisch-englische Militärinterventionen für die „Weißen“ und sah darin einen irreparablen Bruch zwischen Europa und dem neuen Russland. 1923 kehrte Caffi nach Italien zurück. Als Antifaschist gegen Mussolini ging er dort bald in den Untergrund, es drohte ihm die Verhaftung, so dass er 1926 nach Frankreich floh. (2)

Dort bewegte sich Caffi zunächst hauptsächlich im Milieu des italienischen antifaschistischen Exils und war Mitglied der antifaschistischen Bewegung „Giustizia e Libertà“ (Gerechtigkeit und Freiheit) von Carlo Roselli. Mit diesem gab es ab 1932 Konflikte wegen Caffis kritischer Einschätzung Stalins in den Publikationen der Bewegung. Außerdem war Caffi gegen den Rückbezug auf das nationalistische Risorgimento, die italienische nationalstaatliche Einigung von 1815-1870, als Basis des Antifaschismus gegen Mussolini. Caffi formulierte bereits eine grundsätzliche Kritik des Nationalstaats und favorisierte stattdessen eine transnationale europäische Föderation. (3)

1935 trat Caffi dann zusammen mit Chiaromonte aus „Giustizia e Libertà“ aus. Laut Chiaromonte wollte Caffi „die Anti-Mussolini-Propaganda auf das Niveau einer europäischen Bewegung heben und positiv zur Erneuerung der libertären und sozialistischen Tradition beitragen“. (4)

Während der Nazi-Okkupation Frankreichs war Caffi ab Juli 1940 in Toulouse,. Er nahm dort an den Aktivitäten italienischer, spanischer als auch französischer Résistance-Gruppen teil und wurde noch spät im Jahre 1944 von den Nazis verhaftet und gefoltert. Wie durch ein Wunder kam er durch die Entlastungsaussage eines korsischen Kollaborateurs frei, der Caffi unter Obdachlosen in Toulouse gekannt hatte und ihn wohl als harmlos einschätzte. (5) Chiaromonte gibt seinerseits an, dass Caffi bis Februar 1948 in Toulouse geblieben sei. Wie er mit Caffi Verbindung hielt oder nach der Befreiung wieder aufnahm, wie Caffis Text nach New York zu Chiaromonte/Macdonald kam und sich dann der Briefwechsel Caffi-Macdonald entspann, wäre noch zu klären. Als Caffi 1948 nach Paris zurückkam, war Chiaromonte bereits seit einem Jahr wieder aus New York zurück. Albert Camus lernte Caffi, wahrscheinlich wieder über Chiaromonte, in Paris erst persönlich kennen, freundete sich schnell mit ihm an und vermittelte ihm eine Arbeit beim Gallimard-Verlag. In Paris trat Caffi zwischen 1948 und 1950 dem französischen Zweig der „Groupes de Liaison internationale“ (GLI; Internationale Verbindungsgruppen) bei, dem auch Camus angehörte und deren US-Zweig die Macdonalds gegründet hatten. Zusammen mit spanischen AnarchistInnen im französischen Exil machten die GLI Kampagnen für die Freilassung von Gefangenen und für zum Tode Verurteilte in den Gefängnissen Francos und Stalins. (6) In der Nachkriegszeit beteiligte sich Caffi von Frankreich aus an ersten Initiativen der entstehenden gewaltfreien Bewegung Italiens um Aldo Capitini (1899-1968). (7)

Die Aktualität des hier übersetzten Textes ergibt sich m.E. aus annähernd historisch vergleichbaren Situationen: Damals war fast die ganze Welt über viele Jahre hinweg im Krieg, heute sind große Teile der Welt ebenfalls seit vielen Jahren im Krieg. Die Frage war damals wie heute: Wie einen gesellschaftlichen Neuanfang schaffen, der mit den Kriegsdynamiken und einer Kultur der Gewaltanwendung auf allen Seiten bricht? Gerade vor seinem eigenen Erfahrungshintergrund ist die gewaltfrei-libertäre Aufarbeitung und Neuorientierung Caffis ebenso radikal wie bemerkenswert.

Lou Marin

(1) Vgl. Maurice Isserman: "If I Had a Hammer... The Death of the Old Left and Birth of the New Left", Basic Books, New York 1987, S. 136f.

(2) Vgl. Nicola Chiaromonte: "Introduction", in ders. (Hg.): "A Critique of Violence. Writings by Andrea Caffi", The Bobbs-Merrill Company, Indianapolis/Kansas City/New York 1970, S. IX-XVI.

(3) Vgl. hierzu die italienische antifaschistische Website: www.storiaxxisecolo.it/antifascismo/biografie antifascisti103.html

(4) Vgl. Chiaromonte, Anm. 2, a.a.O., S. XIX.

(5) Chiaromonte, Anm. 4 sowie antifaschistische Website, Anm. 3.

(6) Vgl. Alessandro Bresolin: "Le choix des camarades: Camus, Chiaromonte, Caffi, Silone, in: Le Don de la Liberté. Les relations d'Albert Camus avec les libertaires, Loumarin 2009, S. 25-37, besonders S. 30.

(7) Siehe antifaschistische Website, Anm. 3.