Meine These ist die: Eine „Bewegung“, die sich zum Ziel setzt, den Menschen Brot, Freiheit und Frieden zu sichern, und die daher beabsichtigt, die Lohnarbeit, die Unterordnung der Gesellschaft unter den Zwangsapparat des Staates (oder von Groß-Staaten), die Trennung der Menschen in Klassen ebenso wie in ausländische und potentiell feindliche Nationen abzuschaffen, muss damit aufhören, die unterschiedlichen Mittel der organisierten Gewalt als nützlich oder gar realisierbar zu betrachten. Diese Mittel sind: a) der bewaffnete Aufstand; b) der Bürgerkrieg; c) der internationale Krieg (sogar gegen Hitler – oder Stalin); d) ein diktatorisches Regime und die Anwendung des Terrors, um die „neue Ordnung“ zu konsolidieren.
Mein erstes Argument gründet auf Erfahrung und den normalen Menschenverstand. Es besteht darin, dass diese Mittel ineffizient sind und in Wirklichkeit zu Ergebnissen führen, die den beabsichtigten direkt entgegengesetzt sind. Diesem Argument – das eine „Nützlichkeitserwägung“ ist, wenn man so will – können einige andere hinzugefügt werden: Darunter sind Argumente, die durch Analysen und Gefühlslagen bestätigt worden sind und die sich mit bemerkenswerter Einhelligkeit entwickelt haben, seit der Mensch überhaupt über die menschlichen Lebensbedingungen nachzudenken begann. Andere Argumente sind durch die gegenwärtige, bisher noch nie dagewesene Situation bedingt, in der sich die zwei Milliarden BewohnerInnen dieses Planeten Erde in der Mitte des 20. Jahrhundert befinden.
Abscheu vor oder Schrecken gegenüber der Gewalt sind vielleicht so alt wie die Gewalt selbst, während die Glorifizierung der Gewalt sicherlich ein eher jüngeres Produkt von „Gemütslagen“ ist, das wir mit ernsthaften Gründen als künstlich oder gar krankhaft betrachten müssen. Ich glaube, dass Simone Weil recht hat, wenn sie einen solchen Schrecken gegenüber der Gewalt bereits in den Tiefen der Ilias [des Homer] und den griechischen Tragödien erkennt. Der Buddhismus mit seiner pazifistischen Botschaft hätte es nicht zu einer solch großen Zahl an AnhängerInnen gebracht, wenn es nicht eine vertrauliche Entsprechung zwischen seinen Grundsätzen und einem weit verbreiteten Gefühl in der Bevölkerung gegeben hätte. Man kann mit guten Gründen annehmen, dass während des neolithischen Zeitalters, das wahrscheinlich mehr als einhundert Jahrhunderte andauerte, ein stabiler Friede zwischen seinen sesshaft gewordenen Gemeinschaften geherrscht hat. Grausame Invasoren, die mit bronzenen, später eisernen Waffen ausgerüstet waren, folgten in darauf folgenden Zeitaltern, um die Welt mit Massakern und militärischen Heldentaten zu füllen. Sie verbreiteten jene blutige Vergiftung, dessen beispielhaftester Wahnsinn von den syrischen Königen und den mongolischen Khans verkörpert wurde.
Das Fieber der Gewalt
Während des letzten, langen Jahrhunderts, von der Massenaushebung Kriegsdienstpflichtiger im Jahr II [entspricht dem republikanischen Kalender der Französischen Revolution und umfasst die Jahre 1793 und 1794 des gregorianischen Kalenders; d.Ü.] bis zu Hitlers SS, den Marschällen Stalins und den Generälen nach dem Modell des US-Generals Patton hat der westliche Teil der Menschheit (von Japan und dem „innovativen, kriegsähnlichen“ China einmal ganz abgesehen) dieses Fieber der Gewalt in all seinen Formen erfahren: als patriotisches Hochgefühl, als revolutionäre Romantik, als die „Last des Weißen Mannes“ [ein prokoloniales Gedicht Rudyard Kiplings, gemeint ist der westliche Kolonialismus; d.Ü.], als Glorifizierung des jenseits von Gut und Böse stehenden Übermenschen, als Reflexionen „Über die Gewalt“ von [Georges] Sorel, als jakobinischen, faschistischen und bolschewistischen Terror usw.
Als der Pazifismus, der im 18. Jahrhundert scheinbar viel an Terrain gewonnen hatte, mit dieser aus den Tiefen hervorsteigenden Grundströmung konfrontiert wurde, ließ er sich nicht nur zurückdrängen, sondern hat sich einer Art hündischer Mimikry ergeben und gerade auf jenem Terrain nach Auswegen gesucht (ob sie nun durch die Vorsehung bestimmt oder „dialektischer“ Natur waren), wo sein Gegner von Sieg zu Sieg marschierte – oder eher: von Katastrophe zu Katastrophe. Der rationalistische Pazifismus der Liberalen machte zu viele Zugeständnisse, nicht nur an den Patriotismus, sondern ebenso an den politischen Opportunismus. Der Pazifismus wiederum eines Robert Owen, eines Saint-Simon oder eines Proudhon, der vor allem gegen den Gedanken der „revolutionären Gewalt“ gerichtet war, der Evangelismus der Quäker und später der von Leo Tolstoi wurden bewundert oder verlacht als die Träume naiver Geister. Die auf Vernunftgründen basierenden Hoffnungen, die von den großen Massen der Menschen geteilt wurden, beinhalteten die Idee eines „letzten Gefechts“, nach welchem die Menschheit sich selbst in der Internationale vereinigen würde; oder auch eines „letzten Kriegs“ (wie etwa dem Krieg von 1914!); oder sogar – und dabei noch mechanistischer denkend – des abschreckenden Effekts mörderischer Waffen, deren Anwendung so zerstörerisch sei, dass es niemand wagen würde, sie einzusetzen. Jede Anstrengung für Frieden etwa eines [Jean] Jaurès [dem Anführer der französischen Sozialisten vor dem Ersten Weltkrieg; d.Ü.] wurde grundsätzlich dadurch untergraben, dass er den Begriff einer „nationalen Souveränität“ akzeptierte, die um jeden Preis verteidigt werden musste. Dem Antimilitarismus der französischen Anarchisten und Syndikalisten (stark befördert durch den Gedanken eines Generalstreiks der mobilisierten Soldaten) ermangelte es an moralischer Glaubwürdigkeit, weil sie zwar den Krieg zwischen Nationen zurückwiesen, zugleich aber die Anwendung von Gewalt im Klassenkampf propagierten.
Jede Gewalt ist antisozial
Lassen Sie uns nun ein wenig näher die Gründe für die Aversionen des „kultivierten“ Menschen gegen Gewalt untersuchen. (…)
Es geht dabei um „sittliche Normen“, „Kultur“, „Menschheit“ – und nicht metaphysische Prinzipien und religiöse Vorschriften. Für die Athener, die ihren Sklaven „menschlich“ behandelten bis zur englischen Lady, die ihren Kutscher rügte, wenn er seine Pferde peitschte, bedeutete Höflichkeit und Verfeinerung der Sitten im Wesentlichen den Verzicht auf Gewalt. Aber im Namen welcher Zielsetzung? Wenn es im Namen des „Selbstrespekts“ geschieht – dann ist das unmöglich ohne den Respekt für andere. Wenn es im Namen der Gesellschaftsfähigkeit [im Englischen: sociability; überhaupt der zentrale theoretische Begriff bei Caffi; d.Ü.] geschieht, die sich von einer Person zur nächsten verbreitet, dann endet das logischerweise bei der Miteinbeziehung aller lebenden Wesen. An der Oberfläche ist das eine Angelegenheit guter Manieren und „ziviler Sitten“; in tiefgründigerem Sinne geht es aber um die Wahrnehmung von Gesellschaft als zugleich einer Tatsache wie einem Wert. Und deshalb geht es unvermeidlich um die Gerechtigkeit in den sozialen Verhältnissen – ein Gedanke, der, das muss man zugeben, grundlegender ist als jedes religiöse oder moralische Dogma.
Aber Gesellschaftsfähigkeit und Gerechtigkeit existieren nicht ohne den Wunsch nach dem Glück aller, ohne den ich selbst nicht glücklich sein kann (ob dieser Wunsch nun utilitaristisch, als Gedanke [Jeremy] Benthams geäußert oder von Konzepten göttlicher Gnade inspiriert wird, hat hier nur wenig Bedeutung). Wie sagte Saint-Just: „Diese Idee des Glücks aller ist so neu in Europa“ – und fing dann gleich damit an, die Köpfe der Menschen zu durchtrennen, um die Verwirklichung dieses Glücks zu beschleunigen. Wir müssen dagegen darauf bestehen: Gerechtigkeit bedingt Gleichheit; Glück für alle schließt alle Formen von Unterdrückung aus. Es gibt also einen unüberwindbaren Konflikt zwischen dem Streben nach Gesellschaftsfähigkeit und dem Willen zur Macht. Jede Gewalt ist, qua Definition, antisozial.
Aber die antisoziale Barbarei existiert in uns selbst, im Instinkt des Eigentums, im Hass, in unserer eigenen Grausamkeit, in Angst und Unwissenheit – und die antisoziale Barbarei existiert auch in unserer Umwelt (weil nämlich Zivilität, Höflichkeit, kultivierte Gesellschaftsfähigkeit bis heute das Privileg einer Minderheit von Personen in einer begrenzten Anzahl von Räumen geblieben ist). Darum dominierte in diesem ganzen letzten Jahrtausend fast immer die Barbarei, besonders eine Barbarei, die von einer sehr dünnen Schicht von „Zivilität“ verdeckt worden ist, um einen Begriff von Abbé Gerard [aus dem 19. Jahrhundert Frankreichs; d.Ü.] aufzugreifen. Aber die Antinomie existiert bis heute. Immer wieder haben Menschen ihre Vernunftgründe geopfert, um zu überleben und ihre nackte Existenz zu bewahren. Über die Jahrhunderte hinweg war dieser Kompromiss mehr oder weniger erfolgreich, denn eine gewisse Anzahl ernsthafter Gegner der Gewalt konnte überleben, weil sie entweder von Zeit zu Zeit selbst der Gewalt oder gewaltsamen Befehlen nachgegeben haben. Aber wo sind wir damit inzwischen angekommen? (…)
Kann Gewalt durch Gewalt besiegt werden?
Während des 18. und während eines Großteils des 19. Jahrhunderts wurde die Gewalt, trotz der Einführung der allgemeinen Kriegsdienstpflicht durch die Französische Revolution, beschränkt auf außergewöhnliche Situationen oder begrenzte Räume: Im Allgemeinen war sie die Angelegenheit von berufsmäßig Gewalt Ausübenden, und viele glaubten, diese Praktiken würden tendenziell seltener werden und die Gewalt würde „humanisiert“. Erst seit 1914 ist die Welt in eine Epoche der totalen, wahllosen und faktisch ununterbrochenen Gewaltanwendung eingetreten. Wir wissen nur zu gut, was aus der Zivilisation, aus sittlichen Normen und aus Höflichkeit unter diesen Bedingungen geworden ist. Ob man nun an irgendeine Art von Religion glaubt oder nicht – seien es auch nur die „Religion des Fortschritts“ oder die minimalste Form des Humanismus -, das von Dwight Macdonald formulierte Problem ist das Problem aller geworden: Entweder wir befreien uns selbst (wir und das gesamte Erbe unserer Kultur mit ihren Konzepten von Zivilität, Gerechtigkeit und Glück aller, die unseren Lebensentwürfen einen Sinn vermittelt haben) vom Apparat der gewaltsamen Zwangsausübung, der nun die soziale Existenz anscheinend auf das Niveau eines Zustands permanenter Angst zurückgeworfen hat, der nach [Thomas] Hobbes der Ausbildung einer organisierten Gesellschaft vorausging – oder wir werden selbst zerrissen.
Kann Gewalt durch Gewalt besiegt werden? Hinter dieser Frage verbergen sich in Wirklichkeit zwei ganz unterschiedliche Probleme. Das erste Problem ist ein praktisches: Welche Wahrscheinlichkeit gibt es, dass eine rebellische Organisation, dass freie Menschen, die sich über die zu erringenden Ziele im Klaren sind, die Waffen, die Ausrüstung, die technischen Fertigkeiten erwerben, die nötig sind, um die gegenwärtig Herrschenden der Welt mit Aussicht auf eine vernünftige Erfolgschance bekämpfen zu können? Aber die entscheidende Frage betrifft das zweite Problem: Selbst wenn wir unterstellen, irgendjemand könne die Massen so organisieren (seien es Rebellen oder Menschen, die plötzlich von einem extrem aufgeklärten Ideal der Gesellschaft und der Zivilisation überzeugt sind), dass sie die Atombombe ihren gegenwärtigen Eignern entziehen und die Schlacht beginnen können – ist es dann wirklich glaubhaft, dass jemand eine Regression in barbarische Haltungen verhindern kann, und seien die Umstände noch so „revolutionär“, wie man sie sich nur wünschen kann? Können dann jene Exzesse des Willens zur Macht verhindert werden; letztlich die Aufspaltung in fügsame Herden und gebieterische Herrscher, welche die organisierte Anwendung von Gewalt unaufhaltsam hervorbringt? Wenn sich die Lage so darstellen sollte wie in Frankreich nach dem Thermidor [elfter Monat des republikanischen Kalenders der Französischen Revolution, meist im Sinne der Absetzung Robespierres im Juli 1794, also nach der Herrschaft des Terrors; d.Ü.], in den Jahren 1918 und 1919 überall in Europa, oder wie unter Stalin in Russland, wäre es dann nicht legitim, sich die Frage zu stellen: „Warum wurden all diese Ströme von Blut vergossen? Diese Unzahl von jungen Menschenleben, welchem blutigen Götzen wurden sie geopfert?“ Und welche Antwort kann jemand auf solche Fragen geben, der dem Kult der Gewalt und des heroischen Opfers nicht frönt?
Die Beispiele Robespierre/Saint-Just und Lenin/Trotzki
Wer könnte sich je mehr der Sache des Volkes hingegeben haben, dem Ziel der Selbstregierung der Menschheit im Einklang mit den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Robespierre und Saint-Just? Ganz sicher verfolgte niemand mit solch hartnäckigem Nachdruck den Kampf für die Vereinigung der Menschheit in einer Föderation sozialistischer Kollektivkörperschaften wie Lenin und Trotzki. Und doch erstickten Robespierre und Saint-Just jede spontane Erhebung der Pariser Bevölkerung und demoralisierten sie mit dem Terror und der Reduzierung der Clubs zu offiziellen Treffen, die nur noch von verängstigten Bürokraten besucht wurden. Robespierre und Saint-Just waren es auch, die Frankreich zentralisierten und militarisierten (was die Konsolidierung einer neuen herrschenden Kaste von Bürokraten, Generälen und Großhändlern für den Staat bedeutete), so dass schließlich das Land reif wurde für Napoleons Despotismus und die Oligarchie der Notablen. Ganz genauso waren es die zwei großen bolschewistischen Anführer, welche die Sowjets unterdrückten, welche die Herrschaft der Geheimpolizei Tscheka schufen, welche die Arbeiter in eine polizeilich-hierarchische Form von Staatsgewerkschaften zwangen, welche die verschiedenartigsten willkürlichen Machtpositionen an sich rissen und in die Wirtschaft erstickende Kontrollen einführten – kurz: die den Boden für die Autokratie Stalins bereiteten.
Die Jakobiner und die Bolschewiki waren weder Verräter noch Feiglinge, doch sie erreichten diese Ergebnisse durch die Verfolgung einer Logik der revolutionären Gewalt. Und in der Art und Weise, wie sie diese Gewalt anwandten; in den Aktionen, zu denen sie durch diese Logik geführt wurden, offenbarten sie ihre grundlegend „antisoziale“ Mentalität.
Die französischen Jakobiner und die russischen Bolschewiki betrachteten die Gesellschaft ausschließlich in Begriffen der Etablierung bestimmter Machtverhältnisse, die zum Ziel hatten, die Regierung und eine Planwirtschaft im Namen des Volkes oder des Proletariats zu „organisieren“. Dabei waren für sie jene sittlichen Normen, jene Gesellschaftsfähigkeit, jenes Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach Glück, die den „unmittelbaren Inhalt“ der Existenz und die wirkliche Substanz der Freiheit der Massen in einer wahren „Gesellschaft“ konstituieren, nur Nebenprodukte (oder ein „Überbau“).
Andrea Caffi
(Fortsetzung folgt)
Aus: Nicola Chiaromonte (Hg.): "A Critique of Violence. Writings by Andrea Caffi", Bobbs-Merrill Company, Indianapolis/Kansas City/New York 1970, hier S. 35-40.
Übersetzung, leichte Kürzung um zwei weit zurückliegende historische Beispiele, versehen mit Zwischenüberschriften: Lou Marin.