Es ist richtig, dass im Postanarchismus die Vorstellung einer "Natur des Menschen" als Grundlage oder Bezugspunkt für emanzipatorische Politik in der Regel abgelehnt wird. (1) Das bedeutet allerdings nicht, dass physische Existenzweisen und Körperlichkeit geleugnet oder für irrelevant erklärt würden. Ein thesenhafter Klärungsversuch als Erwiderung auf den Text "Zurück zur Natur des Menschen" von Joseph Steinbeiß in der Graswurzelrevolution Nr. 417 (März 2017).
1. Die Natur des Menschen ist (und bleibt) unbekannt
Gemeinhin ist mit der „Natur des Menschen“ ja so etwas wie sein Wesen gemeint, eine Essenz, die man nicht sieht oder direkt spürt, die aber irgendwie im Hintergrund zu wirken scheint. Im Vordergrund spielt dann Kultur und Politik. Natur wird als unveränderlich gedacht, Kultur als dynamisch. Die Natur ist in dieser Vorstellung auch universell (alle Menschen teilen sie), Kultur partikular (also je nach Situation unterschiedlich). Allein wegen dieser Vereinheitlichung, der unterstellten Vorstellung eines von allen gleichermaßen geteilten Pools an – ja, was überhaupt? Empfindungen, Bedürfnissen, Denkweisen? -, sind viele (u.a. Postanarchist*innen) der „Natur des Menschen“ gegenüber skeptisch geworden. Darüber hinaus stellt sich die Frage: Wie kommt man diesem Wesen, dem ontologischen Status (der „Seinsweise“), auf die Spur? Letztlich gelingt dies nur durch Philosophie und andere Kulturtechniken. Was die „Natur des Menschen“ ist, bleibt also bloß Spekulation. Man kann außer gut begründeten Annahmen nichts über sie wissen. Deshalb haben die modernen Sozial- und Kulturwissenschaften (mit Ausnahme der Anthropologie) die Frage nach der „Natur des Menschen“ auch für relativ irrelevant erklärt.
Weil man es einfach nicht weiß, sondern nur spekulieren kann, wie etwas („der Mensch“) wirklich ist, interessiert sie – und mit ihnen den Postanarchismus – eher, wie etwas („der Mensch“) gemacht wird: Sie fragen bzw. er fragt also nach Produktionsverhältnissen (Marx), nach dem Werden (Gilles Deleuze), nach Entstehungsweisen (also nach „Genealogien“ im Sinne Michel Foucaults).
2. Aus der Natur des Menschen folgt nichts notwendiger Weise
Jede Annahme zur „Natur des Menschen“ ist demnach auch nichts anderes als eine legitimatorische Erzählung: sie soll bestimmte Praktiken rechtfertigen. Als mit der Aufklärung Gott als letzte Begründung für Ereignisse wie Verhaltensweisen wegfiel, stellten sich die Menschen selbst an seine Stelle. Verschiedene Rechtfertigungen gerieten dabei aber auch in Konflikt miteinander, sie wurden also relativ beliebig: Von Jean-Jacques Rousseau über Kropotkin bis hin zu Steinbeiß meinten viele emanzipatorisch Gesinnte aus der „Natur des Menschen“ bestimmte politische Maßnahmen und kulturelle Regeln als „natürlich“ ableiten und andere, etwa staatliche, als „unnatürlich“ brandmarken zu können.
Dagegen spricht vor allem zweierlei. Erstens ist es illusorisch zu glauben, die „Natur des Menschen“ würde Jahrtausende langes und sehr dynamisches gesellschaftliches Leben unbeschadet überstehen. Anders gesagt: So angeblich natürliche Empfindungen und Bedürfnisse wie Ekel und Angst, Scham und Schmerz, Intimität und Feiern, sind allesamt hochgradig kulturell geprägt und überformt. Hier werden sie anders gelebt als dort, heute anders beschrieben als früher etc. (Warum ekeln wir uns vor Ratten und nicht vor Eichhörnchen? Warum empfinden wir Furzen in der Öffentlichkeit als unhöflich? etc.)
Und darüber hinaus kann zweitens jede selbst noch so universell konzipierte Annahme zur „Natur des Menschen“ verschiedene Effekte haben: Sollte „der Mensch“ von „Natur aus gut“ sein, und nur durch den Staat gehindert und unterdrückt werden, das auch auszuleben – wie viele Anarchist*innen meinen -, was würde das für welche Situation bedeuten? Es gibt wohl doch sehr verschiedene Ausdrucksweisen dessen, was als urtümliche moralische Qualität („Gutsein“) erscheinen kann.
3. Die Natur des Menschen ist etwas anderes als seine physische Existenz
Es kommt in dieser Frage des Verhältnisses von Natur und Kultur dann häufig zu einer Bedeutungsverschiebung des Naturbegriffes, auch bei Steinbeiß. Plötzlich ist sie, die Natur, nicht mehr das „Wesen“ des Menschen, sondern seine physische Existenz, etwa in Form von Körperlichkeit und Bedürfnissen und Begehren. So hofft ja auch Steinbeiß (wie viele vor ihm) mit dem „Zurück zur Natur des Menschen“ auf irgendwie bessere politische Regulierungen nach dem Motto: Weil alle natürlicher Weise Hunger haben, sollte es doch einsichtig sein, dass Lebensmittel gerecht verteilt werden müssen. Aber aus der einfachen Tatsache eines „natürlichen“ Bedürfnisses (Hunger) folgt politisch notwendig rein gar nichts (etwa eine bestimmte Produktion und Verteilung von Lebensmitteln). Die Bewusstwerdung des Zusammenhangs von Hunger und Lebensmittelverteilung ist im Gegenteil ein kultureller Vorgang par excellence (und auch ohne Bezug auf die Natur des Menschen möglich), und die Konsequenzen, die daraus gezogen werden (etwa kontrollierte Produktion und gerechte Verteilung) sind durch und durch politisch. Sich bei der Begründung dafür auf die Natur zu berufen, bringt auch – anders als Steinbeiß meint – keine Vorteile, weil jede/r sich auf diese Natur und die vermeintlich logische Folgerung berufen kann: „Zurück zur Natur“ kann hier genauso heißen, das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ zur Geltung kommen zu lassen, was ja neoliberale Vordenker wie Friedrich August von Hayek auch vorgeführt haben. Gegen diesen Sozialdarwinismus war Kropotkin mit der Idee der Gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt zwar angetreten. Dabei wurde aber nur die eine Legitimation gegen die andere gehalten. Überzeugend ist das nicht.
Die kritischen Sozial- und Kulturwissenschaften sind demgegenüber – keineswegs bloß in ihrer postanarchistischen Variante – immer auch Ent- oder Denaturalisierungsprojekte: Es geht ihnen darum, aufzuzeigen, dass die sozialen Verhältnisse nicht naturgegeben so sind, wie sie sind, sondern von Menschen gemacht wurden. Nur so können sie auch als veränderbar beschrieben werden.
Und was die physische Existenz betrifft, so wird sie im Postanarchismus keinesfalls geleugnet oder für unwichtig gehalten. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler etwa gilt berechtigterweise als Bezugsquelle für postanarchistisches Denken. Sie bezieht sich durchaus auf Körper. Als Reaktion auf die Vorwürfe, sie würde mit ihrer These des Körpers als „diskursiver Effekt“ leibliche Existenzen leugnen, veröffentlichte sie schon 1993 ein Buch mit dem (nicht ironischen) Titel „Körper von Gewicht“ („Bodies that matter“). Darin beschäftigt sie sich – entsprechend des Blicks auf Entstehungsformen und Produktionsverhältnisse – mit „Materialisierungen“, also mit der Frage, wie Körper zu dem werden, was sie sind. (Es gibt hier also auch eine 25jährige Debatte, auf die Steinbeiß mit keinem Wort verweist.) Materialisierungen entstehen demnach unmöglich außerhalb gesellschaftlicher Normen. Anders gesagt: Kultur ist immer schon da, wenn wir uns mit Natur beschäftigen. Die (postanarchistische) Beschäftigung mit Kultur statt Natur kann also durchaus auch materialistisch genannt werden, eben weil sie Materialisierungen und ihre Produktionsverhältnisse in den Fokus rückt.
Und letztlich ist es auch eine Errungenschaft gegenüber politisch rechten – rassistischen und sexistischen – Konzepten, physische Existenz und soziale Praktiken als unabhängig voneinander zu betrachten: Gebärfähigkeit bringt eben nicht besondere Fähigkeiten oder gar die Notwendigkeit zur Kinderbetreuung mit hervor, auch hat Hautfarbe nichts mit intellektuellen oder musikalischen Potenzialen zu tun.
4. Die Natur des Menschen ist auch etwas anderes als der Mensch in der (oder als Teil der) Natur
Auf die Verschiebung von Wesen zu Körper folgt dann oft, ebenso im Text von Steinbeiß, eine weitere Bedeutungsverschiebung des Naturbegriffes: Nun ist weder „Wesen“, noch „Körper“, sondern „Umwelt“ damit gemeint. Wobei durchaus unterstellt wird, alle drei Ebenen seien direkt miteinander verknüpft.
Niemand behauptet, dass der Mensch nicht Teil der Natur ist, wenn damit die physischen Existenzbedingungen – von der Luft zum Atmen angefangen – gemeint sind. Ökologisch, aber auch sozial und kulturell ist kein Mensch unabhängig überlebensfähig. Das zu behaupten, wäre empirisch wie theoretisch einfach Unsinn. Deshalb behaupten auch PostanarchistInnen das nicht. Etwas anderes aber ist es, zu fordern, die „Menschen (wieder) als Teile natürlicher Zyklen zu begreifen und so der ökologischen Katastrophe besser entgegenzuwirken, die das gesamte Leben auf diesem Planeten bedroht“. Diese Herangehensweise, behauptet Steinbeiß, „wäre, schlicht und ergreifend, brauchbarer als ihr postmoderner Konterpart“.
Vor allem der letzten Behauptung, der politischen Schlussfolgerung, ist zu widersprechen. Was auch immer „natürliche Zyklen“ sein sollen, deren Teil die Menschen sind – aus der Anerkennung dieser Teilhabe muss nicht notwendiger Weise politisch etwas folgen, und schon gar nicht unbedingt Gutes. Anders gesagt: Selbst wenn ich sehe, dass ich Teil des Kosmos bin – was ja auch nur durch Reflexion, also eine Kulturtechnik zu sehen ist -, kann ich mich dennoch wie eine ökologische Drecksau verhalten, und zwar einfach, weil ich über (wie auch immer ökonomisch und kulturell eingeschränkte) Entscheidungsgewalt verfüge. Auch Traditionsanarchist*innen fliegen mal mit dem Flugzeug in den Urlaub und essen Fleisch, obwohl sie um ihr Teil-der-Welt-Sein bestens Bescheid wissen.
Zwischen einem angenommenen „Wesen des Menschen“ und den (im Übrigen auch sehr verschiedenen) körperlichen Existenzweisen und der Frage nach der Praxis innerhalb von Umweltbedingungen lassen sich sicherlich irgendwelche Zusammenhänge konstruieren. Aber eindeutig, kausal und logisch eindimensional sind sie wohl nie.
Abschließend also kurz und polemisch: Der Rückbezug auf die „Natur des Menschen“ bringt für emanzipatorische Politik überhaupt keine Vorteile und sollte sogar tunlichst gemieden werden. Er wird für die Rechtfertigung emanzipatorischer Vorstellungen und Praxis nicht gebraucht. Denn über Sinn und Bedeutungen von Ereignissen und Empfindungsweisen wird in sozialen und kulturellen Kämpfen entschieden – letztlich ist das Kultur: Praktiken und Prozesse von Sinn- und Bedeutungsgebung -, sie liegen nicht irgendwo verborgen im Wald herum.
Oskar Lubin
(1) Zum Postanarchismus vgl. Oskar Lubin: "Postanarchismus. Der klassische Anarchismus ist nicht passé, bedarf aber angesichts theoretischer Entwicklungen und veränderter Verhältnisse einiger Revisionen. Eine Skizze." In: Graswurzelrevolution Nr. 318, April 2007.