Am 7. Mai 2017 entscheidet sich, ob die Faschistin Marine Le Pen oder der neoliberale Demokrat Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnt. In der ersten Runde am 23. April bekamen Macron 23,9 und Le Pen 21,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Beide kommen in die Stichwahl. Damit steht fest, dass der Kriegszwangsdienst in Frankreich wieder eingeführt wird. Die folgende Analyse entstand Mitte April und beleuchtet die PräsidentschaftskandidatInnen aus antimilitaristischer Sicht. (GWR-Red.)
Drei der vier aussichtsreichen PräsidentschaftskandidatInnen haben eins gemeinsam: Sie wollen zu obligatorischen Kriegs- und Zwangsdiensten zurückkehren.
Aus anarchistischer und antimilitaristischer Sicht ist das eine gefährliche Tendenz.
Die faschistische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, der aussichtsreiche Kandidat der politischen „Mitte“, Emmanuel Macron, aber auch der [am 23.4. mit 19,6 % ausgeschiedene] links von der Parti Socialiste stehende Jean-Luc Mélanchon schlagen Varianten einer neuen Zwangs- und Militärdienstpflicht für volljährige Männer und Frauen vor. (1)
Früher als in Deutschland war in Frankreich im Zuge der Umstrukturierung der Armee um die Jahrhundertwende zum 21. Jahrhundert die Kriegsdienstpflicht – im bürgerlichen, sozialdemokratischen und leninistischen Diskurs euphemistisch „Wehrpflicht“ genannt – ausgesetzt worden. 1997 war der Zwangsmilitärdienst ausgesetzt worden, 2001 hatte ihn der konservative Präsident Jacques Chirac per Dekret abgeschafft.
Nun wollen ihn die aussichtsreichsten KandidatInnen der Präsidentschaftswahlen wieder einführen. Die Meinungspropaganda hat seit einiger Zeit das Terrain erschlossen: Laut einer Umfrage der Tageszeitung Direct Matin vom November 2016 befürworteten den zwangsweisen Kriegsdienst 74 Prozent der Befragten.
Doch noch scheinen die KandidatInnen Vorsicht walten zu lassen. Sie propagieren in ihren Programmen eine Dauer von nur wenigen Monaten und einen Mix von militärischen und zivilen Zwangsdiensten.
Damit diese Re-Militarisierung modern und aufgeklärt wirkt, wird der neue Kriegsdienstzwang immer mit explizit vorgesehenem Recht auf individuelle Kriegsdienstverweigerung und für beide Geschlechter gefordert.
Innenpolitische Funktion: Schule der Nation und der Republik
Die kürzeste Form der Wiedereinführung des Zangsmilitärdienstes plant Macron.
Dieser Kandidat der „Mitte“ will eine Art „Blitz“-Kriegsdienst von einem Monat für alle Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren einführen. Der moderne, rein innenpolitische Zweck dieser Rückkehr des Kriegsdienstes steht bei dessen Begründung im Vordergrund. Weil alle Jugendlichen als potentielle TerroristInnen gesehen werden, soll nun laut Macron das Militär zur „Schule der Staatsbürgerlichkeit“ werden. „Im Kontext, in dem wir gegenwärtig leben, dem einer Gesellschaft mit vielen Rissen, dem der terroristischen Bedrohung, ist es wichtig, eine Form der nationalen Begegnung wiederzufinden; einen Ort, der alle Menschen vereint und vermischt.“ (2)
Die hochgradig sozial und zunehmend komunitär-identitär gespaltene Gesellschaft Frankreichs, in der sich viele aus der Immigration zusammensetzende Gemeinschaften, selbst der zweiten und dritten Generation, auf sich selbst zurückziehen, soll also nicht emanzipativ umgewälzt werden, sondern dem Militär und der Ausbildung an der Waffe soll nunmehr die Aufgabe zufallen, für eine „Vereinigung“ und „Vermischung“ zu sorgen, zu der die staatlich-kapitalistisch verfasste Gesellschaft nicht fähig ist. Die Ersatzfunktion des Militärs für ganz anders gelagerte Probleme gleichen den Vorstößen deutscher, französischer und italienischer MilitärpolitikerInnen und -strategen nach dem Brexit in Richtung einer Europäischen Armee, welche die auseinanderdriftenden Tendenzen der Europäischen Union und deren Probleme in den Griff kriegen soll. (3)
Dass Marine Le Pen vom Front National eine militärische Ausbildung für einen Teil der nach ihrer Vorstellung zwangsdienstpflichtigen Volljährigen vorschlägt und Aufgaben des „Zivilschutzes“ für den anderen Teil, kann nicht überraschen. Kriegs- und Zwangsdienste gehören traditionell zum Programm faschistischer Parteien.
Für Le Pen steht dabei ideologisch „die Entwicklung des Patriotismus bei den Jugendlichen“ (4) im Vordergrund. Eher schon überraschend, dass ihr zufolge dieser Zwangsdienst nur drei Monate dauern soll. Aber das kann auch als ein Einstieg gewertet werden, der später unter ihrer potentiellen Präsidentschaft zeitlich ausgedehnt werden kann.
Besonders skandalös erscheint, dass gerade Jean-Luc Mélanchon, der angeblich linkssozialistische, jedenfalls links der Parti Socialiste stehende Kandidat seiner eigenen Organisation „La France insoumise“ (Widerspenstiges Frankreich), der in den letzten Wochen vor der Wahl einen Umfrage-Höhenflug erlebte, ebenfalls auf den Zug der Zwangs- und Kriegsdienste für junge Erwachsene aufgesprungen ist. Genauer besehen ist auch dies leider wenig überraschend, befindet er sich damit doch in einer breiten, langen linken Tradition, in der etwa linke Sozialdemokraten wie Karl Liebknecht die Kriegsdienstpflicht noch immer historisch als Demokratisierung eines aristokratisch oder bourgeois dominierten „stehenden Heers“ befürwortet haben. Liebknecht: „Das sozialdemokratische Programm fordert: ‚Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr anstelle der stehenden Heere‘.“ (5)
Dies hat der bürgerlich-kapitalistische Staat gerne aufgenommen und, etwa für die BRD zurechtgestutzt als Ideologie des „Bürgers in Uniform“, bereits vor Jahrzehnten Eingang in die ideologische Legitimation des Zwangskriegsdienstes der Bundeswehr gefunden – bis zu dessen Suspendierung 2011; plötzlich konnte „der Bürger“ auch wieder ganz einfach so, ohne Uniform existieren. Aber auch linke RevolutionärInnen haben oft genug bei ihren Solidaritätskampagnen und Reiseberichten den Deckmantel des Schweigens ausgebreitet oder es gar offensiv begrüßt, wenn von ihnen unterstützte militärische Formationen Zwangskriegsdienste einführten oder Zwangsrekrutierungen durchführten, wie etwa die „Volks“-Milizen der YPG (Partei der demokratischen Union) in Rojava (Syrisch-Kurdistan). Dort wurde 2014 ein „Gesetz über die Wehrpflicht“ verabschiedet, nachdem „jede Familie eines seiner männlichen Mitglieder zwischen 18 und 30 Jahren für die YPG abstellt“ (6), und im Jahr 2015 Zwangsrekrutierungen unter assyrischen und armenischen Minderheiten durchgeführt (7).
Mélanchon nutzt nun diese lange Tradition linker Widersprüchlichkeit, Zwangs- und Kriegsdienste nur dann zu kritisieren, wenn sie von feindlichen Formationen praktiziert werden oder den eigenen Interessen widersprechen, als Resonanzrahmen, um für Frankreich einen „obligatorischen Bürgerdienst“ von neun Monaten Länge für junge Erwachsene bis zu 25 Jahren einzufordern. Dieser Dienst beinhaltet nach Mélanchons Wahlprogramm in allen Varianten eine anfängliche Militärausbildung für alle (inclusive eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung), bevor sich der Bürgerdienst dann aufteilt in „bevölkerungssichernde“ Aufgabenbereiche (ein Zugeständnis an den sicherheitspolitischen Wahn), Dienste bei der Feuerwehr oder umweltschützende Tätigkeiten. Auf freiwilliger Basis können die Zwangsrekrutierten nach Vorstellungen von Mélanchon auch die gesamte Zeit ihres „Bürgerdienstes“ als Militärdienst ableisten. (8)
Weitgehend fehlende Kritik der Kriege der französischen Armee
In der öffentlichen Diskussion um diese Konzepte geht es ausschließlich um die Kostenfrage und wie diese Kosten gegenfinanziert werden sollen. Weitgehend abwesend im französischen Präsidentschaftswahlkampf ist auch nur die minimalste Kritik der Auslandskampfeinsätze der französischen Armee und ihrer katastrophalen Ergebnisse, vor allem in Libyen, aber auch in Mali, wo mitnichten die angekündigte Befriedung und das Ende der Bürgerkriege erreicht worden sind – von Syrien und Afghanistan ganz zu schweigen. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit in Presseberichten regelmäßig über französische DschihadistInnen, die nach Syrien reisen, und von der Verzweiflung ihrer Eltern und FreundInnen berichtet wird, ohne auch nur die Möglichkeit zu erwähnen, dass dieses Phänomen vielleicht weniger ausgeprägt sein könnte, wenn sich die französische Armee nicht an den Militäreinsätzen und Bombardierungen beteiligen würde. „Eine sehr große Mehrheit der Franzosen stimmt den Interventionen in Syrien und in Mali zu“, konstatiert die Tageszeitung „Le Monde“ zur Unpopularität einer Armeekritik im Wahlkampf. (9)
Die aussichtsreicheren KandidatInnen fordern daher durchweg lediglich eine Ergänzung der militärischen durch eine politische Strategie, ganz so, als sei dies eine höchst innovative Einsicht und als hätten dies alle bisherigen Kriegsregierungen über Sarkozy bis zu Hollande nicht längst schon propagiert.
Mélanchon stellt bei seinen Wahlkampfreden gern seinen Friedenswillen in den Vordergrund. Er sagt auch schon mal: „Man muss den Kriegen ein Ende bereiten“, bleibt dabei aber immer allgemein und nennt nie die französische Armee beim Namen. Vor allem ist seine Kriegsgegnerschaft sofort mit der Flüchtlingsfrage verbunden: „Die Emigration ist immer erzwungenes Exil. Ein Leiden“; jede/r habe das Recht, „in seinem eigenen Land zu leben“. Er sei kein „Immigrationist. (…) Ich bin nicht für das Recht auf Niederlassung.“ (10)
Aus der NATO will er zwar austreten, aber die französische Armee wird dabei nicht angetastet – de Gaulle hatte nichts anderes gemacht. So bleibt Mélanchon auch nur ein kleiner, linksnationalistischer Napoleon.
Ein strikter Gegner der Wiedereinführung des allgemeinen Kriegsdienstes: die französische Armee
Besonders peinlich für die KandidatInnen in Frankreich, die neuerdings Zwangs- und Kriegsdienste für 18- bis 25-Jährige fordern, ist die Tatsache, dass der Adressat, die Armee, diese Wiedereinführung ablehnt: Die Umstrukturierung zur Berufs- und Interventionsarmee mit zunehmend diffizilen innenpolitischen Sicherungsaufgaben im Rahmen des Notstandsrechts ist längst abgeschlossen. Die Grundausbildung zwangsverpflichteter, aber nicht-spezialisierter Volljähriger stört da nur. Gerade die von den KandidatInnen in den Vordergrund geschobene Aufgabe, die sozialen Probleme der staatlich-kapitalistisch strukturierten Republik zu lösen, ohne dass diese Republik sich weiter drum zu kümmern braucht, lehnt die Armee ab. Nach Gilles Bensaïd und Romain Perez, Autoren eines eben erschienenen „Berichts zu Militär- und Zivildiensten“, ist die Armee „nicht mehr dazu bereit, eine Funktion gesellschaftlicher Einweisung und sozialer Integration zu übernehmen“, weil „die Kriege heute äußerst technologisch geführt werden und die Soldaten, die in ausländischen Territorien eingesetzt werden, überaus leistungsfähige Leute sind“. Die heutige französische Armee sei organisatorisch viel zu weit entfernt von der früheren Wehrpflichtigen-Armee und eine „Erziehungsfunktion“ für Jugendliche „würde ihre Kampffähigkeit wahrscheinlich verringern“ (11), so heißt es in dem Bericht.
Coastliner
(1) Übereinstimmende Presseberichte in den Tageszeitungen "Le Monde", 7.4.2017, S. 10 und "Libération", 22.3.2017, denen die Informationen dieses Artikels entnommen sind.
(2) Emmanuel Macron, zit. nach Éric Nunès, Camille Stromboni: "Le retour du service militaire, thème de campagne", in: "Le Monde", 7.4.2017, S. 10.
(3) Vgl. die deutsch-französisch-italienische für ein Hauptquartier für militärische und zivile EU-Operationen für das Treffen der 25 EU-Verteidigungsminister Ende September 2016 in Bratislava, siehe: "Nichts ist gut in Libyen! Deutsch-französische Initiative für verstärkte EU-Militärzusammenarbeit, die britische Kritik und die Lage in Libyen", in: GWR 413, November 2016, S. 3f.
(4) Marine Le Pen, zit. nach Nunès, Stromboni, siehe Anm. 2, a.a.O.
(5) Karl Liebknecht, zit. nach: "Die Kontroverse zwischen Domela Nieuwenhuis und Karl Liebknecht", in: GWR-Sonderheft "Sozialgeschichte des Antimilitarismus", Nr. 117/118, 1987, S. 18.
(6) Vgl. Wikipedia-Eintrag zu den "Volksverteidigungseinheiten" (YPG): https://de.wikipedia.org/wiki/Volksverteidigungseinheiten .
(7) Vgl. z.B. die öffentlichen Proteste im Jahr 2015 von assyrischen und armenischen Bevölkerungsgruppen im Einflussgebiet der kurdischen YPG gegen Zwangsrekrutierungen für deren Volksmilizen: www.armradio.am/en/2015/11/03/assyrians-armenians-in-syria-protest-kurdish-confiscation-of-property/ .
(8) Vgl. Aurélie Delmas: "Présidentielle: retour au service militaire obligatoire?", in: "Libération", 22.3.2017, Website-Ausgabe.
(9) Zit. nach François Godement, Manuel Lafont Rapnouil: "Présidentielle 2017: Le marqueur européen", in: "Le Monde", 7.4.2017, S. 18.
(10) Jean-Luc Mélanchon, zit. nach: Rachid Laïreche: "À Marseille, Mélenchon à bon port", sowie: Laurent Joffrin: "La France de plus en plus insoumise", in: "Libération", 10.4.2017, S. 2 und S. 3.
(11) Bericht von Gilles Bensaïd, Romain Perez, zit. nach Nunès, Stromboni, siehe Anm. 2, a.a.O.