Žiga Vodovnik: A Living Spirit of Revolt. The Infrapolitics of Anarchism, PM Press, Oakland 2013, 256 Seiten, 18.95 $, ISBN 978-1-60486-523-3
Ich bin nicht sicher, ob alle meine Leserinnen und Leser wissen, was ein „Blurb“ ist. Sie haben richtig gelesen: ein „Blurb“. Gute Freunde, die mehr Fernsehn schauen als ich, haben mir versichert, ein „Blurb“ sei eigentlich ein kotbraunes, brodelndes, bestialisch stinkendes Getränk, das außerirdische Wesen in einem Zeichentrickableger der Simpsons mit großem Genuss zu sich nehmen. Ich will gerne glauben, dass hier die etymologische Wurzel des Begriffs liegt. Außerhalb der phantastischen Welt der Massenunterhaltung allerdings ist „Blurb“ ein Begriff aus dem Jargon der Verlagsbranche. Er bezeichnet das lobende Zitat einer beliebigen Autorität zu einem neu erschienenen Buch, das man, um den Kaufappetit des Publikums anzuregen und seine Zweifel zu zerstreuen, entweder auf der Rückseite des Einbands oder auf einer der ersten Seiten des Buches abdruckt. Es lassen sich bequem verschiedene „Blurbs“ miteinander kombinieren. In Deutschland ist ein derartiges „beblurpen“ von Neuerscheinungen noch relativ unüblich. In englischsprachigen Ländern dagegen gehört es zum guten Ton. Und die Verlegerinnen und Verleger der USA haben sich sogar, was das Verteilen von „Blurbs“ angeht, zu wahrhaft olympischen Kraftleistungen aufgeschwungen. Hier kann man sich, ehe man auch nur beim Titel eines Werks angekommen ist, zuweilen bereits an acht bis zehn Seiten „Blurbs“ erfreuen: einer hinter dem anderen und aus allen nur erdenklichen Federn und Medien. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass es in den USA inzwischen sogar Firmen gibt, die „Blurbs“ auf Bestellung verfassen und teuer verkaufen, falls die seriöse Kritik wieder einmal das Erscheinen eines neuen Meisterwerks verschlafen hat. Der Norden Amerikas ist, verlegerisch gesprochen „Blurbs own country“.
Eigentlich sollte man sich über diese Unsitte aber gar nicht so lustig machen. Denn „Blurbs“ haben für Leserinnen und Leser, die hartnäckig dazu neigen, sich ihr eigenes kritisches Urteil zu bilden, einen unschätzbaren Vorteil. Es gilt eine relativ simple Faustregel: ‚Je mehr Blurbs, desto lausiger das Buch‘. Žiga Vodovniks „A Living Spirit of Revolt“ [‚Ein lebendiger Geist der Revolte‘] (2013) hat ein Zitat von Howard Zinn bereits auf dem Cover (!). Es folgen zwei Seiten „Blurbs“, von (nochmals) Howard Zinn über Noam Chomsky und James C. Scott bis zu Uri Gordon, die Vodovniks Arbeit einhellig als wertvolle, undogmatische Erneuerung des anarchistischen Denkens preisen. Und wem das alles noch nicht genügt, der kann einen Teil der „Blurbs“ wortgleich noch einmal auf der Rückseite des Buches nachlesen. Man hätte wissen können, was auf einen zukommt.
Žiga Vodovnik ist Assistenzprofessor für Politologie an der Uni von Lubljana (Slovenien). Er hat sein Buch aber auf Englisch verfasst und auch in den USA erstveröffentlicht. Dort hat es nach seinem Erscheinen für einiges Aufsehen gesorgt. Auch wissenschaftlich scheint es ernst genommen worden zu sein, sonst hätte die Slovenische Buchagentur wohl kaum seine Publikation finanziell unterstützt. Vodovniks Arbeit lässt sich, ohne dass man ihr Gewalt antun müsste, leicht in zwei thematische Blöcke unterteilen, die recht unterschiedlich gewichtet sind. Im letzten Drittel seines Buches leistet er (auf 64 Seiten) tatsächlich einen innovativen Beitrag zur Anarchismusforschung, und er tut dies auf wissenschaftliche Weise. Seine These, dass die sogenannten Transzendentalisten, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als elitärer Diskutierclub in Boston zusammenfanden, aber bald samt und sonders aufs Land zogen, eine wichtige Quelle des anarchistischen Denkens in den USA gewesen seien, ist zwar nicht uneingeschränkt überzeugend. Dafür legt Vodovnik einen zu weiten Begriff von Anarchismus zugrunde, in dem für ihn jede denkbare rebellische Handlung aufzugehen scheint, von politischem Widerstand über die Weigerung, Steuern zu zahlen bis hin zur Einführung des freien Verses als literarischer Ausdrucksform. Und auch die Tatsache, dass sich die Transzendentalisten nicht zuletzt im Konflikt mit den dominierenden Puritanern über die „richtige“ Auslegung und Lebenswirklichkeit des protestantischen Christentums sahen, macht sie im Kontext des Anarchismus zu eher fragwürdigen Stammvätern. Aber gleichviel, Vodovniks recht solide fundierte Neudeutung des literarischen Werks solch berühmter Größen der US-amerikanischen Literatur wie Ralph W. Emerson, Henry David Thoreau und Walt Whitman in einem neuen, radikalpolitischen Kontext ist anregend, und durch ihre gründliche Kontextualisierung auch durchaus bedenkenswert. Insbesondere bei Thoreau bestehen ja, was seinen Einfluss auf radikalpolitisches und anarchistisches Denken betrifft, ohnehin keine zwei Meinungen. Diese Deutung auch auf Emerson und den großen Lyriker Whitman auszudehnen, ist gewiss angreifbar, aber auch inspirierend und mutig. Wäre Vodovnik doch nur bei seinen Leisten geblieben.
Arbeitsweise, Stil und kritisches Niveau des letzten Drittels unterscheiden sich nämlich derart von den einleitenden 124 Seiten, dass die Vermutung naheliegt, Vodovnik habe einen bereits existierenden Aufsatz einfach seinem Buch beigefügt. Zumal sich kaum inhaltliche Verbindungen des letzten Drittels zum Rest des Buches herstellen lassen (teilweise ist die Argumentation sogar offen widersprüchlich). Derartige Patchwork-Publikationen sind kein guter Stil, aber sie sind auch nicht verboten, und müssen den Wert einer Studie nicht unbedingt schmälern. Dieser mögliche Wert allerdings wird auf den erwähnten ersten 124 Seiten des Buches bereits weitgehend zuschanden. Denn hier ergeht sich Vodovnik in einem ausufernden, panorama-artigen Entwurf, einer Gesamtschau anarchistischen Denkens, anarchistischer Geschichte und einer (möglichen) anarchistischen Zukunft, in der alles durcheinandergerät, was im Sinne einer guten wissenschaftlichen Praxis getrennt hätte bleiben müssen: Kategorien, Zeitebenen, Denkansätze und der Unterschied zwischen Wissenschaft und Propaganda. Entgegen aller blumigen Behauptungen in den erwähnten „Blurbs“ ist Vodovnik auch keineswegs ausgezogen, das anarchistische Denken kritisch zu sichten und möglicherweise zu erneuern. Er ist ausgezogen, es zu wiederholen, zu bestätigen und von möglicher Kritik reinzuwaschen. Zu diesem Zweck überzieht er Thesen und Überzeugungen, die größtenteils noch dem klassischen Anarchismus der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts entstammen, mit einem Zuckerguss aus zeitgenössischer politologischer Theorie. Das ist alles. Es ist ein hartes Urteil, aber ein Teil der unter der Flagge wissenschaftlicher Anarchismusforschung segelnden Veröffentlichungen englischer Sprache hat mittlerweile ein Niveau erreicht, bei dem man beim Lesen um die eigene Intelligenz fürchten muss. Das liegt nicht unbedingt an mangelndem Willen oder mangelnden Fähigkeiten ihrer Verfasserinnen und Verfasser, sondern vor allem daran, dass die anarchist studies (vor allem) in den USA inzwischen nur mehr einen Dialog mit sich selber führen. Während Vodovnik in seiner Auseinandersetzung mit den Transzendentalisten auf literarisches Primärmaterial zurückgreift und seriöse Forschungsarbeiten kritisch sichtet, die nicht das mindeste mit Anarchismus zu tun haben, finden sich in den Fußnoten zu seinen übrigen Ausführung ausschließlich Quellen aus anarchistischen Verlagen und Zeitschriften, von anarchistischen Autorinnen und Autoren und zu anarchistischen Themen. Wer die erwähnten Quellen kennt, weiß, wie nachlässig, ungenau, parteiisch, fehlerhaft oder oft zumindest stark diskussionsbedürftig viele von ihnen sind. Gesinnungstreu sind sie, das steht fest. Mehr aber häufig auch nicht. Vodovniks parteiisches Zitationskartell setzt auf diese Weise eine geistige Abwärtsspirale in Bewegung, auf der so ziemlich alles nach unten schlittert, was er als nützliche Erneuerung des anarchistischen Denkens zu verkaufen sucht.
Natur des Menschen
Beispielhaft seien hier seine Ausführungen zur Natur des Menschen genannt, die ja – überraschenderweise – auch in der Graswurzelrevolution gerade wieder Gegenstand der Diskussion ist. Vodovniks Ausgangspunkt ist noch vergleichsweise vielversprechend: Selbstverständlich, so schreibt er, dürfe man die onthologische Position des Anarchismus nicht als eine idealisierende Überhöhung der Natur des Menschen und seiner Fähigkeit zur Güte und Kreativität missdeuten (vgl. S. 64). Der kritische Leser fragt sich interessiert, als was man sie denn sonst deuten sollte, zumindest, was den klassischen Anarchismus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrifft? Vodovnik macht sich anschließend an eine „Neulektüre“ der anarchistischen Klassiker zum Thema, vor allem Kropotkins, um seine These zu untermauern. Zutreffend stellt er heraus, dass gerade Kropotkin der Rolle der Kultur als eines Regulativs der von ihm angenommenen Natur des Menschen große Bedeutung beigemessen habe. Hier, so Kropotkin, entscheide sich, wie eine Gesellschaft tatsächlich aussehe oder aussehen könne. Vodovniks Argumentation gegen die Unterstellung, der Anarchismus habe sich stets mit einem naiven „Der Mensch ist von Natur aus gut“ getröstet, scheint in einem Zitat Noam Chomskys zu kulminieren: „Wir wissen so wenig über die menschliche Natur, dass sich keine seriösen Schlüsse ziehen lassen. Wir können uns ja noch nicht einmal über die Natur von Insekten äußern“ (S. 70).
Soweit, so gut? Mitnichten! Denn nur zwei Seiten später findet sich folgender Satz, diesmal von Vodovnik persönlich: „Trotzdem, die menschliche Natur hat auch ein unendliches Bedürfnis und den Wunsch nach dem Guten, der Freiheit, der Ablehnung von Gewalt, Mord und Autorität“ (S. 72). Weitere drei Seiten später entdeckt man folgende Feststellung: „Gewalt ist keine Konsequenz der menschlichen Natur als solcher, sondern von Konformismus, Pragmatismus und der Macht sozialer Rollenbilder“ (S. 75). Und schließlich verweist Vodovnik, im Kontext des berüchtigten Milgram-Experiments, noch auf die „natürlichen Empfindungen der Empathie und Sympathie“ (S. 76). Hatten wir nicht eben erst gelernt, dass sich aus der Natur des Menschen keine politischen oder sozialen Schlüsse ziehen lassen? Dass es also unsinnig sei, von einer „natürlichen Güte des Menschen“ zu sprechen? Die „menschlichen Potentiale“ (S. 64), die Vodovnik als Alternative zu den statischen Zuschreibungen einer von Natur aus guten und freiheitsliebenden Charakterbeschaffenheit des Tieres Mensch anführen möchte, offenbaren sich bei ihm bei genauerem Hinsehen als eben solche idealisierenden, statischen Zuschreibungen; als eine Wiederholung des Immer-Gleichen. Tatsächlich hätte der geistige Abschied von einer implizit oder explizit angenommenen „guten“ Natur des Menschen weitreichende Folgen für die anarchistische Theorie und Praxis. Denn wenn man nicht länger davon ausgehen möchte, dass alle Menschen sich, geleitet von natürlichen Instinkten, spontan und begeistert an den Händen fassen und einer harmonisch-gewaltfreien Zukunft zustreben werden, sowie man sie nur lässt, muss man die Frage beantworten, wie man denn verhindern möchte, dass einige Wenige, vielleicht durch Habgier, Gewalt und Egoismus, das ganze Projekt torpedieren – wenn nicht gleich alle, im Sinne von Thomas Hobbes, samt und sonders übereinander herfallen? Jedes noch so kleine linke Projekt ist schließlich nur so lebensfähig, wie es in der Lage ist, Leute zur Raison zu bringen oder auszuschließen, die seine Regeln missachten – ein schwieriges und bis heute in libertären Kreisen ungeliebtes, aber entscheidendes Problem. Recht missmutig räumt auch Vodovnik in einem Nebensatz ein, die Menschheitsgeschichte biete deutlich mehr Beispiele der Unfreiheit und mangelnden Kreativität als der Freiheit und kreativen Entfaltung (S. 64). Irgendwelche Konsequenzen für seine Argumentation hat diese Feststellung aber nicht. Vodovniks angebliche undogmatische Neulektüre anarchistischen Denkens könnte traditioneller und dogmatischer also kaum sein: Sie wiederholt in moderner Terminologie die alten, tröstenden Mythen des Anarchismus und meidet just solche Fragen, die für eine wirkliche Erneuerung dringend zu diskutieren gewesen wären. Und dieses Muster wiederholt sich, Seite für Seite, bis Vodovnik endlich zu seinem „eigentlichen“ Thema kommt.
Fazit
Es ist an der Zeit, sich angesichts des global boomenden Büchermarkts zum Thema Anarchismus über den weiteren Weg zu entscheiden: Was wir brauchen, ist eine seriöse Anarchismusforschung, sowohl zum historischen als auch zum gegenwärtigen Anarchismus, die kritische und ungemütliche Fragen stellt, anstatt sie angstvoll zu umschleichen. Nötig ist eine Anarchismusforschung, die bereit ist, Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich mit eigenen oder andererleuts politischen Überzeugungen oder Träumen schlecht vertragen. Was wir nicht länger brauchen, ist ein propagandistischer Pamphletismus, der sich lediglich als Wissenschaft ausstaffiert. In Vodovniks „A Living Spirit of Revolt“ findet sich beides: solide wissenschaftliche Arbeit und peppige politische Verkleidung. Eine Flut von jubelnden „Blurbs“ ändern an diesem Umstand wenig. Im Gegenteil: Sie beweist, wie viel bei einer wahrhaft kritischen Neulektüre des Anarchismus noch zu tun bleibt.
Martin Baxmeyer