Ziesar Schawetz ist Übersetzer des Essays von Howard Clark "Gewaltfreiheit und Revolution" (1). Im folgenden Diskussionsbeitrag nimmt er die Vorgänge in Hamburg anlässlich des G20-Gipfels von Anfang Juli 2017 zum Anlass zu einer kritischen Betrachtung aus radikal pazifistischer Sicht. (GWR-Red.)
Was sich in Hamburg rund um den G20-Gipfel herum abgespielt hat, namentlich am Gipfelwochenende 7. bis 9. Juli, lässt sich am besten als Zustand allgemeiner Rechtlosigkeit beschreiben. Wo die Polizei war, herrschten Repression und Willkür, was wenig überraschend sein mag für Leute, die von der Polizei ohnehin nichts anderes erwarten. Erschreckend und Grund zu größter Unruhe für jeden humanistisch gesinnten Linken sollte jedoch eine zweite Beobachtung sein: Auch dort, wo die Polizei nicht war, war es um Recht und Freiheit nicht besser bestellt.
Die Schwarzvermummten, die über Stunden PKWs anzündend und Geschäfte plündernd durch die Straßen des Schanzenviertels zogen, ohne daran gehindert zu werden, verbreiteten Angst und Schrecken statt Glück und Freiheit. Das war nicht die herrschaftsfreie Gesellschaft, die sich Libertäre wünschen, nachdem eines Tages die Vertreter*innen staatlicher Gewalt das Weite gesucht haben sollten, sondern das Willkürregime eines auf Zerstörung und Chaos bedachten Mobs. Für ihn galt das Recht der Menschen auf körperliche Unversehrtheit, auf Unverletzlichkeit der Wohnung und auf ein angstfreies Leben ebenfalls nichts.
Die Gewalt beider Seiten
Wer über die Gewalt an jenem Juli-Wochenende spricht, der muss über die Gewalt auf beiden Seiten sprechen. Das gilt nicht nur für die Vertreter*innen des Staates, die – wie etwa der Hamburger Bürgermeister – rundheraus abstreiten, dass es zu polizeilicher Willkür und Gewalt gekommen ist.
Es gilt in gleichem Maße für diejenigen, die zu den „Welcome to Hell“-Aktionen gegen den Gipfel aufgerufen hatten und die das brutale Agieren von Schwarz-vermummten herunterspielen oder mit dem Verweis auf die Brutalität der Polizei zu entschuldigen suchen.
Solche Rechtfertigungsversuche sind auch deswegen unangebracht, weil die Gewaltaktionen von Schwarzvermummten ohne räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang zum Vorgehen der Polizei stattfanden. Die Sprecherin der „Interventionistischen Linken“, Emily Laquer, redet sich die Dinge schön, wenn sie in der TAZ behauptet, bei dem, was in der Nacht zum 8. Juli 2017 im Schanzenviertel „passiert“ sei, habe es sich „ja nur zum geringen Teil“ um organisierte Aktionen gehandelt, sondern das sei „vielfach Ausdruck von Wut über das Erlebte“ gewesen (2). Das klingt nach einem spontanen „Volkszorn“, der sich im Schanzenviertel Luft verschafft habe, ist aber wenig plausibel. Wer unter dem martialischen Motto „Welcome to Hell“ mobilisiert, wer sich also vornimmt, Menschen in der Hölle zu begrüßen, der muss diese Hölle wollen, vorbereiten und organisieren – und zur Hölle gehört nun mal auch Feuer.
Hinzu kommt etwas Grundsätzliches: Aufständische haben es meist nicht in der Hand, wie die Polizei ihren Einsatz plant und welche Mittel sie zur Aufstandsbekämpfung einsetzt. Sie haben jedoch grundsätzlich alle Möglichkeiten, ihre eigene Strategie zu planen und zu kontrollieren. Dazu gehört auch die zentrale Frage, welche Rolle Gewalt dabei spielen soll. Wenn Polizeigewalt mit Gegengewalt beantwortet wird, mag das emotional verständlich sein, ist aber nicht zwangsläufig die einzig mögliche Reaktion – und wahrscheinlich nicht die klügste. Das zeigen viele Beispiele auch aus der jüngeren Geschichte von Widerstandsbewegungen in allen Teilen der Welt, die ihren Erfolg der strategischen Festlegung verdanken, bei Konfrontationen mit der Staatsgewalt auf Gegengewalt ausdrücklich zu verzichten. Wer das für unmöglich oder gar für eine Schwäche hält, der muss erklären, was es mit „Autonomie“ und Stärke zu tun hat, sich in einer so grundlegenden strategischen Frage ausgerechnet vom Verhalten der Polizei abhängig zu machen, statt sich davon unabhängig (und damit übrigens auch unberechenbarer) zu machen.
Letzten Endes ist der stereotype Verweis auf die alleinige Verantwortung der Polizei, der sich durch die Stellungnahmen der „Interventionistischen Linken“ und die Diskussionsbeiträge von Autonomen zieht, antiaufklärerisch. Er dient dem Zweck, eine offene Debatte zu verhindern, in der es um die Aufarbeitung der Hamburger Vorgänge auf Seiten der Demonstrant*innen, um Verantwortung und Grenzen politisch motivierter Gewalt und um Formen des Widerstands gehen muss, welche die Risiken und verheerenden Schäden unkontrollierbarer Gewalt vermeiden – mithin um kämpferische (militante) Gewaltlosigkeit.
Aufarbeitung?
Liest man die Verlautbarungen derer, die für die Organisation von „Welcome to Hell“ verantwortlich sind, dann erkennt man jedoch wenig Bereitschaft, sich einer solchen selbstkritischen Aufarbeitung zu stellen. Stattdessen offenbart sich eine Mischung aus Kaltschnäuzigkeit, Scheinheiligkeit, Autosuggestion und Gedankenlosigkeit.
„In der vergangenen Nacht“, formuliert die „Rote Flora“ am Abend des 8. Juli in einer Aneinanderreihung von Passivsätzen, wie man sie sonst nur von Bürokraten kennt, „kam es nach Auseinandersetzungen mit der Polizei am Neuen Pferdemarkt zu mehreren brennenden Barrikaden im Schanzenviertel. Die Barrikaden im Schulterblatt wurden im Laufe der Stunden immer größer. Außerdem wurden mehrere größere Läden entglast und geplündert.“ (3)
Handelnde Subjekte kommen hier nicht vor: Niemand hat etwas getan, es kam einfach dazu. Ja, es musste zwangsläufig dazu kommen, denn, so erfahren wir im nächsten Absatz der Erklärung, das Ganze war ein abgekartetes Spiel: „Diese Situation wurde in den vorangehenden Wochen von Polizeipresse und Politik heraufbeschworen und produzierte die Bilder, die sie haben wollten.“ Das ist, mal von der krummen Grammatik abgesehen, Unsinn – aber wohl ziemlich typisch für den verdrucksten Umgang, den man in manchen linken Szenen – nicht nur bei der „Flora“ – mit linker Gewalt pflegt.
Wenn man nicht die Fernsehbilder von vermummten Gestalten im Kopf hätte, die durch Hamburger Straßen ziehen, Autos in Brand setzen, Fensterscheiben einschlagen und Geschäfte plündern: Man würde beim Lesen der „Flora“-Erklärung nicht ahnen, welche schockierende Geschichte hier mit unverfänglichen Vokabeln wie „Situation“, „Ereignisse“, „Auseinandersetzungen“ und „entglast“ erzählt wird. Das ist fürchterlich.
Die nüchtern-gefühllose Sprache der „Flora“-Erklärung fügt der Ungeheuerlichkeit dessen, was vorgefallen ist, eine weitere Ungeheuerlichkeit in der Beschreibung des Vorgefallenen hinzu: Die Unfähigkeit, dafür angemessene Worte zu finden: „Insgesamt haben sich im Bereich Schulterblatt bis zu 2000 Menschen aufgehalten, die Lage war über Stunden unübersichtlich.“ Kein Satz aus einem Polizeibericht, sondern Originalton aus dem Frontbericht der Hamburger „Flora“.
Die „Flora“-Erklärung ist eine Meisterleistung im Verdrängen und Verharmlosen. Sie ist Zeugnis eines moralischen Koordinatensystems, das der Devise folgt: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Fälle von sinnloser Zerstörung wie die vom 7. Juli im Hamburger Schulterblatt sind demnach allenfalls als Kollateralschäden eines insgesamt heroischen Kampfgeschehens zu betrachten – bedauerlich zwar, aber nicht zu ändern. Und, noch entscheidender: Sie sind eigentlich nicht der Rede wert, denn das könnte dem Gegner in die Hände spielen. Der Sachschaden, der Anwohner*innen entstanden ist, mag schlimm sein, er ist in dieser Werteordnung jedoch nicht mehr als eine Nebensächlichkeit im Vergleich zu dem Schaden, der dem Protest selbst daraus erwachsen könnte: „In den nächsten Tagen werden die Ereignisse im Schulterblatt dazu genutzt werden, die berechtigten Proteste politisch zu delegitimieren“, schreibt die „Flora“. Soll heißen: Wer über „die Ereignisse“ spricht, betreibt das Geschäft der Gegenseite. Eine Behauptung, welche die brüllende Sprachlosigkeit der „Flora“ zu den Krawallen und das evidente Desinteresse vieler Autonomer verschlüsselt, sich mit diesen Dingen überhaupt zu befassen.
Ebenso wenig wie von Tätern ist in der „Flora“-Erklärung von den Opfern der Gewaltexzesse die Rede. Anwohner*innen kommen lediglich als hilfsbereite Menschen, die „gezielt“ versucht hätten, „kleinere (!) Geschäfte zu schützen“, oder als Sympathisant*innen, „die sich in der Vergangenheit größtenteils solidarisch auf die Flora bezogen und verhalten“ hätten vor. Und weiter in klassischem Politsprech: „Wir können verstehen, dass viele Menschen in der Nachbarschaft auf die Ereignisse der letzten Nacht mit Fragen und Unverständnis reagieren.“ Was so viel heißt wie: „Hallo, hallo, hier spricht die Rote Flora. Soeben wurde Ihr Laden entglast, Ihr Geschäft geplündert und Ihr PKW in Brand gesetzt. Wir verstehen, dass Sie Fragen dazu haben und mit der Gesamtsituation unzufrieden sind.“ Zynismus statt Worte des Bedauerns, des Mitgefühls und der Solidarität. Und natürlich Unschuldsmine: Was kann denn die „Flora“ dafür, dass ihre schwarz vermummten Genoss*innen, die sie für ihre Art der Militanz mobilisiert hatte, sich in der Stadt nicht auskannten und die falschen Läden und die falschen Autos angezündet haben?
Sankt Florian und Rote Flora
Diesen Gedanken in seiner Kaltschnäuzigkeit und intellektuellen Armseligkeit öffentlich und unmissverständlich ausgesprochen zu haben, ist der Verdienst von Andreas Beuth, einem Wortführer der Roten Flora und des Sankt-Florian-Prinzips: „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen“, so der Anwalt im NDR-Fernsehen, „haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen! Also, warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese? Also, da gibt’s auch bei uns großes Unverständnis, dass man im Schanzenviertel die eigenen Geschäfte zerlegt – die Geschäfte, wo wir selbst, weil wir da wohnen, auch einkaufen.“ (4)
Beuth nährte mit dieser höhnischen Ansage den Eindruck, dass die Selbsteinschätzung der „Flora“: „Wir sind radikal, aber nicht doof“ (5), nicht auf alle „Floristen“ zutrifft.
Später bezeichnete er seine Worte ganz nach Art von Politikern denn auch als „missverständlich“. Dabei hatte er doch nur eine Lebenslüge derjenigen, die sich Autonome nennen, zur Kenntlichkeit verzerrt: dass man nämlich unterscheiden könne zwischen „guter“ (weil nützlicher) Gewalt und „schlechter“ (weil nachteiliger) Gewalt.
Im Statement der „Roten Flora“ hört sich das so an: „Die Rote Flora distanziert sich nicht von militanten [sic!] Aktivismus an und für sich, aber dieser muss zielgerichtet und auf allen Ebenen vermittelbar bleiben.
Was wir kritisieren ist Militanz als Selbstzweck, der das eigentliche Ziel aus dem Blick verliert und damit beliebig ist.“ Was automatisch zu der Frage führt, was unter „zielgerichtet“ und „vermittelbar“ zu verstehen ist. Ist das Plündern von Läden und das Abfackeln von Autos in Pöseldorf und Blankenese zielgerichteter und vermittelbarer als in St. Pauli? Wer setzt die Maßstäbe? Wer definiert, in welchen Gegenden gewaltsame Militanz nicht beliebig ist? Zu glauben, es könne darüber eine Übereinkunft erzielt werden, ist naiv.
Militanz
Wer „Militanz“ (reduziert auf gewaltsames Vorgehen) zur Erreichung seiner politischen Ziele nicht nur nicht ausschließt, sondern sie quasi zum Non-plus-Ultra jeglichen Widerstands erklärt, der nimmt zumindest in Kauf, dass er Geister weckt, die sich die Chance nicht entgehen lassen, ihre Gewaltphantasien in die Tat umsetzen. Insofern klingt die holprig formulierte Kritik der Flora am Vorgehen der Militanten blauäugig: „Das, was letzte Nacht auf dem Schulterblatt beobachtet werden konnte, war gekennzeichnet von Mackergehabe und Unverantwortlichkeit, die in Kauf nahmen, dass Menschenleben gefährdet wurden, unter anderem durch das Anzünden von Geschäften in Wohnhäusern.“
Auch an diesem krummen Satz ist vielsagend, dass er kein Subjekt hat, sondern abstrakte Eigenschaften wie „Mackergehabe“ und „Unverantwortlichkeit“ werden hier zu Subjekten erhoben. Es wäre spannend zu erfahren, worin sich jenes „Mackergehabe“ und die „Unverantwortlichkeit“ im Schanzenviertel von ähnlichen Phänomenen unterscheiden sollen, wenn sie an anderen Orten der Republik auftreten.
Mythos widerlegt
Nach Hamburg ist der Mythos erneut widerlegt, es könne ein produktives oder „solidarisches“ Nebeneinander von gewaltlosen und gewaltsam-militanten Aktionsformen geben, wie es Autonome im Namen eines „vielfältigen und bunten Widerstands“ immer wieder propagieren wird. Das Verhältnis zwischen Widerstandsformen ohne Gewalt und solchen, bei denen Gewalt nicht ausgeschlossen wird, ist nämlich asymmetrisch. Erstere sind, um ihre beabsichtigte Wirkung voll zu entfalten, darauf angewiesen, dass die Anwendung gewaltförmiger Aktionen durch andere Mitakteur*innen am selben Ort und zur selben Zeit verlässlich ausgeschlossen wird. Letzteren macht es hingegen nichts aus, wenn Gewaltfreie bei ihnen nicht mitmachen; sie können sogar von dem Umstand profitieren, dass sie vor einer Kulisse überwiegend Unbeteiligter stattfinden. Deswegen werden gewaltfreie Widerständler*innen stets darauf bestehen, dass vor jeder Aktion und Demonstration zwischen den Organisator*innen verbindliche und klare Absprachen darüber getroffen werden, welche Aktionsformen zur Anwendung kommen sollen – und welche nicht. Formelkompromisse, die schön klingen, aber alles offen lassen und nichts ausschließen, taugen hier nichts.
Tragisch und komisch
„Durch den medialen Shitstorm soll Zehntausenden Leuten, die in Hamburg auf der Straße waren, ausgeredet werden, wie groß unsere Erfolge waren“, hat die Sprecherin der Interventionistischen Linken, Emily Laquer, der taz gesagt – in ziemlicher Verkennung der Realität. Dieser „Shitstorm“ hat nämlich andere Gründe, und zwar nicht nur schlechte, sondern auch allzu berechtigte. Auf die Frage, welche Erfolge das denn seien, fiel Laquer als erstes ein: „Wir haben mit Tausenden unser Recht auf Schlafen in den Camps durchgesetzt.“ Großartig. Wenn das Recht auf Schlafen zur höchsten Errungenschaft revolutionärer Wachsamkeit wird – spätestens dann wird’s tragikomisch.
Desaströs
Nein, wer die „Welcome to Hell“-Veranstaltung allen Ernstes für einen Erfolg hält, dessen Blick reicht nicht weiter als bis zur letzten Hütte seiner Wagenburg. Der Eindruck, den die Randalier*innen im Namen linker Anliegen hinterlassen haben, wird bleiben – und ist ein Desaster.
Für die massenwirksame Vermittlung und Durchsetzung globalisierungskritischer Positionen hat „Welcome to Hell“ die Bedingungen verschlechtert. Die autonome Linke in Deutschland wird noch lange daran zu knabbern haben, dass sie den Eindruck zugelassen hat, man könne sich vor ihr nur fürchten und rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Erneut zeigt sich, wie Recht der belgische Anarchist Bart de Ligt schon vor 80 Jahren hatte, als er schrieb: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution.“ (6)
Ziesar Schawetz
(1) Howard Clark: Gewaltfreiheit und Revolution. Wege zur fundamentalen Veränderung der Gesellschaft. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Ziesar Schawetz, Berlin: Internationale der Kriegsdienstgegner/innen, 2014 (IDK-Texte zur Gewaltfreiheit; H 3. Hg. von Wolfram Beyer). Broschur, 68 Seiten. ISBN 9783981653618.
(2) Siehe: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5426419&s=Laquer/
(3) https://rote-flora.de/2017/presseerklaerung-der-roten-flora-vom-8-juli-2017/
(4) www.ardmediathek.de/tv/NDR-aktuell/Beuth-Bitte-doch-nicht-im-eigenen-Vier/NDR-Fernsehen/Video?bcastId=14464388&documentId=44268804
(5) https://linksunten.indymedia.org/de/node/218083
(6) Barthélmy de Ligt: The Conquest of Violence. An Essay on War and Revolution. Reprint of the 1937 edition, with a new introduction by George Lakey. New York and London, Garland Publishing, 1972, ISBN 0-8240-0402-7