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Anarchismus – anschaulich

Auf anarcho-pazifistischen und gewaltfreien Spuren

| Elmar Klink

Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus. Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Illustriert von Daniel Grunewald, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2017, 278 Seiten, 65 Abbildungen, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-30-4

Das im April 2017 im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Buch von Sebastian Kalicha „Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus“ kann man als Einführung und Lesebuch ansehen.

Es ist in drei Abschnitte unterteilt: Theorie – Personenporträts – Bewegungs- und Aktionslexikon. Den Abschluss bildet eine Auswahlbibliographie zu den dargestellten und noch anderen Autor*innen. Ein nützliches Register muss zwar als fehlend festgestellt werden, wird aber durch eine übersichtliche Stichwort-Gliederung des zweiten und dritten Teils teilweise wettgemacht, so dass man sich gut durch das Buch orientieren kann.

Als gewaltfreien Anarchismus bezeichnet man hierzulande eine politische Bewegung mit bestimmtem theoretischem Hintergrund und Standort.

Die sich am Ausgang der 1968er Student*innenbewegung als eine mögliche radikale Kontinuität herausgebildet und sich mit der 1972 gegründeten Zeitschrift Graswurzelrevolution (GWR) ein eigenes Publikations- und Kommunikationsorgan geschaffen hat. Sie ist in ihrem 46. Jahrgang die älteste, noch erscheinende anarchistische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum. Insofern hat die Neuerscheinung auch einen kleinen Jubiläumscharakter. Denn nicht die Zeitschrift Gewaltfreie Aktion (Theodor Ebert) oder die einst bestehende Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) (im Buch beschrieben S. 229f.) haben überlebt, sondern die Idee und Philosophie des gewaltfreien Anarchismus im publizistischen Spiegel der GWR. Was nicht heißen soll, dass es heute nicht nach wie vor eine bunte, vielfältige Palette gewaltfreier anarchistischer Bewegung in der BRD gäbe. Sie existiert in bestimmten Protestformen und Widerstandsaktionen, bei politischen Demonstrationen und als Ausdruck von grundsätzlicher Kritik an Staat, Gewalt und Krieg. Auch in alternativen Projekten und Lebensweisen wie Kommunen und Ökodörfern. Es bedeutet auf der Linken auch ein Gegengewicht zu den inzwischen deutlich verbürgerlichten Grünen oder der marxistischen Linkspartei. Es existiert ziemlich unberechenbar in den Köpfen und Herzen von Menschen, in ihrer Überzeugung und Lebensweise, nicht in parteilichen Strukturen.

Diese inhomogene Bewegungspalette umreißt und beschreibt der Autor vor allem im dritten Buchabschnitt. Der wiederum sehr eng mit dem ersten Teil korrespondiert und ihn sozusagen wie in einer Komposition ausführt. Was allerdings den Gebrauch und die Lektüre keineswegs schmälert, im Gegenteil.

Zum Mittelteil, den Porträts und sie beschreibenden Texten, gehören jeweils vom Illustrator Daniel Grunewald aus Leipzig angefertigte Porträtzeichnungen (nach z. T. bekannten Fotos) der jeweiligen Person. Es sind neben bekannten wie Gandhi, Tolstoi, Thoreau, Souchy, Ramus, Landauer, Camus, Ellul, Day, Weil, Wichmann, Tucker, Goodman u. a. auch unbekanntere darunter, von denen manche vielleicht zum ersten Mal etwas hören wie Mannin, Wolfe, Bari, Macdonald, Vernet, Maîtrejean, Malina, Ryner, Nieuwenhuis, Dellinger, Ostergaard, Brocca u. a. m.

Die Konzeption vor drei Jahren bei Beginn der Arbeit am Buch war, nur Personen zu porträtieren, die nicht mehr leben, um auch der strittigen Frage zu begegnen, wer oder wer nicht von noch Lebenden ins Buch aufgenommen werden soll.

So kommt es auch, dass man bedauern kann, dass eine für den deutschen Nachkriegs-Anarchismus wichtige Person wie der Verleger, Buchhändler, GWR-Mitherausgeber und frühere WRI-Koordinator Wolfgang Zucht (1929-2015) keinen Eingang in diese Liste mehr gefunden hat. Er hätte es verdient (siehe die Nachrufe in der GWR vom Oktober und November 2015). Ebenso hätte man Robert Jungk (1913-1994) bedenken und aufnehmen können. Auch verwundert etwas, dass aus dem Spektrum des gewaltkritischen individualistischen Anarchismus K. H. Z. Solnemans (d. i. Kurt Zube) Manifest der Freiheit und des Friedens (Preis der Alternativ-Buchmesse 1977) keinen Eingang in Kalichas ansonsten recht sorgfältige Erörterungen gefunden hat.

Man bekommt im Buch von drei Seiten her die Thematik beleuchtet und vermittelt. Das macht die Lektüre interessant und abwechslungsreich. Dabei existieren natürlich bereits viele exzellente historische und zeitgemäße Darstellungen zum deutschen, auch neueren Anarchismus in seinem allgemeinen Kontext (Bartsch, Degen, Stowasser, Drücke).

Auch die bearbeitete Neuauflage von von Borries/Weber-Brandes, „Anarchismus – Theorie, Kritik, Utopie“ im Verlag Graswurzelrevolution gehört hierzu. Aber eine solche wie die vorliegende fehlte bisher. Sie ergänzt andere gründliche Darstellungen und Untersuchungen (siehe Bibliographie) auf eigene Weise.

Was im zweiten Teil die Personenporträts sind, sind im dritten Teil (ebenfalls mit nachgezeichneten Illustrationen Grunewalds) die Beispiele von Aktionen, Bewegungen und Organisationen, die gleichfalls porträthaft eingehender beschrieben werden. Dazu gehören z. B. die Catholic Worker, der Anarchosyndikalismus, die Anti-AKW-Bewegung, die War Resisters‘ International, der Tolstoianismus, Anarchopunk, die Occupy-Bewegung, die Pflugscharbewegung, Kabouter, Industrial Workers of the World, kreativer Widerstand und Straßenprotest, Provo-Bewegung, anarchistische DDR-Opposition, Syndikalistischer Frauenbund, Hacktivismus, die Antiglobalisierungsbewegung u. v. a. m.

Insgesamt sind es über 60 bearbeitete Stichworte, die konkret und anschaulich machen, was Kalicha im ersten Abschnitt an erörterten theoretischen Grundlagen und Grundzügen, Begriffsklärungen und der Definition von gewaltfreier Aktion meint und ausführt.

Man fühlt sich etwas erinnert an Gene Sharps The Politics of Nonviolent Action (1973/1985), das oft zitiert leider ein noch immer unübersetztes Dasein als dreibändiger Klassiker auf Englisch fristet. Mit diesem will und kann sich Kalicha sicher nicht messen.

Zudem teilt er in seiner Auseinandersetzung mit Sharp die keineswegs neue Kritik der GWR an dessen Position, die als demokratisch-kapitalistisch systemimmanent betrachtet wird und aus den Zwängen struktureller Gewalt (Johan Galtung) nicht wirklich herausführt.

So wie Graswurzelanarchist*innen auch eine eher skeptische Position einnehmen zu bestimmten Formen gewaltfreier Trainings, die sich zu sehr in gruppendynamischen „Vertrauensspielen“ bei Einübungen gewaltfreier Aktionen ergehen, was z. B. eine Verständigung mit einem polizeilichen oder militärischen Gegenüber bei Blockaden angeht. Hier hat es in der Vergangenheit oft kontroverse Diskussionen und manch hitzige Debatten gegeben, wie weit man mit der staatlichen Seite „kooperieren“ darf oder sie vorab informieren kann und soll. Denn gewaltfreie Aktion greift allein schon aus humaner Achtung nie einen Menschen an, sondern z. B. seine Rolle und Funktion, das was er (sie) von Staats wegen repräsentiert. Sie will durch ein bewusstes dialogisches Zugehen auf den (die) andere/n auch ermöglichen, dass sich jemand von Rollen und Repräsentanzen distanzieren kann. Zu einer befreienden Selbsteinsicht gelangen kann, dass eigenes Gewalt- und Herrschafts-handeln falsch ist. Dazu braucht es die Achtung und Achtsamkeit gegenüber anderen, ohne den Kontext ihres Handelns, wem es nützt und wozu es dient, aus dem Blick zu verlieren.

Gleichwohl lebt die gewaltfreie Aktion auch vom unberechenbaren, nicht bedrohenden Überraschungsmoment und speist sich aus unverhandelbaren Elementen des zivilen Ungehorsams, siehe H. D. Thoreau, Gandhi, Anti-AKW-Proteste, Freie Republik Wendland, Blockaden von Militärstützpunkten, totale Kriegsdienstverweigerung, Hausbesetzungen, Pflug-scharaktonen (die Brüder Berrigan).

Im dritten Abschnitt als fehlend zu monieren ist etwa die Nennung und Beschreibung der Gewaltfreien Bildungs- und Begegnungsstätte Kurve Wustrow im Wendland, der gewaltfreien Trainingskollektive, Marshall B. Rosenbergs Schule der Gewaltfreien Kommunikation. Denn es sind immer wieder in Regionen verankerte „Stützpunkte“ des Protests wie die Pressehütte Mutlangen, die Volkshochschule Wyhler Wald (1975) oder die schon erwähnte Freie Republik Wendland (1980), die eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Ausführung, auch Dokumentation, gewaltfreier Aktionen spielten.

Kalichas Buch ruft viele dieser Aspekte und Zusammenhänge wieder in Erinnerung und zeigt ihre Bedeutung für heute auf. Insofern ist es auch ein Erinnerungsbuch zur Aktivierung der grauen Zellen, nicht zu vergessen, was mal war, was man erreichte, wo die großen und die kleinen Linien in Protesten und Widerständen verliefen (und noch verlaufen). Und welche Personen dabei hervortraten.

Fast unscheinbar im seitlichen Gebüsch ragt am rechten Rheinufer bei Wyhl, dort, wo am Fuß des Kaiserstuhls ein westdeutsches AKW hätte entstehen sollen, ein etwa brusthoher Findling wie ein Hinkelstein empor, auf dem eingemeißelt geschrieben steht: NAI hämmer gsait! – 18. Februar 1975. Nein, haben wir gesagt!

Wie zur schlechten Ironie baute auf der anderen Rheinseite nur etwa 30 Kilometer weiter südlich ebenfalls von heftigen, aber letztlich nicht verhindernden Protesten begleitet der französische Staat das Pannen-AKW Fessenheim (Stilllegung für 2018 angekündigt).

Das zeigt gleichwohl auf, Widerstand muss stets auch grenzüberschreitend sein. Damit Erinnerung an anarchistisch gespeiste gewaltfreie Aktion nicht nur in steinernen Zeugnissen Ausdruck findet, muss sie auch wieder verlebendigt und aktualisiert werden. Bücher wie Kalichas tragen dazu erfreulich bei.