Thomas Wagner: Das Netz in unsere Hand! Vom digitalen Kapitalismus zur Datendemokratie, Verlag Papyrossa, Köln 2017, 166 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3- 89438-635-1
Die Einen posten und liken fast täglich auf Facebook, die Anderen wenden sich kopfschüttelnd ab. Unterschiedlicher könnte der Umgang mit diesem „sozialen“ Medium im HerausgeberInnenkreis der gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung Graswurzelrevolution (GWR) wohl kaum sein. Jeder und jede macht was er oder sie will – ist das jetzt Anarchie oder nur Beliebigkeit?
Seit Jahren gibt es auf Facebook von GWR-LeserInnen eingerichtete FB-Gruppen mit dem Namen „Graswurzelrevolution“. Diese unter dem Motto „Freundinnen und Freunde der Zeitschrift Graswurzelrevolution“ eingerichteten FB-Diskussions-Seiten wurden von den gewiss wohlmeinenden InitiatorInnen nicht mit dem GWR-HerausgeberInnenkreis abgesprochen.
Inzwischen wurde der GWR-Koordinationsredakteur von den Seitenmachern als Administrator eingesetzt. Anders als bei ak, Contraste, Jungle World und fast allen anderen linken Periodika, gibt es bis heute auf Beschluss des GWR-HerausgeberInnenkreises allerdings keine offizielle Facebookseite der Graswurzelrevolution.
In einer aktuellen Werbeanzeige wird ironisch für diese „Zeitung mit der falschen Linie“ geworben. Zum Thema Facebook wäre es wohl eher angebracht, von einem diffusen kreuz und quer zu sprechen.
Doch zu Facebook und ähnlichen Netzmedien sollten wir schon etwas Konkreteres zu sagen haben. Da kommt Thomas Wagners Buch „Das Netz in unsere Hand!“ gerade recht, um unseren späten Einstieg in die Diskussion mit Fach- und Grundlagenwissen zu unterfüttern.
Die vom linken Mainstream mittlerweile als Binsenwahrheit akzeptierte Tatsache, dass die NetznutzerInnen mit ihren Daten für ihre in Anspruch genommenen Dienste zahlen und dafür von den BetreiberInnen überwacht und analysiert werden, leuchtet Wagner bis in die tiefsten Abgründe des Datendschungels akribisch aus und fördert hierbei ebenso erschreckende wie bisher kaum beachtete Details zutage. Und was mindestens genauso wichtig ist, er deckt Zusammenhänge und Mechanismen auf, wie über die Datenauswertung hinaus eine genaue Verhaltensmustervorhersage, gezielte Steuerung und Manipulation menschlichen Verhaltens und politischer Prozesse durch Internetkonzerne wahrscheinlich werden.
Das alles ist nur möglich, weil die Linke bisher ihre Kommunikations-Infrastruktur ausgerechnet Konzernen überlassen hat. Facebook stellt sich als quasi öffentliche Einrichtung dar, die dem Gemeinwohl dient.
Wagner zeigt jedoch auf, dass hier eine von gesellschaftlicher Einflussnahme abgekoppelte digitale Parallelwelt zur Mehrung von Profit und Macht für die Eigentümer entstanden ist.
Mit geschickt inszenierten Partizipationsangeboten werden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Einerseits wird die Akzeptanz gefördert, andererseits damit auch noch ein Geschäft gemacht. Der Google-Konzern hat beispielsweise seine kommerziell unterfütterten Übersetzungsangebote für diverse arabische und afrikanische Sprachen im Windschatten der Flüchtlingsbewegungen durch die kostenlose Mithilfe engagierter Dolmetscher aus der Flüchtlings-Community optimiert und keinen Cent dafür gezahlt.
Bei Amazon übernehmen die KundInnen selbst durch ein Kommentar- und Bewertungssystem unentgeldlich Aufgaben der Produktkontrolle und Beratung. Sie haben dabei auch noch das Gefühl, bei der Produktauswahl ein Wörtchen mitreden zu können – die perfekte Mitmachfalle! Kleine Geschäfte mit umfassenden Beratungsmöglichkeiten werden durch die neu entstandene Marktmacht zur Aufgabe gezwungen. Bestimmte kritische oder „unprofitable“ Bücher aus dem Antiquariatssegment von Amazon nicht mehr angeboten.
Linke Gruppen nutzen Facebook gerne zur Weiterverbreitung unterdrückter Nachrichten und für die Mobilisierung zu Veranstaltungen und Aktionen. Den „Freundschaften“ wird womöglich auch noch eine gemeinschaftsstiftende Funktion zugeschrieben. Demgegenüber analysiert Wagner nüchtern, dass die durch Facebook vermittelten sozialen Bindungen nicht sehr stabil und oft von recht zweifelhaftem Wert sind, um als Struktur einer solidarischen Gegenmacht dauerhaft zu tragen. Bei ihnen werden keine wirklichen Gemeinschaftserfahrungen gemacht. Es finden kaum längerfristig angelegte soziale Lernprozesse statt, da hier eine Vielzahl „diskontinuierlicher Subjektivitäten“ aufeinander treffen. Diese sind nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber dem Konzern Facebook atomisiert und dort weitgehend machtlos.
Vielfach unterschätzt wird laut Wagner die Dynamik, mit der Internetkonzerne explosionsartig wachsen und innerhalb kürzester Zeit mit geringem Aufwand einen Milliardenmarkt bedienen. Whatsapp hat nur fünfzig Firmenmitglieder, Instagramm 17 MitarbeiterInnen.
Werden solche ursprünglich kleinen Startup-Unternehmen von Facebook aufgekauft, entsteht durch eine kombinierte Nutzung und Verknüpfung der Daten ein enormer Machtzuwachs.
Digitales Prekariat
Auf mehreren Seiten widmet sich Wagner dem neu entstandenen digitalen Prekariat.
Die Konzerne des digitalen Plattformkapitalismus haben es geschickt verstanden, Crowdworking im Rahmen der „Sharing Economie“ als „Freizeitbeschäftigung“ darzustellen, bei der man sich „nebenbei“ auch noch etwas Geld hinzuverdienen könne. Die ursprünglich aus einem Impuls der gegenseitigen Hilfe entstandenen teilweise demokratisch organisierten Tauschplattformen für private Übernachtungs- und Mitfahrmöglichkeiten oder Musikteilen wurden von Digitalkonzernen gekapert. Aus der Bereitschaft vieler Menschen zu teilen, haben sie ein lukratives Geschäftsmodell gemacht.
Räumlich voneinander getrennten und vereinzelt arbeitenden „Soloselbstständigen“ im Netz fehlt es an Organisationsmacht, um an ihrem Status als Tagelöhner etwas zu ändern. Wagner zitiert in seinem Buch auch Andrew Keen, der in dem Widerstand der unter äußerst miesen Bedingungen arbeitenden Jobber bei Amazon und Uber sogar gewisse Gemeinsamkeiten mit den Weberaufständen gegen die kapitalistischen Räuberbarone in einem längst vergangenen Jahrhundert sieht.
Gut herausgearbeitet hat Wagner, dass sich mit dem Machtzuwachs die Digitalkonzerne einen Herrschaftsanspruch und Gestaltungswillen anmaßen, der selbst den Rahmen der bürgerlichen Demokratievorstellungen sprengt. Sie wollen die neuen Herrscher der Welt sein, sie diktieren ihre Bedingungen. PolitikerInnen treten ihnen gegenüber als BittstellerInnen auf.
Es ist nach Wagner kontraproduktiv und skandalös, dass bei diesem seit langem absehbaren Machtzuwachs digitaler Konzerne die wissenschaftliche Beschäftigung im universitären Bereich fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Die in den 80er Jahren eingerichteten Lehrstühle für „Informatik und Gesellschaft“ wurden in den letzten Jahren aufgelöst. Unabhängiger Expertise, Reflexion und Diskussion wurde der Boden entzogen, während die Netzkonzerne durch selbstinstallierte willfährige Institute, Stiftungen und Denkfabriken den öffentlichen Diskurs im Sinne ihrer Auftraggeber beherrschen. Die Folge ist eine direkte Einflussnahme über alle vorhandenen politischen Kanäle bis hin zur Gesetzgebung.
Aus dieser vertrackten Lage heraus Alternativen zu entwickeln, ist schwierig. Wagner erwähnt Beispiele aus Russland und China, die mit eigenen Suchmaschinen unabhängig von Google sein wollen. Einen möglichen Ausweg zu den digitalen konzerngeprägten Parallelgesellschaften sieht er in der Schaffung neuer sozialer Medien auf der Grundlage des öffentlich-rechtlichen Gedankens wie beim Rundfunk und Fernsehen.
Aber auch diese Institutionen sind ein Abbild der vorherrschenden kapitalistischen Machtstrukturen und ihrer Parteien. Veränderungen stoßen auch hier an ihre Grenzen und müssen hart erkämpft werden.
Es sollte außerdem hinterfragt werden, ob dieser Weg in staatliche Institutionen unserer Meinung nach der Richtige wäre und es nicht noch ganz andere Alternativen hin zu mehr digitaler Autonomie gibt. Das herauszufinden und als Gegenmodell zu entwickeln kann eine einzige Person nicht leisten, es ist eine längerfristige Aufgabe von allen Linken und Libertären.
Thomas Wagner hat durch seine tiefgründigen Recherchen die Grundlagen gelegt, auf denen wir bei zukünftigen Diskussionen gut aufbauen können.