libertäre buchseiten

Wahrnehmungen schärfen!

Vorschläge zum Umgang mit dem kolonialen Erbe des Kaiserreiches

| Christoph Ludszuweit

Reinhart Kößler/Henning Melber, Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung. Brandes & Apsel, Frankfurt/M. 2017, 172 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-95558-193-0

„Völkermord – und was dann?“ Dieser Frage gehen Reinhart Kößler, ehemals Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg und Henning Melber nach. Melber leitete die Dag-Hammarskjöld-Stiftung in Uppsala/Schweden und war von 1994 bis 2000 Vorsitzender der Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit (NaDS) in Windhoek, wo ich ihn zum Nachbarn hatte und im Vorstand der NaDS mit ihm einige Jahre zusammenarbeiten durfte. Beide veröffentlichten zahlreiche Bücher und Aufsätze und waren mehr als 30 Jahre im Vorstand der Informationsstelle Südliches Afrika aktiv.

In ihrer jüngsten Veröffentlichung zur Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung rekapitulieren sie den Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, eines „Völkermordes, der keiner sein sollte“, wie es im zweiten Kapitel treffend heißt, wo sie der Tabuisierung des V-Wortes nachgehen und danach fragen, ob es eine „Verdrängung durch die Konkurrenz der Opfer“ und „Schuld und Vergebung ohne Entschädigung“ gibt.

Der 1904 bis 1908 geführte Krieg war von einer gnadenlosen Vernichtungsstrategie der deutschen Kolonialarmee gegen die Völker der Hereo und Nama geleitet. Selbst die Vereinten Nationen stuften ihn als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts ein. Viele deutsche Regierungen hatten sich einer entsprechenden Anerkennung widersetzt. Auch Joschka Fischer machte als Außenminister in dieser Frage keine gute Figur. Eine rühmliche Ausnahme bildete die (ehemalige) Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die erstmals 2004 als Regierungsmitglied die Verbrechen der deutschen Kolonialtruppen als das bezeichnete, was sie waren – ein Völkermord. Sie hatte um „Vergebung unserer Schuld“ gebeten und steuerte denn auch ein Vorwort bei, in dem sie das Buch als „willkommenen Beitrag“ dazu begrüßt, „unsere Wahrnehmungen zu schärfen. Es plädiert eindringlich für geeignete Schritte zu einer deutsch – namibischen Begegnung im Sinne wirklicher Völkerverständigung.“

Erst 2015 wurde von offizieller deutscher Seite eingeräumt, dass die damaligen Geschehnisse einem Völkermord gleichkamen. Verhandlungen zwischen Sonderbeauftragten der deutschen und namibischen Regierung wurden darüber aufgenommen, wie man mit dem lange verdrängten Kapitel gemeinsamer Geschichte angemessen umgehen kann.

Am Ende soll es wohl eine Entschuldigung von deutscher Seite geben, eine gemeinsame Resolution beider Parlamente und von Deutschland finanzierte sogenannte Zukunftsprojekte in Namibia.

Am 5. Januar 2017 wurde vor einem US-Gericht in New York eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht, durch den Paramount Chief der Ovahereo Vekuii Rukoro, Chief David Frederick als Vorsitzendem der Nama Traditional Authorities Association und Barnabas Veraa Katuuo als Vertreter der Association of the Ovaherero Genocide in the USA. Diese Klage hat mit den damaligen Verbrechen der Deutschen zu tun, für die sich Deutschland bislang noch nicht entschuldigt hat. Im Oktober findet die nächste Anhörung statt. Seit Einreichung der Klage stocken die Verhandlungen auf Regierungsebene, zumindest haben sie verzögernde Wirkung auf die Gespräche.

Berlins Verhalten erinnert an die drei Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Auch die namibische Regierung scheint zunächst abzuwarten, was in New York geschieht, bevor es weitergeht.

Berlin mauert und duckt sich in der Frage „Völkermord – und was dann?“

Umso wichtiger ist gerade jetzt dieses Buch, weil es ohne Denkverbote die Frage untersucht, wie sich eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Völkermord überhaupt ermöglichen lässt.

Die Autoren zeichnen akribisch die Aktivitäten postkolonialer Initiativen nach und unterstreichen ihren Lokalbezug, frei nach dem Postulat: „think globally, act locally“. Diese nutzen mit ihren Interventionen (z.B. Straßenumbenennungsfesten, Aktionen vor öffentlichen Denkmälern und Friedhöfen) den öffentlichen Raum als Demonstrationsmaterial und Gestaltungsraum, „ein bemerkenswert wirksames Mittel, Erinnerungsinhalte im öffentlichen Bewusstsein zu verankern“, schließlich „dienen Straßennamen der Orientierung, nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Geschichte.“ (Aikins 2009)

Die in Deutschland noch immer anzutreffenden Kolonialdenkmäler waren – wie ein historischer Abriss zeigt – bereits seit den späten 1960er Jahren Gegenstand politisch phantasievoller Aktionen: 1967/68 kam es zum Sturz des Wissmann-Denkmals vor der Hamburger Universität, 1978 wurde der Adler vom Göttinger Südwestafrika-Denkmal entfernt, und 1982 gab es in Münster eine Initiative, das Münsteraner Train-Denkmal, mit dem den im Namibischen Krieg gefallenen Deutschen gedacht wird, durch eine auf den Völkermord verweisende Mahntafel zu ergänzen. Spektakulär war eine Aktion in Bremen, wo der sog. Bremer Elefant, ein zwölf Meter hoher Backsteinbau, 1932 mit der Widmung „Unseren Kolonien“ als Kolonialdenkmal eingeweiht, in verschiedenen Phasen zum Antikolonialdenkmal mit Bronzetafel umgewidmet wurde. 1996 wurde in Anwesenheit des langjährigen namibischen Präsidenten Sam Nujoma eine weitere Gedenktafel explizit „Zum Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia 1884-1914“ eingeweiht. Im August 2009 erinnerte dann eine Installation mit Felsbrocken vom Waterberg an die Opfer der Schlacht von Ohamakari, bis 2014 der gesamte Komplex zum „Nelson-Mandela-Park“ erklärt wurde, „der Verbundenheit Bremens und der Aussöhnung mit dem afrikanischen Kontinent“ gewidmet.

Ähnliche Vorschläge fanden 2016 erstmals in der Koalitionsvereinbarung einer Landesregierung ihren Widerhall. Der rot-rot-grüne Senat in Berlin formulierte ausdrücklich sog. „vergangenheitspolitische Zielvorgaben“ und sprach Projekte an, die die „Migrationsgeschichte der Stadt thematisieren, sich mit der deutschen Kolonialherrschaft auseinandersetzen und die internationalen Bezüge der Berliner Geschichte hervorheben“. Zudem wurde als „besondere Verpflichtung“ hinsichtlich der „Anerkennung, Aufarbeitung und Erinnerung deutscher Kolonialverbrechen wie dem Völkermord an den Herero und Nama“ festgehalten.

Für die aktuellen Debatten über die Gewaltgeschichte des deutschen Kolonialismus liefert das Buch gute, fundierte Argumente, gerade auch gegen einen bei Kolonialismus-Ausstellungen oder beim Streit um den Bau des Humboldt-Forums ungebrochen anzutreffenden „Exotismus, der den Blick von ‚innen‘ nach ‚außen‘ nicht wirklich hinterfragt“. Es stellt auch konkrete Forderungen an Bildung, Unterricht und Forschung, sich den nicht nur in der konservativen Presse, vorherrschenden medialen Verzerrungen der Wirklichkeiten im heutigen Namibia entgegen zu stellen.