Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat (Hrsg.), race & sex. Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen. Neofelis Verlag, Berlin 2016, 422 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-95808-034-8
Auseinandersetzungen mit Rassismus und Sexismus, zumal in ideologie-, kultur- und selbstkritischer Perspektive – vielleicht sogar (wenn ich bitten darf) um klassenanalytische Aspekte ergänzt? – sind begrüßenswert.
In Zeiten von rechtem Populismus, dessen Fremdenfeindlichkeit und Machismo neue Formen von Altbekanntem aktiviert, sind diese sogar dringend nötig. So besehen verdient dieser Band wohlwollende Aufnahme, zumal er mit den spezifischen Formen der thematischen Befassung Neuland betritt.
Doch die Freude über solch innovative Beschäftigung mit historischen Verbindungslinien in ihrer Bedeutung für die Gegenwart wird leider durch einige Unzulänglichkeiten gedämpft. So wird insbesondere durch die selektive Auswahl für eine deutschsprachige Zielgruppe eine Chance vergeben. Denn der Band versäumt es, gerade die besonderen Verbindungslinien einer deutschen Geschichte der Expansion auf den Rest der Welt und deren ideologische Verbrämung hinreichend zu dokumentieren. Auch bleiben die bis heute wirksamen mentalitätsgeschichtlichen Rückwirkungen auf das deutsche „Mutterland“ (oder eher doch Vaterland) weit gehend verdeckt und werden keinesfalls deutlich genug heraus gearbeitet. Das aber wäre die eigentliche, auch politische Herausforderung, um das wichtige Thema in eine praxisrelevante Handlungsweise übersetzen zu können.
Der deutsche Kolonialismus wird nur am Rande durch Artikel von Silke Hackenesch zum Sarotti-Mohr (S. 217-225) und Felix Axster zur Zeitschrift „Kolonie und Heimat“ (S. 242-247) thematisiert.
In beiden Fällen handelt es sich auch nicht um „Schlüsseltexte“ im eigentlichen Sinne, die ansonsten der Bezugspunkt der meisten Beiträge sind. Dabei hätte es durchaus passendes Anschauungsmaterial gegeben, wie etwa Margarethe von Eckenbrechers Memoiren „Was Afrika mir gab und nahm. Erlebnisse einer deutschen Ansiedlerfrau in Südwestafrika“.
Ursprünglich 1906 erschienen, wurde dieser Klassiker weiblicher kolonialer Pionierleistungen bis 1940 (!) in acht Auflagen veröffentlicht. Leider wurde auch eine ganz andere Pionierleistung zu diesem Thema übersehen. Schon vor Jahrzehnten nämlich befasste sich Martha Mamozai intensiv und tiefsinnig in ihren Büchern „Herrenmenschen – Frauen im deutschen Kolonialismus“ (1982) und „Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien“ (1989) mit einem Kernanliegen des Bandes. Ihr Name taucht aber selbst als Querverweis nicht auf.
Abwesend bleiben auch weitere insbesondere für den deutschen Sprachraum relevante Analysen, etwa von Susanne Arndt zu den vielfältigen sprachlichen Reminiszenzen an (auch frauenfeindlichen) Rassismus. Die verdienstvollen Arbeiten von Nora Räthzel bleiben ebenfalls unerwähnt. Vor 30 Jahren hatte sie maßgeblichen Anteil daran, dass Autoren wie Stuart Hall (der zu Recht mit einem Kapitel gewürdigt wird), aber auch Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein und Robert Miles (die alle zu Unrecht kein einziges Mal Erwähnung finden) hierzulande populär wurden.
Da ist es schon nicht mehr verwunderlich, dass die Verdienste zahlreicher in deutscher Sprache veröffentlichter Texte u.a. von Urs Bitterli, Wulf D. Hund, Léon Poliakov und Aram Ziai (um nur Einige relativ willkürlich beispielhaft zu nennen) in den um Literaturhinweise ergänzten 49 Schlüsseltexten keinerlei Erwähnung finden.
Selbst die Studie von Ina Kerner zu „Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus“ (Frankfurt/M. 2009) bleibt ungenannt. Auch die einschlägigen Beiträge von Afro-Deutschen und zahlreiche postkolonialen Initiativen bleiben weitgehend ungewürdigt. Die Herausgeber (und zahlreiche der Autor*innen) scheinen sich zwar etwas näher mit den postcolonial studies vertraut gemacht zu haben, aber vergleichsweise weniger mit den politisch gewendeten postkolonialen Initiativen im eigenen Land.
Das ist jammerschade, denn damit wurde die Chance vertan, explizit einen Brückenschlag auch in die deutsche Alltagsgegenwart zu vollziehen. Ein Anliegen, das den Herausgebern ja gerade Motiv für dieses Projekt gewesen ist. Schließlich präsentieren sie nach eigenen Worten „eine Geschichte der Gegenwart … die im Heute ansetzt und deren Ziel es ist, die anhaltende Wirkungsmacht des Denkens, der Praktiken und Politiken um race & sex aufzuzeigen“ (S. 22).
Deren durchaus dem Thema angemessene knappe Einleitung (S. 13-24) weckt deshalb Erwartungen, die der Erschließung für das politische Engagement in der Bundesrepublik leider nur bedingt erfüllt werden. Der sich geradezu anbietende Blick auf die Verhältnisse im eigenen Land bleibt getrübt.
Der Beitrag zum „Sarotti-M***“ lässt zum Beispiel rätseln warum der Begriff“Mohr“ aus dem Titel getilgt wurde, wo er doch im Text durchgängig Verwendung findet. Als Bild des Schwarzen in der deutschen Werbung wird er eingängig und genau analysiert. Aber die anhaltende kontroverse Diskussion um die Umbenennung der „Mohrenstraße“ in Berlin wird übergangen und deren Namensgebung nur en passant und unter Verweis auf einen Verteidiger des Namens (S. 218) erwähnt.
So gelingt es der Sammlung zwar insgesamt, „die grundlegende Ambivalenz von Macht- und Unterwerfungsoperationen zum Ausdruck (zu bringen), die grenzüberschreitend und grenzkonsolidierend zugleich sind“ (S. 17). Aber sie stößt bei der Verwirklichung des Vorhabens zugleich selbst auf Grenzen, die durch einen genaueren Blick auf und in die einschlägige deutsche Auseinandersetzung mit dem Thema in den letzten 30 Jahren hätten überwunden werden können. Deshalb bleibt ein ambivalentes Fazit: Gut gemeint, aber mit bedauerlichen Auslassungen. Als anregende Lektüre zum Nach- und Weiterdenken eignet sich die Textsammlung jedoch allemal.
Vom Rezensenten erschien 1992 bei Brandes & Apsel in Frankfurt/Main Der Weißheit letzter Schluss: Rassismus und kolonialer Blick.