Ulrich Brand / Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. Oekom Verlag, München 2017, 224 Seiten, 14,95 Euro, ISBN 978-3-86581-843-0
Wir leben über unsere Verhältnisse. Unsere Art und Weise, Arbeit und Leben zu gestalten, gefährdet die ökologischen Grundlagen allen Lebens. Sie ist daher auch nicht verallgemeinerbar. Aber wer sind wir und was ist unser Leben?
Die Kollektivbezeichnung erscheint zunächst provokativ, sind doch Privilegien per definitionem wenigen vorbehalten. Das Wir dürfte also recht klein sein. Ist es aber nicht, glaubt man den Politikwissenschaftlern Ulrich Brand und Markus Wissen. Es ist die „imperiale Lebensweise“, die auch die weniger Begüterten in die – global betrachtet – privilegierte Situation mit einschließt. Zwar reproduziert die imperiale Lebensweise auch Spannungen und Spaltungen entlang der Kategorien Klassen, rassialisierter Zuschreibungen und Geschlecht. Eine Einheit stiftet sie aber auch: Die verinnerlichte und in vielfältigen Praktiken verkörperte Haltung, dass die kapitalistische Ordnung der gegenwärtigen Welt im Prinzip schon ganz O.K. ist. Dass diese Ordnung aber nicht nur auf Kosten anderer, sondern auch zu Lasten des ökologischen Gleichgewichts geht, wird ausgeblendet, externalisiert.
Wie es historisch dazu kommen konnte, wie also die imperiale Lebensweise durchgesetzt wurde, beschreibt das Buch ebenso wie es die theoretische Bedeutung des Begriffes klärt.
Sozialtheoretisch geht der Begriff der imperialen Lebensweise über Konzepte von Lebensstil und Lebensführung hinaus, die tendenziell vor allem individuelle Gewohnheiten adressieren, und dient als Vermittlung: Die imperiale Lebensweise „verbindet den Alltag der Menschen mit den gesellschaftlichen Strukturen“ (46). Die Rede von der imperialen Lebensweise knüpft an jene Ansätze an, die die Stabilität von Herrschaft über Partizipationen und Konsense, über Beteiligungen und unbewusstes Einverständnis zu erklären versucht haben. Vor allem in den Arbeiten von Antonio Gramsci und von Pierre Bourdieu finden sich die Grundlagen dafür zu verstehen, wieso und inwiefern die Zumutungen der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialordnung von vielen nicht nur als Leid und Zerstörung, sondern, wie Brand und Wissen schreiben, „vielfach als Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten“ (55) empfunden werden. Das betrifft eben ganz alltägliche Möglichkeiten, wie die, ständig Auto zu fahren und technische Geräte zu benutzen, Urlaubsziele mit dem Flugzeug zu bereisen und das ganze Jahr über Erdbeeren zu essen. Zustimmung wird über Konsum organisiert, trotz vielfältiger Infragestellungen erfährt die imperiale Lebensweise im globalen Norden „hohe Akzeptanz“ (99). Aber nicht nur die soziale Bedeutung des Massenkonsums, auch die politische Hinwendung subalterner Klassen zu rechtspopulistischen Parteien kann tatsächlich nur von einer solchen, auf Konsens orientierten Perspektive schlüssig erklärt werden. Bei der Hinwendung zu regressiven Politiken geht es schließlich auch wesentlich um die Verteidigung von Lebensweisen: An CO2-Ausstoß und Fleischkonsum soll sich nichts ändern, aber andere, etwa Geflüchtete, sollen nicht mitmachen dürfen.
Zentrales Kennzeichen der Ressourcen verschleudernden Lebensweise ist die Externalisierung. Das bedeutet nicht nur, dass die negativen Effekte der westlichen Konsumnormen wie etwa die Zerstörung subsistenzorientierter Landwirtschaft und Umweltkatastrophen vor allem anderswo auftauchen, also nicht in Westeuropa und Nordamerika (plus Japan und Australien). Es bedeutet auch, dass die Folgen der Lebensweisen nicht nur für das Klima, sondern auch für Arbeitsverhältnisse in anderen Weltregionen systematisch ausgeblendet werden.
Die niederschmetternden Fakten, mit denen die Autoren hier in ihren Theorieentwurf untermauern, deuten auch eher auf eine „Vertiefung der imperialen Lebensweise“ (104), als darauf, dass hier etwas krisenmäßig zusammenbricht. Sie etabliert sich schließlich nicht nur als Konsens, sondern auch als stummer Zwang der Verhältnisse: Zum Einkauf im Discounter, wenn das Geld ansonsten nicht reicht, zur Vielfahrerei, wenn der Job es erfordert. Dass sich die Nachfrage nach Kohle in China seit 2000 verdreifacht hat oder dass in Deutschland auf ein neu gekauftes Elektroauto 36 SUVs kommen, sind Indizien für das Anwachsen der globalen Mittelschichten.
Die Stärke von Brands und Wissens Ansatz liegt vor allem in den politikwissenschaftlichen Analysen und weniger im Beitrag zur empirisch fundierten Kulturtheorie. Hier bietet das Buch allerdings viele Ansatzpunkte für anschließende Studien: Es ginge dabei um nicht weniger als herauszufinden, wie genau „Alltagsbewußtsein“ (Gramsci) organisiert und der akzeptierende „Habitus“ (Bourdieu) langfristig erzeugt werden.
Historisch zeichnen Brand und Wissen diesen Prozess nach, ausgehend von der Phase kapitalistischer Akkumulation, die nach dem Autohersteller Henry Ford als Fordismus benannt wurde: Hier dominierte eine Massenproduktion von Gütern, die sich die produzierenden Massen erstmals auch selbst kaufen konnten. Die damit einhergehende Lebensweise wurde von den USA ausgehend ausgeweitet und hat es, trotz Infragestellung durch soziale Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, zu globaler Dominanz gebracht. Nicht nur Projekte der Eliten wie etwa die „Expansion der industrialisierten Landwirtschaft“ (101), sondern auch soziale Kämpfe von unten waren dafür ausschlaggebend. Die Steigerung der Lebensstandards für viele Menschen in Brasilien, Mexiko oder Indien sind ohne diese nicht zu denken. Die Autoren heben stark auf solche Kämpfe und auf Kräfteverhältnisse ab, was trotz aller desaströsen Entwicklungen darauf hinweist, dass die Zukunft offen ist.
Politisch machen die Autoren auch deutlich, dass für eine grundlegende Transformation auf Staat und Markt nicht zu setzen ist. Anhand ihrer Analyse des „grünen Kapitalismus“ und des Nachhaltigkeitsdiskurses wird klar, wie – ökologisch und sozial betrachtet – unzureichend diese Entwicklungen letztlich sind. Zwar wird der Verbrauch reguliert, aber die ökologischen und sozialen Produktionskosten nicht in Frage gestellt. Es ginge aber darum, „gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten und Leitbilder“ (169) grundsätzlich zu hinterfragen.
Strategisch würde das bedeuten, „solidarische Lebensweisen“ (165) auszubauen – nach Brand und Wissen „Formen menschlichen Zusammenlebens [ ], die nicht auf Prekarisierung vieler oder auch nur einiger Menschen und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse beruhen.“ (179) Dafür müssten einerseits die bewussten Konsumformen der Bourgeois Bohémiens und anderer MittelklässlerInnen politisiert und an klassenbewusste Politiken sozialer Gleichheit angeschlossen werden. Andererseits bräuchte es aber auch eine Politik gegen die Externalisierung, also eine „Bringing the war home“-Strategie á la Martha Rosler: Die US-amerikanische Künstlerin hatte zu Zeiten des Vietnam-Krieges eine Serie von Collagen gemacht, auf denen die Bilder aus Katalogen von Inneneinrichtungen mit Kriegsfotos aus Vietnam kombiniert wurden. Es geht auch um ein schmerzliches Bewusstwerden. Das jedenfalls steht fest und deshalb ist das Buch von Brand und Wissen auch ein Buch der Stunde.