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Self-Tracking oder: Was Orwell nicht kommen sah

Simon Schaupps Analyse von Self-Tracking-Technologien ist beängstigend überzeugend

| Kerstin Wilhelms-Zywocki

Simon Schaupp: Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2016, 154 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-29-8

Wir leben in einer Gesellschaft, die der in George Orwells schauerlicher Überwachungsdystopie 1984 erschreckend ähnelt, lediglich mit dem Unterschied, dass wir uns unserer Überwachtheit weniger bewusst sind, als es die Figuren im Roman sind, und dass wir freiwillig und fast unmerklich selbst zu dieser Überwachungskultur beitragen.

Simon Schaupps Buch „Digitale Selbstüberwachung. Self-Tracking im kybernetischen Kapitalismus“ stellt dies drastisch vor Augen.

Auf der Grundlage seiner Master-Thesis zum gleichen Thema legt Schaupp nun einen Text vor, der sicherlich wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, zugleich aber durchaus lesbar und verständlich geschrieben ist.

Die zentrale Frage lautet, warum Menschen bereit sind, sich freiwillig selbst zu überwachen und sogar dafür zu bezahlen. Diese tatsächlich erstaunliche Tatsache sieht Schaupp in den Spezifika des ‚kybernetischen Kapitalismus‘ begründet, ein Begriff, mit dem der Autor das Verhältnis von technologischer Informationsverarbeitung und konstanter Selbstkontrolle bzw. Selbstoptimierung im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik von ‚Human Ressources‘ bezeichnet.

Nach einem notwendigerweise (und zum Glück!) oberflächlichen, aber durchaus instruktiven Ritt durch postmoderne Philosophien zu Herrschaft und Überwachung, stellt Schaupp verschiedene Self-Tracking Technologien vor sowie die Werbung, mit der diese angepriesen werden. Hieraus leitet er durchweg überzeugend ab, welches Menschenbild mit diesen Technologien verbunden ist: Es kommt zu einer „Integration der gesamten Subjektivität in die Warenproduktion und das Selbst [wird] als ein Unternehmen imaginiert“ (139). Mit anderen Worten: Self-Tracking schreibt die kapitalistische Verwertungs- und Optimierungslogik tief in die Psyche des Menschen ein, so dass die kapitalistische Logik dauerhafter Effizienzsteigerung zum Bewertungsmaßstab des eigenen Erfolgs wird in zutiefst intimen Bereichen, wie Fitness, Gesundheit, soziale Aktivitäten und persönliches Zeitmanagement, um nur Beispiele zu nennen.

Besonders deutlich wird diese Auswirkung auf den persönlichen Selbstentwurf des Individuums anhand von Simon Schaupps Ausführungen zum Männlichkeitsbild, das mit dem Self-Tracking einhergeht.

Wie Schaupp behauptet, sind die meisten Diskurse, die mit dem Self-Tracking verbunden sind, männlich konnotiert (124).

Insbesondere die Werbung für eine Weightwatchers-App verdeutlicht dies: Mit militaristischen Bildern des gestählten männlichen Soldaten wird der Verlust von Fettpölsterchen zur heroisch-maskulinen Tat stilisiert. Freilich hat der Autor recht, wenn er an dieser Stelle schreibt, dass der Mann hier in einen traditionell weiblich konnotierten Diskurs platziert wird, der zunächst ‚vermännlicht‘ werden muss, um ihn für Männer attraktiv zu machen. Es hätte den Ausführungen aber gutgetan, zum einen diese auf Pierre Bourdieu zurückgeführten Überlegungen stärker kritisch zu reflektieren und auch das subkutan dauerhaft präsente Weiblichkeitsbild in diesen Diskursen stärker zu fokussieren, anstatt laufend einfach zu behaupten, was alles ‚weiblich konnotiert‘ ist. Dennoch überzeugt die Argumentation, dass sich anhand der hier entworfenen Männlichkeitsbilder das Funktionieren von Self-Tracking für den Selbstentwurf generell erkennen lässt: Der Mann wird als ökonomisch rational, egozentrisch, wenig loyal, aber sehr bemüht um sein eigenes Image entworfen (126); die Figur des ‚Managers‘ ersetzt den klassischen ‚Erwerbsarbeiter‘ im Sinne der neoliberalen ‚Flexibilisierung‘ des Arbeitslebens (123 f.).

Männlich ist also jede/r, der oder die sich entsprechend dieser kapitalistischen Logik entwirft und bereit ist, sich dauerhaft zu optimieren, effizienter zu werden und ihre oder seine Leistung zu steigern im Sinne des ‚kybernetischen Kapitalismus‘.

Der Text ist, obwohl er sich sichtbar um eine allgemeinverständliche Sprache bemüht, eine wissenschaftliche soziologische Arbeit und ist daher nicht unbedingt als abendliche Unterhaltungslektüre zu empfehlen.

Das Ergebnis jedoch ist so bemerkenswert schlüssig wie beängstigend: Menschen vermessen sich selbst, weil es ein Bedürfnis des Kapitalismus ist, über sich stets selbst optimierendes Humankapital zu verfügen.

Dieses Bedürfnis wird über Self-Tracking-Technologien in die Psyche der User implementiert und so zum eigenen Bedürfnis des Subjekts. Oder anders gesagt: Nicht der Mensch bringt den Kapitalismus hervor, sondern der Kapitalismus bringt einen bestimmten Menschen hervor.

Und das ist beängstigend, denn wo dies geschieht, ist es mit einem kritischen Potenzial nicht mehr weit her. Das sieht auch Schaupp, der am Ende seiner Ausführungen kurz über emanzipatorische Nutzungen digitaler Technologien reflektiert, dabei aber nicht sehr weit kommt.

Hier ist es also dringend nötig, mit libertären Ideen anzusetzen, weiterzudenken und Gegenentwürfe zu präsentieren.