Im Oktober 2017 eröffnete Joris Kern in der GWR 422 mit seinem Artikel "Konsens als radikale Kultur von Wertschätzung, Kontakt und Verletzlichkeit" (S. 10 f.) eine Diskussion, die Katja Einsfeld im November in der GWR 423 mit ihrem Artikel "Robuste Konsenskonzepte" (S. 17) fortsetzte. Auf diese beiden Artikel bezieht sich im folgenden Beitrag Jan Rolletschek. Joris Kern antwortet im Dezember in der GWR 425. Wir freuen uns über weitere Texte und laden unsere LeserInnen ein, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. (GWR-Red.)
In dem Artikel von Joris Kern (GWR 422) geht es um die Vereinbarkeit von Bedürfnissen in Prozessen kollektiver Organisierung, die eben von diesen Bedürfnissen ausgehen. Dabei wird ein radikaler Ansatz der Konsensfindung grundlegend unterschieden von der heute üblichen „Kompromisskultur“, in der unvereinbare Bedürfnisse starr gegeneinanderstehen und infolgedessen ein „Mittelweg“ beschritten wird. Hierauf hat Katja Einsfeld in ihrem Artikel (GWR 423) eingewandt, dass ein zu starker Bezug auf Bedürfnisse, die Handlungsfähigkeit eines Projektes lähmen und einer Diktatur der Minderheit gleichkommen kann. Dies ist zwar richtig, setzt aber einen starren Begriff des Bedürfnisses voraus, der selbst zweifelhaft ist und jener diskussionsarmen „Kompromisskultur“ entstammt, die von Kern zurückgewiesen wurde.
Als ich die Überschrift des Textes von Joris Kern las, war ich zunächst skeptisch: Sollten hier etwa Schwäche und „Verletzlichkeit“ kultiviert oder zu Tugenden erhöht werden, mit denen sich in Konflikten auch dann noch punkten lässt, wenn die eigene Argumentation brüchig wird? Würden „Verletzlichkeit“ und der Bezug auf die „Bedürfnisse“ so nicht unweigerlich zu Strategien der Immunisierung und der defensiven Dominanz derer, die sich in einen nicht weiter befragbaren Bereich privater Innerlichkeit zurückziehen, aus dem die eigenen Bedürfnisse gleichsam naturwüchsig hervorbrechen? So ginge also die Argumentation, um jede Argumentation zu vermeiden: Ganz einfach aus dem Grund, dass sie „meine Bedürfnisse“ und in mir selbst gegründet sind, sind sie der Begründung unbedürftig und so zugleich jeglicher Kritik entzogen.
Ähnliches hat womöglich auch Katja Einsfeld befürchtet, als sie in ihrer Erwiderung vor einem „Wettbewerb der Befindlichkeiten“ warnte und schrieb, dass „Leute, die wiederholt auf persönlichen Bedürfnissen beharren und damit das Wohl des Projektes hinten an stellen“ nicht von ungefähr mitunter als mental ungeeignet für kollektive Organisierungsprozesse bezeichnet werden oder einfach „im falschen Projekt“ (GWR 423) sind.
Bei der Lektüre von Kerns Artikel ist meine Skepsis jedoch bald weitgehend verflogen. Die drei Stellen, an denen von „Verletzlichkeit“ die Rede ist, handeln gerade nicht davon, dass einzelne Beteiligte auf ihrer einmal etablierten Bedürfnisstruktur beharren, sondern im Gegenteil davon, sie der Infragestellung zugänglich zu machen und damit auch ihre Veränderbarkeit einzuräumen. Es geht also nicht darum, dass „Menschen wiederholt ihre Bedürfnisse stark fordernd in den Vordergrund stellen“ (GWR 423), sondern darum, die eigenen Bedürfnisse überhaupt zu allererst angstfrei zu artikulieren und sie dadurch zugleich auch zur Diskussion zu stellen. So erst wird die freiwillige Einigung möglich; so wird es möglich, eine Konstellation zu entwerfen, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten dann auch tatsächlich berücksichtigt sind.
Offenbar werden Bedürfnisse hier also nicht als statisch begriffen, auch wenn sie im Prozess ihrer Veränderung jederzeit wieder als „Bedürfnisse“ bezeichnet werden, woraus eine gewisse Verwirrung und ein Schwanken auch in Kerns Text selbst entsteht. So ist es etwa im Konfliktfall eine unmöglich zu erfüllende Forderung, die Bedürfnisse anderer ihrem konkreten Inhalt nach unterschiedslos als gleichwertig zu betrachten oder gar wertzuschätzen.
Es ist die Forderung, gleichzeitig anders zu denken, als man gerade denkt. Wäre dies möglich (was es nicht ist), so gäbe es paradoxer Weise weder einen Konflikt, noch die Chance ihn zu lösen, sondern nur das Auseinanderfallen des Gleichwertigen, die reine Disparität, das Ende jedes gemeinsamen Projektes. Es lassen sich jedoch Inhalt und Bedürfnishaftigkeit eines Bedürfnisses unterscheiden. Letztere wird individuell empfunden und kann als solche auch unabhängig vom konkreten Inhalt für voll genommen werden. Nur insofern können wir auch im Konfliktfall finden, „dass die Bedürfnisse der anderen Beteiligten genauso wichtig sind wie die eigenen“ (GWR 422), was durchaus eine Voraussetzung der Einigung ist.
Im Wesentlichen geht es darum, dass auch die individuellen Bedürfnisse – und andere gibt es nicht – von vornherein gesellschaftlich produziert und daher ebenso veränderlich sind.
Es gibt einen Zusammenhang der Bedürfnisse untereinander und die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zieht andere nach sich. Es ist deshalb möglich, durch die Art der Beziehungen, die wir eingehen, gezielt neue und andere Bedürfnisse als die bisherigen in uns hervorzubringen. Lediglich, weil im Prozess der Einigung „die ursprünglichen Wünsche oder Positionen keine Begrenzung, sondern ein Startpunkt“ sind, besteht die Aussicht, eine gemeinsame „Strategie“ zu entwerfen, „in der möglichst alle Bedürfnisse erfüllt werden“ (GWR 422). Wohl um diese Veränderlichkeit auszudrücken, jedenfalls die Beweglichkeit zu steigern, unterscheidet Kern auch zwischen tieferliegenden Bedürfnissen einerseits und ihrer kontextbezogenen Äußerung in konkreten „Wünschen“ andererseits. Wenn auch der Wunsch in uns aufsteigt, so ist er doch von vornherein sozialer Natur und gesellschaftlich erzeugt.
In ihrer Erwiderung scheint Katja Einsfeld jedoch eine eher statische, weil privatistische Konzeption des Bedürfnisses zu Grunde zu legen, so dass man beim Lesen ein wenig den Eindruck bekommt, als ginge ihre Kritik am Gegenstand vorbei. Weil diese privatistische Konzeption des Bedürfnisses tatsächlich weit verbreitet ist, weist Einsfeld dabei zwar auf wirkliche Gefahren hin, reproduziert jedoch tendenziell den falschen Begriff. Auch das Selbstverhältnis zu den „eigenen Bedürfnissen“, nach Art eines Privatbesitzes, dessen Wahrung sich gegen „das Wohl des Projektes“ verselbständigt, anstatt sich durch das allgemeine Wohl hindurch zu realisieren, ist ein gesellschaftlich produziertes.
Ungeachtet dessen und als wären die eigenen Bedürfnisse nicht jederzeit und durch verschiedene Faktoren motiviert, zieht sich eine vergleichsweise harte Entgegensetzung von privatem Bedürfnis und kollektivem Gesamtinteresse durch den ganzen Text, mit Konsequenzen bis in viele Einzelheiten hinein. So ist von der „Kommunikation auf Gefühls- und Bedürfnisebene“ die Rede, als wäre sie von eher rationalen Erwägungen gleichsam getrennt, weshalb auf dieser Ebene nicht „alles zu klären“ (GWR 423) sei. Als handelte es sich bei Bedürfnissen per se um das rein Privatistische, Irrationale und schrullig Partikulare, dem die objektive Sachlage schroff gegenübersteht. Als wären nicht auch die eigenen Bedürfnisse und Gefühle mitgeprägt und informiert sogar von aufs Ganze gehenden Idealen und begründeten Ansichten den gesellschaftlichen Kontext betreffend. Als gäbe es nicht auch das Bedürfnis, vernünftig zu handeln und das eigene Bedürfnis in freiwilliger Verbindung mit anderen und nicht etwa gegen sie zu realisieren.
„Je nach Kontext kann der Fokus auf Bedürfnisse entweder gut und richtig sein“, schreibt Einsfeld, „oder es sollten auch Projektbelange, Ziele, Erfahrungen, Untersuchungsergebnisse und strategische Argumente bedacht werden“ (GWR 423). Aber handelt es sich denn um ein Entweder-Oder? Kommt es nicht darauf an, die Bedürfnisse, mit der größeren Konstellation, mit Zielen und Projektbelangen so weitgehend in Übereinstimmung zu bringen, dass kein bedeutender Widerspruch zwischen diesen und jenen entsteht? Ist nicht gerade dies der Prozess der Konsensfindung und der Zusammenfügung unterschiedlicher Leben zu einer Handlungseinheit, die mehr vermag als die Einzelnen allein für sich vermocht hätten?
Wenn dann wirklich alle Beteiligten zustimmen, „weil sie einsehen, dass das aktuell die beste Lösung für das Projekt ist“ (GWR 423), so ist dies kein fauler Kompromiss, sondern rein alles, was von einem Konsens in einer unvollkommenen Welt verlangt werden kann. Der Ausgang von den Bedürfnissen steht also nicht gegen diese Bedenken, steht der Rücksicht auf Ziele, Projektbelange usw. nicht als ihr ganz Anderes gegenüber. Die Bedürfnisse selbst sind umgekehrt das Resultat auch dieser allgemeineren Bedenken, sind durch Argumente, zumal des eigenen Umfeldes, mitgeprägt und durch Gründe veränderbar.
„Je nach Kontext“ – aber wer entscheidet? – kann es auch nötig sein, partikulare Bedürfnisse einzuklammern, um den Fortgang eines Projektes nicht zu gefährden. Dem lässt sich nicht widersprechen. Und hier zeigt sich ein Manko der Rede von der „Konsenskultur“: die Schwierigkeit nämlich, das zumindest vorübergehend nicht Integrierbare in die eigenen Überlegungen einzubeziehen oder überhaupt angemessen zu denken. Weil Einsfeld sich dem Nichtdenken des grundlegend Heterogenen verweigert, endet ihr Text mit einer ganzen Reihe praktischer Fragen. Wie umgehen mit dem Dissens, mit den Bedürfnissen und Ansichten, die sich vorerst nicht integrieren lassen?
An dieser Schwierigkeit setzt der eigentliche Einwand an, den Einsfeld einer Konsenskultur macht, deren Begriff von Konsens ihr als zu „fragil“ erscheint, insofern die gemeinsame Handlungsfähigkeit von der jederzeit völligen Übereinstimmung aller Beteiligten abhängen soll und den Schwankungen der individuellen Bedürfnislagen ausgesetzt bleibt. Entgegen dieser Fragilität und Anfälligkeit für zart keimende Bedürfnisse fordert sie ein „robustes“ Konzept von Konsens, das größere Handlungseinheiten und längerfristige Planungszeiträume ermöglicht.
Sicher, ein gemeinsamer Handlungskonsens ist robust, wenn sein grundsätzlicher Fortbestand nicht von den Grillen und vorübergehenden Launen Einzelner abhängig ist. Er ist es aber auch, weil es ihm gelingt, sich für Einwände offen zu halten und so fortwährend die aktive Zustimmung aller Beteiligten sicher zu stellen und gegebenenfalls erneut zu generieren. Will sagen: Ein Konsens ist mittelfristig nur robust, wenn er sich eine gewisse Fragilität bewahrt.
Denn im Zentrum der Konsensfindung steht, als ihr Motor, der Dissens, die Diskussion, in der alles gesagt werden kann, was erst den Abgleich und die Integration der Ansichten ermöglicht. Die Einigung nimmt immer den Weg des Einspruchs, des Widerspruchs und der Infragestellung. Sie ist dissensuelle Einigung und nichts, von dem ausgegangen, das vorausgesetzt, nichts auch, das je ganz erreicht oder ein für alle Mal garantiert werden könnte.
So ist Einigkeit im vollen Sinne, wenn überhaupt, paradoxer Weise nur darüber möglich, dass es nicht nötig ist, jederzeit so ganz und gar einig zu sein, um sich dennoch nicht zu trennen. Diese robust verletzliche Einigkeit wäre Einigkeit auch darüber, dass die Handlungsfähigkeit erhalten bleibt, selbst wenn es zwischenzeitlich keinen „Konsens“ im vollen Sinne gibt und darüber, dass der Prozess der Herstellung eines Konsenses dennoch nicht abbricht.
Die lückenlose Selbstpräsenz einer Gemeinschaft in der Reflexion, die unumschränkte Fülle der Übereinstimmung ist tatsächlich ein Phantasma, das lähmende Effekte haben kann.
Man muss wissen, dass es einen Riss im Konsens gibt, im Zyklus von Handlung und Deliberation, der sich sehr wohl bearbeiten, auch verschieben, aber niemals völlig schließen lässt. Die Dinge bleiben in Bewegung; die Diskussion hört nie auf; der Konsens ist immer ein relativer und begrenzt. Bezogen auf den Gesamtzusammenhang der wirklich bestehenden Verbindungen lässt er sich niemals abschließend verifizieren. Von irgendwoher kommt ein Einspruch.
Aber man muss noch etwas anderes wissen. Die gegen die Bedürfnisse der Einzelnen sich verselbständigenden „Projektbelange“: Das ist der Staat. Nicht von den Bedürfnissen auszugehen, bedeutet ganz einfach die Verstaatlichung, die Verhärtung des Gemeinwesens gegen die Einzelnen. Die Bedürfnisse als statisch aufzufassen und der Notwendigkeit ihrer Begründung zu entziehen, birgt die umgekehrte Gefahr. Auch dies ist eine Verhärtung: der Einzelnen gegen das Ganze, und sollte dies vielleicht so sein, weil in einer Welt der Staaten so viele Einzelne heute wie kleine Staaten sind?
Die Anarchie ist weder dieses noch jenes, sondern das Gefüge der Realisation des Wunsches aller Einzelnen gemeinsam. In der Anarchie streben alle zusammen, für sich selbst das gemeinsame Wohl aller zu realisieren. Deshalb handelt jede*r zugleich um ihrer selbst willen, indem sie oder er im Sinne der „Projektbelange“ handelt.
„Konsens als radikale Kultur“ wäre weiter nichts als der unablässige Prozess, der eine Lösung für alle erstrebt, der folglich die Veränderbarkeit der Bedürfnisse und auch die Offenheit für Argumente unterstellt, selbst wenn es nicht jederzeit möglich ist, ein Unbehagen bereits zu artikulieren und fasslich zu begründen. Diese radikale Kultur ist also ganz etwas anderes als der liberale „Wetteifer der Befindlichkeiten“, der auf einer privatistischen Auffassung des Bedürfnisses basiert, dessen Eigentümer*in sich in einer Innerlichkeit verschanzt, aus der die Bedürfnisse rein, naturwüchsig, grundlos und der Begründung unbedürftig hervorquellen.
Sicher, das jeweilige Ganze prosperiert, wenn die Einzelnen prosperieren, und die Einzelnen prosperieren, wenn das Ganze prosperiert. Aber die Basis der freiwilligen Einigung ist nicht unmittelbar das Gemeinsame, sondern die Hoffnung auf den erfüllten Lebenswunsch aller Einzelnen in der Schickung individueller Welten, welche ihre Einigung ist. Das Gemeinsame ist also eine Produktion, die nicht möglich ist, wenn man nicht von den Bedürfnissen ausgeht, und auch nicht, wenn die Bedürfnisse durch diese Produktion nicht ihrerseits anders produziert werden können als bisher.