konsens

Konsenskultur und Konsensmethode

Über die Tragfähigkeit von Konsens

| Joris Kern

Wie schaffen wir es, mit dem Konsensprinzip tragfähige Vereinbarungen zu treffen? Es gibt viele verschiedene Konsensmethoden, mit denen unterschiedliche Grade von Zustimmung und Ablehnung zu einem Vorschlag abgefragt werden können und die gemeinsam haben, dass es ein Vetorecht gibt. Letzteres ist unumgänglich, denn wenn man möchte, dass Menschen freiwillig JA zu etwas sagen, müssen sie auch die Möglichkeit haben, NEIN dazu zu sagen, sonst wäre es ja nicht freiwillig. So gut, so schön.

Nun kann man diese Konsensmethoden so anwenden wie ein komplizierteres Mehrheitsverfahren. Es gibt einen Vorschlag, und daraufhin möglichst schnell eine Abstimmung. Wenn dabei niemand ein Veto hat, ist der Vorschlag angenommen und man hat sozusagen einen Vertrag geschlossen.

Diesem Vertragskonsens haben sich dann alle unterzuordnen, auch wenn möglicherweise nur ein Fünftel der Gruppe den Vorschlag super fand, der Rest Bedenken oder Ablehnung hatte.

Falls ein Veto auftaucht, ist das nervig und hält den Prozess auf, das Plenum wird länger, es stört.

Ich hingegen möchte argumentieren: Wenn bei der Konsensabfrage ein Veto auftaucht, ist im Prozess vorher etwas grundlegend schiefgelaufen. Konsens kam nur als Methode vor, nicht als Haltung.

Das „Schieflaufen“ kann verschiedene Formen haben. Z.B. kann es eine Diskussion gegeben haben, an deren Ende es so aussieht, als gäbe es eine Einigung. Bei der Konsensabfrage, die dann eigentlich nur noch eine Bestätigung der erzielten Einigung wäre, legt jedoch eine Person ein Veto ein.

Oder aber es gibt eine Diskussion mit kontroversen Meinungen und Wünschen, an deren Ende ein Konsensvorschlag formuliert wird, der nicht für alle akzeptabel ist, weswegen es zu einem Veto kommt.

In beiden Fällen ist das formale Prozedere einer Konsensmethode erfüllt, es mangelt aber an Konsenskultur.

Konsenskultur ist – kurz gefasst – die Haltung und das Bekenntnis dazu, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die für alle Beteiligten bestmöglich ihre Bedürfnisse erfüllen. Es ist der Wechsel von Kompromisskultur, in der Bedürfnisse vorrangig in Konkurrenz zueinander wahrgenommen werden, zu einer Kultur von Kooperation und Wohlwollen.

Ein Konsens, der in einer Haltung der Konsenskultur gefunden wird, ist wahrscheinlich weniger vertragsförmig, ich halte ihn trotzdem oder gerade deshalb für „solider“.

Wenn ein Konsens mit dem Hintergrund von Bedürfniskonkurrenzdenken getroffen wird, ist ein Veto einzulegen eine starke Machtausübung. Unter Umständen ist sie nötig, um sich gegen eine übermächtig empfundene Gruppe oder Dynamik zur Wehr zu setzen. Oder sie wird von Individuen genutzt, die keine Lust haben, sich mit den anderen auseinanderzusetzen, aber dennoch auf ihrer Position beharren. Eventuell empfindet der Rest der Gruppe letzteres, während die Veto-einlegende Person sich in ersterer Situation sieht.

Natürlich hat ein solches Miteinander mit der ursprünglichen Intention hinter der Entscheidung ein Konsensverfahren anzuwenden, nämlich Herrschaftsststrukturen abzubauen, nicht mehr viel zu tun.

Wenn jemand eine Gruppe zwei Stunden lang diskutieren lässt, ohne sich einzubringen und anschließend ein Veto einlegt, ist das möglicherweise ein Zeichen von fehlender Kommunikationskompetenz und Selbstkenntnis. Erstmal ist jedoch festzuhalten, dass es anscheinend vetowirksame Bedenken gegeben hat, die dadurch, dass sie nicht geäußert wurden, der Gruppe nicht zur Konsenserarbeitung zur Verfügung standen. Ein Konsens im Sinne von Konsenskultur wäre dadurch auch ohne ein Veto nicht möglich gewesen. Eine Lösung zu finden, die allen Bedürfnissen so weit wie möglich gerecht wird, kann eben nur geschaffen werden, wenn alle relevanten Bedürfnisse zugänglich sind. Ein Konsens, in dem Menschen sich schon während des Prozesses der Findung zurücknehmen oder sich nicht „gesehen“ fühlen, wird niemals enthusiastisch mitgetragen werden. Ihm wird höchstens „gehorcht“. Sich selbst transparent zu machen, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse „zur Verfügung zu stellen“ ist also ein wichtiger Aspekt von Konsenskultur. Dass man selbst immer alle Bedürfnisse genau kennt und sich dann auch noch traut, sie zu zeigen, ist natürlich utopisch, trotzdem geht es mir hier darum, aufzuzeigen, wie wertvoll es ist, diese Fähigkeit zu entwickeln und wertzuschätzen.

Im zweiten „schiefgelaufenen“ Fall ist der Prozess zu früh abgebrochen worden. Statt sich weiter auf die Bedenken einer Minderheit oder die verschiedenen kontroversen Positionen, die im raum stehen einzulassen, gab es den Versuch, eine Mehrheitsentscheidung durchzudrücken. Manchmal funktioniert das, z.B. weil Menschen sich aus Angst vor sozialen Sanktionen nicht trauen ein Veto einzulegen, oder weil sie selbst nicht „stören“ wollen und um den Gruppenprozess nicht zu blockieren eine Konsensstufe wählen, die weder Veto noch Einverständnis ist. Auch das ist letztendlich Kompromisskultur: Die Mehrheit, deren Bedürfnisse im Vorschlag enthalten sind, wird vermeintlich davon verschont, sich mit den Positionen derer auseinandersetzen zu müssen, die ein Problem damit haben. Die wiederum haben sich dem „Konsens“, also der Mehrheit, unterzuordnen. Ein solcher Konsens ist nicht nur schädlich auf der Sachebene – denn eine noch bessere Lösung kann nicht gefunden werden, weil Positionen fehlen, und die überstimmten Menschen werden sich kaum begeistert an der Umsetzung beteiligen. Eventuell werden sie den Beschluss sogar (unbewusst) sabotieren und außerdem in Zukunft noch weniger bereit sein, Abstriche zugunsten anderer zu machen. Der wirkliche Verlust liegt in Kontakt und Vertrauen, also letztendlich der Zukunftsfähigkeit der Gruppe. Menschen haben in dieser Situation und mit dieser Gruppe die Erfahrung gemacht, dass Minderheitenpositionen unbequem und unwillkommen sind, dass es nicht erwünscht ist, auf Bedürfnisse zu achten und sie zu kommunizieren. Sie fühlen sich dadurch in der Gruppe weniger sicher und willkommen.

Das gilt übrigens auch für die Menschen, deren Position sich diesmal durchsetzen konnte, denn sie wissen, dass es ihnen auch so ergehen könnte, wenn es um ein anderes Thema geht. Die Erfahrung, dass ein schneller Vertrag und die Bequemlichkeit der Mehrheit wichtiger sind als die Bedürfnisse der Einzelnen, führt zu einem Vertrauensverlust zu den Menschen, mit denen jemand in Konsensprozessen ist. Das Gefühl in der Gruppe emotional nicht „sicher“ zu sein, führt wiederum dazu, dass Menschen in Einzelkämpfermodus verfallen und in Zukunft weniger von sich zeigen, weniger bereit sind, Abstriche zu machen und weniger vertrauen, dass Konsensvereinbarungen, bei denen man sich um einen ungelösten Aspekt später kümmern will, funktionieren.

Vertrauensverlust führt zu zäheren Prozessen, wohingegen Vertrauen (und damit langfristig auch Vertrautheit) Aushandlungsprozesse auf die Dauer beschleunigen können.

Ebenso wichtig wie sich selbst transparent zu machen ist es auch, sich für die Anliegen der anderen zu öffnen, ganz besonders, wenn man selbst in einer mehrheitsfähigen Position ist oder einem das Thema relativ gleichgültig ist. Genau dann ist es besonders wichtig, sich zur Konsensfindung zur Verfügung zu stellen. In der mehrheitsfähigen Position, um ein klares Signal zu senden, dass es nicht um Gewinnen, sondern um Konsens geht. In der indifferenten Position, um Konfliktparteien, die sich nicht einigen können, oder Minderheiten, die Angst haben, ihre Bedürfnisse könnten übergangen werden, zu unterstützen. Unterstützen meine ich hier natürlich nicht im Sinne von Partei ergreifen, sondern im Sinne der Gruppe und im Sinne des konsensuellen Miteinanders vermitteln oder wieder (emotionale) Räume für gemeinsame Bewegung zu schaffen.

Gruppe kann mehr sein als die Summe ihrer Teile, wenn die Teile gern Teil der Gruppe sind und ein wichtiges Anliegen der Gruppe das Wohlergehen der Teile ist. Gruppe ist in diesem Fall etwas, das Synergie-Effekte generiert, die die kraftaufwändigen Aspekte von Gruppenprozessen überwiegen.

Eine Gruppe, der nicht (auch) das Wohlergehen der Teile ein wichtiges Anliegen ist zerfällt, weil einzelne immer wieder über ihre Grenzen gehen, um sie aufrecht zu erhalten oder sich ihr verweigern, weil sie sich nicht mit ihr identifizieren können. Gruppe wird so ein dogmatisches Konstrukt, dem sich die einzelnen unterzuordnen haben und das nur mit Gewalt und Schuldgefühlen aufrecht erhalten werden kann, weil Menschen mehr oder weniger bewusst beginnen, sich gegen das Dogma „Gruppe“ aufzulehnen, von dem sie sich eingeschränkt und ausgenutzt fühlen.

Freie Menschen in freien Vereinbarungen

Wenn wir an „freie Menschen in freien Vereinbarungen“ glauben, dann stellen sich u.a. die Fragen: Wann sind Menschen frei, was trägt dazu bei? Und was sind die Voraussetzungen für freie Vereinbarungen? Konsens als Methode kann darauf nicht die Antwort sein, denn genauso, wie freie Menschen in freien Vereinbarungen sich dafür entscheiden können, etwas nach dem Mehrheitsprinzip abzustimmen, kann jede Konsensmethode auch manipulativ und herrschaftsförmig angewandt werden, z.B. wenn Dissens mit sozialen Sanktionen bestraft wird, Menschen von anderen abhängig sind oder Neid und Missgunst die Atmosphäre beherrschen, weil Bedürfnisse in Konkurrenz zueinander gesehen werden.

Konsens ist unter diesen Umständen alles andere als stabil, oder wird es erst, wenn er durch Sanktionen durchgesetzt und aufrecht erhalten wird. Spätestens dann führt sich die „Herrschaftsfreiheit“ selbst ad absurdum.

Der Ausstieg aus dem Dilemma gelingt nur, wenn wir Konsens eben nicht als Methode, sondern als Haltung, als Kultur begreifen. Diese Kultur ist geprägt von Wohlwollen, Kontakt und Verlässlichkeit. Die gewählte Konsensmethode ist hier nur noch die letztendliche Abfrage des bereits gefundenen Entwurfs, der so gut wie möglich alle Bedürfnisse mit bedenkt. Dieser Entwurf kann sich ändern, wirkt also unter Umständen weniger „solide“. Wenn gleichzeitig alle Beteiligten die Sicherheit haben, dass er sich nicht ohne ihre Zustimmung ändert und bei jeder Änderung wohlwollend ihre Bedürfnisse und Bedenken mit einfließen, müssen sie sich trotzdem nicht bedroht fühlen, sondern können einander vertrauen und sich entspannen.

Nichts liegt mir dabei ferner als einen „Leidenswettbewerb“ auszurufen, wie Katja Einsfeld in ihrem Artikel in der GWR 423 befürchtet! Schon die Vorstellung, Bedürfnisse hätten immer mit Leiden oder Leidensvermeidung zu tun, bzw. hätten dann mehr Gewicht, wenn sie mit mehr Leiden verknüpft sind, widerspricht zutiefst meiner Utopie von Konsenskultur, in der es genau darum geht, dass es allen Beteiligten maximal GUT geht. Dass es das nicht immer tut und dass wir alle unterschiedliche Geschichten von Leid haben, die uns beeinflussen, ist klar. Viele von uns haben gelernt, dass man durch Leiden andere manipulieren kann und darf; dass man Forderungen an andere stellen darf, wenn man zuerst als „Vorschuss“ über die eigenen Grenzen geht oder am stärksten leidet; oder auch, dass es gefährlich ist, sich verletzlich zu zeigen und sicherer, sich hinter „objektiven“ Positionen oder den Anliegen „der Gruppe“ zu verstecken. Viele von uns haben auch einfach nicht gelernt, Zugang zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu haben, diese zu reflektieren und sich mitzuteilen. Und für viele ist es Teil der eigenen Identität, Opfer zu sein und es stellt sich ganz real die Frage „Wer bin ich, wenn ich mich nicht über Leiden definiere?“

Das sind Hindernisse, mit denen wir es in der Konsensfindung und im Aufbau von Konsenskultur zu tun haben. Sich diesen Hindernissen zuzuwenden ist immer wieder schmerzhaft und tut unter Umständen weh. Es braucht Mut, eigene Muster zu hinterfragen und anders denken zu lernen und auch Geduld mit sich selbst und anderen. Konsenskultur braucht ein partnerschaftliches, solidarisches Denken, das in der Lage ist, maximales Wohlergehen zu imaginieren und Utopie, Lösung, Zukunft unabhängig vom und größer als das Problem zu entwerfen. Der Entschluss, sich für Lösungen einzusetzen, die allen gut tun, kann Ausgangspunkt und Ergebnis von einvernehmlichen Atmosphären sein.

Das, was letztendlich tragfähig ist, sind Beziehungen, ist Kontakt, ist freiwillige zwischenmenschliche Verbindlichkeit und niemals der Vertrag auf dem Papier oder im Plenumsbuch.