Vom 28. Dezember 2017 bis zum 6. Januar 2018 kam es im Iran zu tagelangen Protesten gegen die Regierung und religiöse Führung des Landes. In mindestens 75 iranischen Städten wurde nach gesicherten Informationen demonstriert (*Ali Kadivar, Soziologe Brown University) - vielerorts mehrfach und mit tausenden Teilnehmenden.
Die Proteste begannen in der konservativen Millionenstadt Mashhad im Osten und breiteten sich schnell über das ganze Land aus. Der Ausbruch der Proteste in Mashhad und die Zielrichtung bieten viel Anlass zur Spekulation darüber, inwieweit konservative Kräfte die Proteste unterstützten oder mindestens zuließen.
Zu Beginn der Demonstrationen standen die starke Inflation, steigende Lebensmittelpreise, Korruption und generelle wirtschaftliche Probleme im Vordergrund. Trotz der Unvorhersehbarkeit der massenhaften Proteste entstanden diese jedoch nicht aus dem Nichts. In den vergangenen Jahren lässt sich eine steigende Organisierungsfähigkeit insbesondere auch in der Arbeiterbewegung des Iran feststellen. Diese fanden im Jahr 2017 einen neuen Höhepunkt. Zudem erschütterten zunächst voneinander unabhängige Krisen das Land.
Nach der Präsidentenwahl im Mai feierten Unterstützer*innen noch spontane Massen-Partys in den Straßen. Unterstützt von Soundanlagen mit iranischer Popmusik nutzten die meist jungen Frauen und Männer die Gelegenheit, öffentlich gemeinsam zu tanzen und zu feiern, was ansonsten strengstens verboten ist. Nur kurze Zeit später erschütterten Bankenskandale das Land. Banken hatten sich mit Hedgefonds der religiösen Eliten verspekuliert, durch Korruption verschwand ein Teil des Geldes. Viele Anleger*innen verloren ihre gesamten Ersparnisse. Wütende Proteste und Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften folgten.
Streiks
Auch gewerkschaftliche Proteste zeigten sich in diesem Jahr zahlreicher und organisierter. Offizielle Angaben zeigen, dass seit 2015 die Zahl der Streiks kontinuierlich ansteigt. Zwei bis drei Protestaktionen sind täglich zu verzeichnen und das, obwohl Gewerkschafter*innen und Arbeitnehmervertreter*innen immer wieder harte Strafen drohen. Dennoch gibt es ausdauernde Auseinandersetzungen wie zum Beispiel die in den Zuckerfabriken in Haft Tappeh in Khuzestan, die zum Teil über Jahre geführt werden.
Der Anlass sind zugleich absolut unhaltbare Zustände für die Arbeiter*innen, deren Löhne oftmals monatelang nicht bezahlt werden. Dort, wo die Unternehmen zusätzlich privatisiert wurden wie bei der Transportgesellschaft „Persischer Golf“, werden dann nicht nur Zahlungen der Löhne, sondern auch der Sozialabgaben eingestellt, wodurch die Arbeiter*innen nicht mehr zum Arzt gehen können. Im Dezember 2017 fanden Streiks der Bahnarbeiter, die in Tabriz die Gleise blockierten, statt. Pensionäre aus der Stahlindustrie demonstrierten vor dem Sitz des Gouverneurs von Esfahan. Und im Transportwesen, der Reifenproduktion und beim Fahrzeugbau wurde gestreikt.
Erdbeben im kurdischen Teil des Irans
Im November 2017 erschütterte ein Erdbeben im Westen den kurdischen Teil des Landes. Über 600 Menschen starben. Der Staat zeigte sich völlig unfähig, auf diese Krise zu reagieren. Aktuell leben geschätzte 50.000 Menschen in Kermanshah in Zelten. Während von der iranischen Bevölkerung eine große Solidaritätswelle folgte, lehnte die Regierung Hilfsangebote aus den westlichen Industrieländern ab. Die religiöse Führung rief zu Gebeten für die Betroffenen auf, so wie sie es auch im aktuellen Fall des Tankerunglücks im Chinesischen Meer tut.
Dabei lassen sich zahlreiche Opfer des Erdbebens auf Missmanagement zurückführen, da unter der Regierung Mahmoud Ahmadinejad errichtete Sozialplattenbauten wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen. Kein Wunder also, dass die nun folgenden landesweiten Proteste auch in den kurdischen Regionen auf großen Widerhall stießen.
Die ökonomische Krise
Neben diesen Krisen spielen die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine große Rolle. Die Inflation macht es vor allem den unteren Schichten der Bevölkerung immer schwerer, ihre Versorgung mit Essen und dem Nötigsten sicherzustellen.
Hohe Jugendarbeitslosigkeit bei einer insgesamt sehr jungen Bevölkerung erhöht das Konfliktpotential. Veröffentlichte Etatpläne, wonach die Subventionen für Benzinpreise schrittweise fallen sollen und das Yarane, eine Art minimale Sozialhilfe, abgeschafft oder durch Lebensmittelmarken ersetzt werden soll, erhöhen darüber hinaus die Nöte der ärmsten Bevölkerungsteile. Das allgemeine Narrativ auch unter den Iranern selbst geht daher davon aus, dass ein Großteil der Protestierenden aus den unteren Schichten stammt. Offizielle Zahlen zum Berufsstand und Bildungsgrad der Demonstrierenden und bisher Festgenommenen belegen diese Annahmen. Entsprechend bilden die Provinzhauptstädte den Kern der Proteste und nicht wie 2009 und davor die Hauptstadt Teheran.
Während in vielen Städten Tausende friedlich demonstrieren, sind auf Videos auch landesweit gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften zu sehen. Als Quellen verweise ich u.a. auf persische Telegram-Kanäle, die von Millionen Leser*innen genutzt werden. Teilweise lieferten sich junge Männer massive Straßenschlachten mit der Polizei und gewannen dabei zu Beginn des öftern die Oberhand. Kleine Polizeiposten wurden angezündet und sogar Polizeistationen oder Gerichtsgebäude angegriffen.
Meist in diesen Zusammenhängen kam es auch zu insgesamt 21 getöteten Demonstrant*innen.
Das islamische Regime hat mit massiver Repression reagiert.
Zum Schußwaffengebrauch kam es offenbar dann, wenn Sicherheitskräfte direkt attackiert und bedrängt wurden. Es kam zudem zu mehreren offiziell bestätigten Todesfällen im Polizeigewahrsam. An anderen Orten blieben die Sicherheitskräfte passiv.
Vielmehr änderte die Regierung ihre Taktik. Spätestens nach einer Woche wurde an neuralgischen Punkten jegliche Ansammlung im Keim erstickt. In Teheran wurde der Haupteingang der Universität abgeriegelt. Tagsüber blockierten dann mehrere tausend Menschen den Meidan Enghelab, den Revolutionsplatz in der Nähe der Uni Teheran.
Die Forderungen der Demonstrant*innen wandelten sich im Laufe der Protestwelle in allgemeine Unmutsäußerungen gegen den Mullah-Staat.
„Marg bar diktatur“ – „Tod der Diktatur“, „Tod Rouhani“, „Tod Chomenei“ war überall zu hören und an die Wände gesprüht. Damit wird nicht nur erstmals seit langem die religiöse Führung direkt attackiert, sondern zugleich werden deren Parolen „Tod den USA“ und „Tod Israel“ umgewandelt. Die Studierenden in Teheran riefen: „Ob Reformer oder Konservative – das Spiel ist aus.“ Doch auch Rufe nach Cyrus Reza Pahlavi, dem Thronfolger des letzten Schah von Persien, der heute in den USA lebt, wurden laut. Eine Frau wird zum Symbol, die ihr weißes Kopftuch nahm und in der Luft schwenkte. Die Frauenbewegung versuchte, daran anzuknüpfen und Anschluss an die Bewegung zu finden.
Weitere Kampagnen, die sich zu formieren suchen, sind die nach einem Referendum sowie die Kampagne zur Verbrennung der Basidschi-Mitgliedsausweise.
Die Basidschi-Milizen sind eine 1981, nach der „Islamischen Revolution“ von 1978/79, gegründete paramilitärische Einheit, die heute aus etwa 90.000 Vollzeitkräften und ca. 300.000 Reservisten besteht. Sie sind den Revolutionsgarden unterstellt und Teil des Repressionsapparates. Im Netz sind mehrere dutzend Filme zu finden, in denen Angehörige der Basidschi ihre Mitgliedsausweise und ähnliche Dokumente verbrennen.
Anders als die „Grüne Revolution“
Die Proteste unterscheiden sich von der sogenannten Grünen Revolution, die sich 2009 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Iran formierte, darin, dass sie keine einheitlichen Forderungen formulieren und nicht durch Führungspersönlichkeiten repräsentiert werden. Das macht auf der einen Seite ihre schnelle Entwicklung und Unberechenbarkeit aus. Es verunsicherte aber auch viele, obwohl dies die logische Folgerung daraus ist, dass eine legale Organisierung nicht möglich ist.
Die Gewaltausbrüche sind Ausdruck dessen, dass die jetzt auf der Straße Demonstrierenden nichts zu verlieren haben.
Das gilt für die gebildeten Mittelschichten allerdings sehr wohl. Für scheinbar unklare, nicht konkrete Ziele und ohne zu wissen, wer der nächste Anführer der Bewegung werden könnte, riskieren sie aktuell nicht Gefängnis oder gar ihr Leben.
Es tut sich dabei eine gewisse Lücke zwischen den sozialen Verhältnissen innerhalb der Opposition gegen das Regime auf. Anstatt Verständnis für die Protestformen weniger gebildeterer Schichten aufzubringen, kommen sogar Klassismen zum Vorschein. In einem Artikel von Borzou Daragahi wird über eine Studentin aus Teheran, die sich dennoch an den Protesten beteiligte, geschrieben. „Ihre Freunde verspotteten die Protestler als stammesangehörige Kleinstadtbürger, die nicht aus politischen Erwägungen, sondern aus bäuerlichen Rachefehden heraus agierten.“
Ein iranischer Student aus Münster verstand nicht warum gerade jetzt die wirtschaftliche Lage die Menschen auf die Straße treibe. Es sei schon mal schlimmer gewesen. Dabei geht es im Iran vielen Menschen der untersten Schicht so schlecht, dass sie nichts zu essen haben. Als ich 2016 sechs Monate zum Persisch-Studium im Iran war, habe ich oft gemerkt, dass Iraner aus der oberen und unteren Mittelschicht die soziale Realität der Armen nicht wirklich wahrnehmen. Sich zum Teil lieber abgrenzen. So nähren sich bei denen, die Hoffnungen in schrittweise Reformen setzen, Befürchtungen, der aktuelle, relativ gemäßigte Präsident Rouhani könnte Schaden nehmen.
Desweiteren wird im Hinblick auf Länder wie Syrien, aber auch die möglichen Forderungen einzelner Volksgruppen wie Kurden oder Balutschen befürchtet, dass im schlimmsten Fall der Zerfall des Landes drohe.
Es ist eine bekannte imperialistische Strategie, die inneren Widersprüche zu nutzen, um die politischen und wirtschaftlichen Strukturen in den Zielländern zu transformieren. Während des „Arabischen Frühlings“ wurde diese Strategie angewandt. Aber die Massenbewegung des Irans darüber zu lesen, wird zur erneuten Isolierung der Iraner*innen führen. Vielmehr sind die sozialen Bedingungen für die Bewegung zu betrachten und die gegenüberstehenden hegemonialen Verhältnisse und deren Widersprüche. Dann wird ersichtlich, dass die Re-Organisierung des Kapitals im islamischen System nach der Revolution in Form der Wirtschaftsmonopole der islamischen Stiftungen (Bonyad) die Grundlage für die aktuellen Proteste liefert.
Die größte dieser Stiftungen hat ihren Sitz genau in Mashhad, wo die aktuellen Proteste begannen. Bisherige Privatisierungen und Freihandelszonen brachten aus Sicht der iranischen Regierung nicht den erwünschten Erfolg, ausländisches Kapital ins Land zu holen. Die Regierung Rouhani benötigt daher weitere Reformen in Form von bürgerlichen Rechten. Diese Reformen werden allerdings nur soweit gehen, als dass dieses Ziel der neuen Kapitalakkumulation unter der islamischen Herrschaft erreicht werden kann. Für die Erlangung echter Freiheiten wird es also weiterhin darauf ankommen, ob die mittleren und unteren Schichten ihre gegenseitigen Vorbehalte überwinden können und gemeinsam eine emanzipatorische Massenbewegung auf die Straße bringen, um somit mehr als nur Scheinzugeständnisse zu erwirken.
O.G.
Von O.G. erschien im Sommer 2017 in der Graswurzelrevolution 420 der Artikel "Ein anderer Iran. Soziale Bewegungen als Hoffnungsträger".