Ab sofort erscheint in der Graswurzelrevolution die Glosse "Stichworte zum Postanarchismus" von Oskar Lubin, jeweils zu einem Stichwort. Da es sich nicht um lexikalische Einträge handelt, sollte schnell deutlich werden, dass hier immer nur Aspekte und nicht Vollständigkeit geboten werden - und dass die Großbegriffe natürlich auch nicht so ganz "groß" gehandelt werden, wie sie daherkommen: Aspekte aus der Geschichte und Theorie des Anarchismus, verwoben in aktuelle Debatten oder praktische Fragestellungen. "Stichworte zum Postanarchismus 2. Soziologie (Grundlagen des Ungehorsams)" erscheint im März 2018 in der GWR 427, "Stichworte zum Postanarchismus 3. Erziehung (Zur Unvereinbarkeit von Anarchismus und Kindern)" im April in der GWR 428. (GWR-Red.)
Stichworte zum Postanarchismus 1
Kamerum war eine Kolonie des Deutschen Reiches. Schorsch Kamerun ist Sänger der Postpunkband Die Goldenen Zitronen. Wieso trägt so einer solch einen Namen? Punk immerhin war ja auch als Affekt gegen den Nationalismus entstanden, in Deutschland insbesondere auch noch gegen die ganze Nazi-Verstricktheit der Lehrer*innen und des öffentlichen Lebens. In seinem Buch Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens erklärt Schorsch Kamerun das Pseudonym so: „Dem Teufel den Spiegel vorhalten. Sich freiwillig auf das beziehen, was man böse findet.“ (1)
Der Name als Teil einer Strategie. Was das mit Anarchie zu tun hat? Die Strategie folgt auf den Affekt, und der wird ausgelöst, damit beginnen die Erinnerungen, durch Anarchy. Das Wort im Song der Sex Pistols. „Anarckeey!“ Das Lebensgefühl, das damit zum Ausdruck gebracht und immer wieder erneuert wurde. Bei all jenen, denen die dominanten Lebensweisen auf die Nerven gehen, die unter ihnen leiden. Und denen der Goldies-Sänger sein Buch so reizend widmet, alle, „die probiert haben, den Ohrfeigen, Schönschreibklubs und Schuldspiralen eine überraschende, grenzenlose Welt entgegenzusetzen“.
Eine überraschende, grenzenlose Welt. Daran arbeiteten auch die Anarchistinnen und Anarchisten bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs. Wenige Tage nach dessen Beginn traf sich Juan García Oliver (1901-1980), Mitglied der Federación Anarquista Ibérica (FAI), am 23. Juli 1936 in Genf mit Vertretern der Islamischen Liga. Zumindest erzählt das der Chronist der Spanischen Revolution und Durruti-Biograph Abel Paz in einem Interview. Es ging um den antikolonialen Kampf gegen Frankreich und England, dessen Akteurin die Islamische Liga war. García Oliver, später der erste anarchistische Justizminister der Republik, Kirchenhasser und Religionsverächter, war letztlich rein strategisch unterwegs: „Es war das Ziel der CNT“, schreibt Abel Paz, „sollte in Spanien eine Revolution stattfinden, diese sich nicht sofort auf Frankreich und England ausdehnen sollte, sondern auf deren Kolonien auf der anderen Seite des Mittelmeers. So sollte der Kapitalismus in den Kolonialmächten geschwächt werden, um die Revolution auch dort fortzuführen.“ (2)
Diese Strategie ist eine organisatorische, quasi institutionelle. Auch wenn sie vielleicht nicht auf den Tag genau verbürgt ist – der spanische Wikipedia-Eintrag zu García Oliver behauptet, der Anarcho-Revolutionär habe sich an jenem 23. Juli auf einem katalanischen Regional-Plenum befunden und dort den Libertären Kommunismus ausgerufen! (3) -, so hat es sie doch gegeben.
Anarchistinnen und Anarchisten haben zwar nicht ihr Hauptaugenmerk auf Fragen des Kolonialismus gerichtet. Aber sie haben ihn durchaus wahrgenommen. Schon sehr früh. Bereits die französische Anarchistin Louise Michel (1830-1905) sah sich, gezwungener Maßen, mit den Auswirkungen des Kolonialismus konfrontiert. Man hatte sie nach ihrer Teilnahme an der Pariser Kommune (1871) nach Neukaledonien verbannt – südpazifische Inseln, die noch heute zu Frankreich gehören. Sie sympathisierte mit dem Aufstand der dortigen Indigenen, den Kanak*innen und veröffentlichte kanakische Sagen und Lieder. Auch wenn sie sonst dem technologischen Fortschritt nicht abgeneigt war, kritisierte sie deren Klassifizierung als „Wilde“ und den Gegensatz zur angeblichen Zivilisiertheit der Europäer*innen.
Die Wiederentdeckung, Bewahrung und Aufwertung des vom Kolonialismus unterdrückten und diffamierten Wissens – ob Heilmethoden oder Songs -, nahmen in den antikolonialen Kämpfen eine zentrale Rolle ein. Anarchist*innen sahen hier eine Parallele: Die Gewohnheiten der Arbeiter*innenklasse in Europa, von den Kneipenabenden über die sexuellen Eskapaden bis zum Liedgut, wurden von den Herrschenden verachtet wie alles, was Indigene taten, fühlten, dachten. Weil sie auch noch ausgebeutet wurden wie alle Arbeiter*innen, schienen die Kolonisierten als Bündnispartner*innen selbstverständlich. So sollte der Kapitalismus in den Kolonien geschwächt werden.
Sicherlich, Einwände drängen sich auf: Die Diskriminierungserfahrungen und die Ausbeutung unterschieden sich in Wirklichkeit doch sehr. Auch wenn im Spanien der 1930er Jahre noch die Hälfte der Bevölkerung analphabetisch und arm war. Aber noch etwas Anderes passt nicht. Es ist die unumstößliche Grundannahme des klassischen Anarchismus, dass die Armen und Verzweifelten die selbstverständlichen Träger*innen der Revolution sind. Beinahe automatisch. Dieses Vertrauen in die Massen, das Volk, die Multitude, „die von unten“ ist letztlich bis heute ungebrochen. Damit verknüpft ist eine bestimmte Analyse der Quelle ihrer Motivation: Die Armen lehnen sich auf, revoltieren und kämpfen, und das auch noch auf emanzipatorische Art und Weise, weil sie arm, verzweifelt, abgehängt und notleidend sind. Oder, in den Worten Louise Michels: „Die Energie der Verzweiflung wird nie besiegt.“ (4)
Aber das ist Unsinn. Aus Verzweiflung erwächst keine Energie! Aus Wut vielleicht, aber Verzweiflung ist nie Kraftspender und Ideengeber, zumindest nicht im positiven, emanzipatorischen Sinne. Die sozialen Kräfte für Veränderung entstehen vielmehr aus der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwischen dem, was man erwartet, und dem, was einem/ einer vorenthalten wird. Aus der Beziehung zwischen diesen beiden Größen. Nicht aus absoluten Tatsachen, purer Not oder schierer Verzweiflung.
Wenn man das einsieht, stellt sich auch die Frage der Strategie neu. Eine libertäre Strategie muss post-anarchistisch sein, weil sie nicht auf organische Volksmassenorganisationen aufbauen kann. Die dekolonisierenden Kämpfe sind immer auch Kämpfe gegen die Dominanzgesellschaft, gegen Lebensstile, die zur Norm erhoben und als solche durchgesetzt werden. Im Zentrum wie auch in den postkolonialen Peripherien. Insofern sind diese Kämpfe auch subkulturell, weil sie sich gegen das Einverständnis weiter Teile der Bevölkerung richtet.
Eine postanarchistische Strategie aber sollte nicht im Postpunkkeller bleiben. Sie muss auch post-subkulturell sein. Sie greift die Umbenennung auf und damit ins kollektive Gedächtnis ein. Warum also nicht organisieren?! Mit allen, die sich angesprochen fühlen und gegen Frontex und das Humboldt-Forum und gegen die Völkerkundler dieser Erde. Für eine überraschende, grenzenlose Welt. Franzi Togoland und Susi Samoa, formiert Euch!
Oskar Lubin
(1) Schorsch Kamerun: Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Ullstein, Berlin 2016, S. 26.
(2) Abel Paz: "Eine Revolution ohne politische Parteien. Interview mit Gernot Schubert." In: Bernd Drücke/ Luz Kerkeling/ Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge. Verlag Edition AV, Frankfurt a.M. 2004, S. 59-73, hier S. 67.
(3) https://es.wikipedia.org/wiki/Juan_Garc%C3%ADa_Oliver
(4) Louise Michel: Aneignung. [1890/1904]bahoe books, Wien 2013, S. 24.