Stefan Kruecken, Jochen Pioch: Mayday. Seenotretter und ihre dramatischsten Einsätze. Mit Fotografien von Enver Hirsch und Thomas Steuer, Ankerherz Verlag, Hollenstedt 2017, 244 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3-940138-79-8
Warum, in drei Klabautermanns Namen, sollte eine anarchistische Monatszeitschrift die Rezension eines Buches über Seenotretter veröffentlichen?
Nun, ganz einfach: Weil es eine ebenso erhellende wie vergnügliche Angelegenheit sein kann, Stefan Krueckens und Jochen Piochs „Mayday“, das zunächst in Serie im Spiegel erschien und nun beharrlich die Bestsellerlisten hinaufklettert, durch eine anarchistische Brille zu lesen.
Dabei gäbe es auch so genügend Gründe, dieses erfreuliche Buch aufzuschlagen. Der in Hollenstedt bei Hamburg beheimatete Verlag Ankerherz hat es sich zur Gewohnheit gemacht, ebenso interessante wie optisch ansprechende Bücher über die Meere, die Seefahrt und die Seefahrer zu veröffentlichen.
„Mayday“ macht dieser Tradition keine Schande. Es besteht aus 21 meist kürzeren Erzählungen von Zwischenfällen und Katastrophen auf See. Überwiegend sind es von den Autoren in ihren eigenen Worten wiedergegebene Erinnerungen ehemaliger oder noch tätiger Seenotretter (es sind tatsächlich fast ausschließlich Männer. Nur eine einzige Frau, Birgit Heinze, fährt heute für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) zur See). Wo keine Zeugen mehr am Leben waren, rekonstruieren Kruecken und Pioch die Ereignisse anhand von Zeitungsberichten, Logbüchern und Protokollen. Ein lesenswerter Essay von Olaf Kanter, genau in der Mitte des Buches platziert, rundet das Ganze ab. Das Buch ist durchsetzt und durchwebt von eindrucksvollen Fotos von Enver Hirsch und Thomas Steuer, sodass man fast meint, beim Lesen selbst in den guten Stuben der Seeleute zum Tee geladen zu sein, in alten Bootsschuppen ihrem Garn zu lauschen oder an der Rettungsklappe bereitzustehen, wenn es wieder hinaus geht in den Sturm, um Leben zu retten. Denn genau das tun die Seenotretter, und setzen dabei nicht selten ihr eigenes Leben aufs Spiel. Der Werbespruch der DGzRS, „Wir fahren raus, wenn alle anderen reinkommen“, ist keine Hochstapelei, auch wenn es im Tagesgeschäft natürlich oft banaler zugeht, als die dramatischen Bilder von weißer Gischt und riesigen Brechern nahelegen. Trotzdem: 45 Mitglieder der Gesellschaft sind seit ihrer Gründung auf See geblieben. Da ist es umso beeindruckender, bei der Lektüre von „Mayday“ immer wieder zu erleben, wie hartnäckig die Autoren, die ja eingestandenermaßen auf der Jagd nach den „dramatischsten Einsätzen“ waren, bei ihrem Versuch scheitern, ihren Gesprächspartnern auch nur die kleinste heldenhafte Pose zu entlocken. Seenotretter sind einfache Leute, und auf fast schon aufreizende Art norddeutsch-unzeremoniell. Als Kruecken und Pioch beispielsweise den 2012 verstorbenen Harry Tadsen interviewten, den ehemaligen Vormann des Seenotrettungskreuzers „Bremen“, der vor Amrum in einem spektakulären Manöver 25 Seeleute einzeln (!) von einem havarierten griechischen Frachter heruntergeholt hatte, indem er immer wieder trotz meterhoher Wellen an das Wrack heranfuhr, fragten sie ihn, ob das nicht verflixt gefährlich gewesen sei. Sie erhielten zur Antwort: „Ach wat, Jong. Hat doch gut geklappt“ (S.187). Das ist der Ton, der die Gespräche von „Mayday“ dominiert – zumindest von der einen Seite. Wenn es doch einmal greller wird, lauter und reißerischer, liegt das an den Autoren, und nicht an ihren Gesprächspartnern. Manche der Erzählungen sind tatsächlich eher zum Schmunzeln. Andere sind – naturgemäß – fürchterlich. Wie nebenbei lernt man noch Wissenswertes über die Sicherheit an (und auf) der Nord- und Ostsee – Informationen, die stinkigen Landratten bei ihrem nächsten Urlaub gewiss nicht schaden werden… – und Unerfreuliches über die Mauscheleien deutscher Reedereien, die zum Beispiel schon bald nach dem Krieg begannen, durch sogenannte „Fremdbeflaggung“ Sicherheitsstandards zu umgehen, an Mensch und Material zu sparen und ihre Profite skrupellos in die Höhe trieben – auf Kosten der Sicherheit ihrer Schiffsbesatzungen. Kurz: Mayday erlaubt einen ebenso unaufgeregten wie weitreichenden (Ein)Blick in die Welt der Seenotrettung und ist zugleich eine angemessene Würdigung ihrer Leistung. Neben dem opulent ausgestatteten Großbildband „Respekt“ gibt es zur Zeit wohl kein schöneres Buch zum Thema.
Was aber hat das alles mit Anarchismus zu tun?
Nun: Mehr, als man auf den ersten Blick vielleicht erwarten sollte. Denn im Grunde ist die Rettung auf See, so, wie sie in Deutschland heute organisiert ist, nichts anderes als ein Bespiel für eine ebenso erfolgreiche wie langlebige Form menschlicher Selbstorganisation mit dem Ziel der gegenseitigen Hilfe. Es waren (und sind) die der Struktur der 1865 gegründeten DGzRS zugrundliegenden Prinzipien, die ihr jene Festigkeit und Handlungsfähigkeit verleihen, die ihre Arbeit bis heute auf solch eindrucksvolle Weise effizient machen. Diese Prinzipien aber sind, bei Lichte betrachtet, erstaunlich anarchistisch. Dass die historischen Gründer der Gesellschaft – Adolph Bermpohl, Arwed Emminghaus und einige andere – zu Lebzeiten vermutlich nie etwas vom Anarchismus oder von anarchistischen Organisationsprinzipien gehört haben dürften, und, wenn sie es getan hätten, nach der Polizei geschrien hätten, ändert an dieser Tatsache nichts.
So waren sich Bermpohl und seine Kollegen zum Beispiel von Anfang an einig, dass ihre Gesellschaft finanziell und organisatorisch unabhängig vom Staat bleiben solle. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die DGzRS, schreibt Olaf Kanter, handelt „vollkommen unabhängig von der politischen Großwetterlage und den Zwängen, denen öffentliche Haushalte unterworfen sind“ (S. 138).
Dies führte zum Beispiel dazu, dass die Schiffe der DGzRS während des Zweiten Weltkriegs deutsche Matrosen ebenso aus dem Wasser zogen wie abgeschossene britische Bomberpiloten – wohlgemerkt, nachdem diese ihre tödliche Fracht über deutschen Städten abgeworfen hatten (ein solcher Fall, die Geschichte des jungen britischen MG-Schützen Erwin Ernest Barnes, wird im Buch erzählt). Die Nationalsozialisten hüteten sich, sie daran zu hindern. Denn hätten sie es getan, hätte die Gesellschaft ebenso leicht die Rettung deutscher Soldaten und Seeleute verweigern können. Selbst in einer mörderischen Diktatur behielt die DGzRS ihre Unabhängigkeit vom Staat. Zwar ist heute traditionell der Bundespräsident Schirmherr der Gesellschaft. Das aber ist eine rein symbolische Anerkennung ihrer Leistung. Die DGzRS finanziert sich seit ihrer Gründung ausschließlich aus Spenden. Heute muss sie Jahr für Jahr volle 30 Millionen Euro einwerben, um ihre Flotte und Struktur einsatzfähig zu halten. Und das gelingt ihr: Durch zahllose Kleinspenden, die zum Beispiel trinkfreudige Besucherinnen und Besucher norddeutscher Kneipen in die dort allgegenwärtigen, geschwungenen Spendenschiffchen werfen, aber auch durch größere Gaben wohlhabender Gönnerinnen und Gönner. Auch, dass die DGzRS in Testamenten bedacht wird, ist nicht ungewöhnlich. Man darf vermuten, dass die Spendenbereitschaft der Bevölkerung weit geringer wäre, wenn die DGzRS eine staatliche oder teilstaatliche Organisation wäre.
Noch beeindruckender ist eine andere Tatsache, die immer wieder für Erstaunen und Verwirrung sorgt: Denn die überwiegende Mehrzahl der für die DGzRS tätigen Seenotretter sind bis heute Freiwillige. Lediglich die Vormänner (landläufiger ausgedrückt: die Kapitäne) sind fest angestellt, ebenso die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zentralstelle in Bremen. Alle anderen gehen nebenher einem geregelten Broterwerb nach und beziehen allenfalls eine „Aufwandsentschädigung“. Detlev Sass zum Beispiel, Seenotretter auf der „Walter Rose“, arbeitete bis zu seiner Pensionierung unter der Woche als Regierungsdirektor beim Finanzamt Neumünster. Am Wochenende fuhr er auf die Ostsee hinaus und rettete Menschen aus Seenot. Das eine, sagt er heute, sei sein Beruf gewesen, das andere seine Berufung (S. 111-117).
Die Erklärung, die die DGzRS für diesen außergewöhnlichen Umstand gibt, ist in der Tat bedenkenswert: Welchen Lohn man einem Menschen denn zahlen wolle, damit er bereit sei, sein Leben für andere zu riskieren? Anders ausgedrückt: Die Form der gegenseitigen Hilfe, wie sie die Seenotretter praktizieren, steht über den Gesetzen der kapitalistischen Lohnsklaverei. Olaf Kanter fasst diesen Umstand prägnant zusammen: „Die Vordenker um Bermpohl hatten wohl die richtige Idee, als sie auf Freiwillige setzten. Denn was den Rettern […] abverlangt wurde, konnte man mit keinem Sold der Welt bezahlen. Freiwillige bringen eben freien Willen mit, und der macht den Unterschied, dieser unbedingte Wille zu helfen“ (S. 132).
Ohne es zu wollen, und gewiss auch ohne es zu wissen, wurden die Seenotretter so zu Verkörperungen einer anderen Form des gesellschaftlichen Miteinanders, jenseits von Selbstvermarktungszwängen, beruflichen Hierarchien und strukturellem Egoismus. Da überrascht es kaum noch, in „Mayday“ Sätze wie die folgenden zu lesen: „Mehr als 81.000 Menschen haben die Leute von der Gesellschaft gerettet, das ist eine unglaubliche Zahl. Mehr als 81.000 Mal die Bestätigung, dass Bermpohl und die vielen anderen recht hatten, die sich für den Aufbau einer Seenotrettung eingesetzt haben: Wir können doch etwas ausrichten. Wir sind der See nicht ausgeliefert, weil wir uns gegenseitig helfen. Unser stärkstes Argument in der Auseinandersetzung mit den Elementen ist die Solidarität“ (S. 137-138). Wir fassen zusammen: Die DGzRS ist eine staatsunabhängige Selbstorganisation, aufruhend auf dem Prinzip des freien Willens und der Solidarität. Sie ist arbeitsfähig dank der massenhaften, freiwilligen Unterstützung aus der Bevölkerung. Und ihr alleiniges Ziel ist es, anderen Menschen, unabhängig von deren Herkunft, Geschlecht, ja sogar von deren Handlungen, in der Not zu helfen. Klassische Autoren des Anarchismus wie Peter Kropotkin hätten sich die Augen betupft vor Rührung, wenn sie so etwas hätten lesen dürfen.
Freiheitliche Strukturen
Selbst auf Mikroebene lassen sich in der DGzRS überraschend freiheitliche Strukturen finden. So hat zum Beispiel im Einsatz unzweifelhaft der Vormann das Kommando. Was jedoch die alltäglichen Verrichtungen an Bord betrifft, vom Kochen bis zum Kloputzen, machen alle alles. Der Vormann kann jederzeit eigenmächtig einen Einsatz anordnen, wenn er dies für richtig hält. Lediglich abmelden muss er sich bei der Bremer Zentralstelle. Diese hohe Eigenverantwortlichkeit ohne bürokratische Hindernisse und nutzlose Hierarchien hat schon so manchem unbedachten Wattwanderer das Leben gerettet. „Wir sind klar zum Einsatz“, heißt es bei den Seenotrettern.
Freiheitliche Strukturen haben sich für die Arbeit der DGzRS von Anfang an als am effizientesten erwiesen, und man darf sich fragen, ob irgendetwas besser gelaufen wäre, wenn sie ideologisiert gewesen wären. Anders ausgedrückt: Wie kommt es eigentlich, dass ein harmloses, linksradikales Kulturzentrum nach ein- bis zwei Jahren in einem Sturm aus gegenseitigen Beschimpfungen und Spuckereien auseinanderbricht, während die DGzRS seit 150 Jahren ihre großartige Arbeit verrichtet? Der gegenwärtige Anarchismus in Deutschland bietet ein pittoreskes Bild: Eine Hand voll Herren gesetzteren Alters sitzt in einem intellektuellen Sandkasten und prügelt sich um Förmchen. Wie häufig ist es in der Vergangenheit vorgekommen, dass ideologische Keimfreiheit über realen, praktischen oder sozialen Nutzen gestellt wurde? Die Anarchistinnen und Anarchisten des 19. Jahrhunderts haben die Strukturen der Selbstorganisation, der gegenseitigen Hilfe und der sozialen Ökonomie nicht erfunden: Sie existierten längst, ehe die Bewegung sich ideologisch formierte. Was die frühen Anarchistinnen und Anarchisten taten, war, sie wahrzunehmen, sie bewusst zu machen, in Wert zu setzen, zu radikalisieren, und schließlich zur Grundlage eines alternativen Gesellschaftsmodells zu erheben. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich erneut mit offenen Augen nach bereits funktionierenden selbstorganisierten Strukturen umzuschauen, die abseits des politischen Klein-Kleins bestehen, um die Arbeit der Altvorderen wieder aufzunehmen. Es ist eine wichtige und durchaus komplexe Aufgabe, herauszubekommen, wann selbstorganisierte solidarische Strukturen sinnvoll funktionieren – und wann nicht. Denn es wird schon mehr brauchen als die kräftigen Arme der Seenotretter, um die Zukunft der Menschheit aus den Stürmen der Klimakatastrophe und den Fluten schmelzender Polarkappen herauszureißen, in die eine grenzenlose, unsoziale Habgier sie hineinjagt.