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Die Revolution bleibt eine Herausforderung für den Anarchismus

| N.O. Fear

Gabriel Kuhn: Anarchismus und Revolution. Gespräche und Aufsätze, Unrast-Verlag, Münster 2017,194 S., 14 Euro, ISBN 978-3-89771-226-3

Gabriel Kuhn ist seit Jahren ein in unterschiedlichen Spektren geschätzter Beteiligter der internationalen anarchistischen Bewegung und Theorieentwicklung. Zwar ist er durchaus in einer spezifischen Strömung des Anarchismus verankert, aber er zeigt sich immer wieder interessiert und offen für das, was sich in anderen Spektren tut. Er will dabei vor allem organisatorisch die unterschiedlichen Strömungen zu einer gemeinsamen Perspektive des Anarchismus zusammenführen – ein ambitioniertes Unterfangen. Bei diesem ist ihm wichtig, dass der Anarchismus als Gesamtbewegung die revolutionäre Perspektive nie aus den Augen verliert.

Das ist eine Intention, die ich mit ihm teile – auch wenn ich bescheidener glaube, dass es möglich ist, theoretisch und strategisch auf eine bestimmte Strömung des Anarchismus Einfluss zu nehmen und über sie dann auf soziale Massenbewegungen, nie jedoch, den gesamten Anarchismus organisatorisch zu erfassen.

„Anarchismus und Revolution“ ist nach „Vielfalt, Bewegung, Widerstand“ (Unrast, 2009) das zweite Buch von Gabriel, das seine verstreuten Texte, Rezensionen und Diskussionsbeiträge sammelt. Das neue Buch umfasst Reflexionen über klassische Anarchisten wie Erich Mühsam und Gustav Landauer, beinhaltet aber vor allem vielfältige Auseinandersetzungen mit aktuellen Diskussionen im internationalen Anarchismus wie etwa dem exklusiv syndikalistischen Ansatz von Michael Schmidt (und Lucien van der Walt) im Buch „Schwarze Flamme“, den Bemühungen von Philippe Kellermann um eine Verbindung von Marxismus und Anarchismus oder das Potential sowie die Sackgassen poststrukturalistischer Theorieentwicklung (am Beispiel von Badiou, Žižek, Deleuze). Abgeschlossen wird das Buch mit „23 Thesen zum Anarchismus“ – ein Text, der eine ausführlichere Diskussion verdient hätte. (1)

Vom Optimismus zu größerer Skepsis

Gegenüber dem Buch von 2009 gibt es bei Gabriel einen Einschätzungswandel. Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war seiner Ansicht nach noch vom Optimismus eines nach dem Mauerfall, der Krise des Marxismus und nach Seattle 1999 weltweit erstarkenden Anarchismus und anarchistischer Initiativen, Bewegungen und Projekte geprägt, was in diesem Band noch bei Mark Brays Studie zum Einfluss des Anarchismus bei der Occupy-Wall-Street-Bewegung (2011/12) nachhallt. Bray hat Interviews mit 192 Organizern dieser Bewegung geführt, wonach 72 % dieser Organizer „explizit oder implizit anarchistischen Prinzipien“ (S. 87) folgten. Nun zeugen die Texte dieses Buches, laut Gabriels Vorwort, aber „von einer größeren politischen Skepsis sowohl angesichts der sich immer weiter ausdehnenden Herrschaft des Neoliberalismus als auch der ständig wachsenden (neo)faschistischen Bedrohung“ (S. 7). Ich würde auf weltweiter Ebene den Turning Point verschieben auf das Scheitern der so hoffnungsvoll begonnenen arabischen Aufstände und deren Versinken in Militärdiktatur, westlicher Militärintervention und Bürgerkriegen von Syrien bis zur Sahel-Zone – mit der Rückwirkung internationaler Terrorismus, Fluchtbewegungen und massivem staatlichem Überwachungsausbau, verstärkt noch durch die Klimakrise. Die wichtigsten emanzipativen Bewegungen dieser Zeit sind m.E. „Welcome Refugees“ sowie die Klimabewegung. In der Tat haben sich damit die Bedingungen auch für die anarchistische Bewegung verändert. Die Analyse dieses letzten Komplexes kommt bei Gabriel allerdings kaum vor – ich wäre gespannt über seine Stellungnahmen dazu gewesen.

An einer Stelle schreibt Gabriel über seine eigene politische Sozialisation, dass er sich als Zwanzigjähriger „bedingungslos der autonomen Szene“ zugerechnet und dann ob der Krise des Marxismus zur poststrukturalistischen Theorie gefunden hat (S. 157f.). Man merkt das an ein paar Stellen, wenn Gabriel etwa von „präfigurativer Politik“ ( S. 183) spricht. Daran stört mich sowohl „präfigurativ“ wie „Politik“. In vor-poststrukturalistischen Zeiten haben wir davon gesprochen, dass die anarchistische „Utopie“ (und nicht „Politik“) bereits jetzt in unserem Verhalten und unseren Projekten so weit wie möglich „vorweggenommen“ (und nicht „präfiguriert“) werden soll. Das ist also weder Politik im traditionellen Sinne noch ist dafür das Wort „präfigurativ“ vonnöten. Dieses Wort dokumentiert nur den Gap, den Abgrund, der noch immer zwischen universitär-poststrukturalistischer Theorie und ihrer m.E. kaum einmal (vielleicht noch am ehesten bei Transgender, aber ohne revolutionäre Perspektive) gelungenen, vor allem vermittelbaren Umsetzung in bewegungsaktivistische Praxis besteht. Gabriel scheint hier auch etwas desillusioniert, weil manch poststrukturalistische/r TheoretikerIn, anstatt zur Revolution vorzudringen, doch nur zum Beiwerk der neoliberalen Demokratie verkommen ist: „Das dabei aufgebotene Gelaber ist in vielen Fällen kaum auszuhalten“ (S. 157).

Neben Gabriels Offenheit, seiner Kritik an rigiden Anarchismusdefinitionen (etwa eines Michael Schmidt) und seiner wichtigen, radikalen Selbstkritik am uniformen Habitus anarchistischer Szenen als „Standardmodus von griesgrämig bis rotzig“ (S. 186) schätze ich an ihm auch seine aufgrund seines Aktivismus innerhalb der Anti-AKW-Bewegung geprägte libertäre Technologiekritik. Gerade in poststrukturalistischen Diskussionen habe ich nie verstanden, warum die Betonung von kultureller Hegemonie, symbolischer Macht, also Mechanismen der Internalisierung von Herrschaft – in klassisch-anarchistischer, prä-poststrukturalistischer Begrifflichkeit also das Theorem der „freiwilligen Knechtschaft“ – nicht auch wie selbstverständlich den Vermittlungssprung zur machtpolitischen Internalisierung zeitgenössischer Herrschaftsformen in die jeweilige Technologie mit vollzogen hat. Dieser Sprung war noch für technologiekritische Denker wie Günter Anders, Jaques Ellul, Robert Jungk, Lewis Mumford oder Edward P. Thompson evident. Mit Gabriel bin ich einig, dass daraus keineswegs der Primitivismus eines Paul Zerzan herauskommen muss.

Anarchismus und Marxismus, gar Maoismus in einer Einheitsfront?

Gabriel meint, er habe seinen Anti-Marxismus verloren. Das liege auch am Älterwerden. Sein Zugang zum Marxismus sei jetzt von „aufgeschlossener Neugierde“ (S. 158) geprägt, er will Anarchismus und Marxismus sogar zu einer „linken Einheitsfront im Kampf gegen den Neoliberalismus“ (S. 159) zusammenführen. Bei aller Wertschätzung für Gabriels Offenheit, im Hinblick auf den Marxismus teile ich sie nicht. Seine Neugierde überrascht mich angesichts seiner Klarsicht gegenüber etwa Alain Badiou, der kommunistische Politik nach dem Mauerfall zwar jenseits des Staates und sogar der Partei denken will, aber im Anarchismus nur „eitle Kritik“ (S. 34) des Kleinbürgers sieht und sich weigert, sich jenseits marxistischer Klischees damit zu beschäftigen. Noch mehr verstört mich Gabriels zwar kritisches, aber doch auch emanzipativ begründetes Interesse am zeitgenössischen asiatischen Naxalismus/Maoismus oder eine Rezension eines Buches von J. Moufawad-Paul, in welchem der Autor den peruanischen „Leuchtenden Pfad“ gar dem Zapatismus vorzieht (S. 167ff.). Wenn Gabriel in These 16 seiner 23 Thesen zum Anarchismus schreibt, es sei „verständlich, wenn für indische Bauern ein ‚langwieriger Volkskrieg‘ – und damit der Leninismus in seiner maoistischen Variante – als vielversprechendste Variante auf die staatliche Repression erscheint“ (S. 192), dann antworte ich: Nein, dafür habe ich als Anarchist kein Verständnis und ich halte diese Bäuerinnen und Bauern auch nicht für frei in ihrer Entscheidung. Es gibt in Indien eine lange Geschichte und Gegenwart gandhianisch-gewaltloser bäuerlicher Massenbewegungen und damit Aktionsalternativen gegen die staatliche Repression. Den autoritären Charakter naxalitischer Bauernführer in Indien habe ich bei Besuchen selbst erlebt, vor allem deren unzulängliche Aufarbeitung von Pol Pot/Kampuchea. Ich habe in Kalkutta Aussteigernetzwerke aus Guerillagruppen besucht, die Jugendliche betreuten, die von ihrem 12. bis zu ihrem 18. Lebensjahr nichts anderes für ihr Leben lernten, als Gewehre zu benutzen! In diesen Kreisen war dann bei den langjährig Erfahrenen Peter Marshalls Buch „Demanding the Impossible. A History of Anarchism“ populär – aber die Voraussetzung ihres Interesses am Anarchismus war gerade der Ausstieg aus dem Maoismus, aus dem Leben eines Guerillero und die damit gewonnene Reflexionsfreiheit.

Darin sehe ich das Hauptproblem einer Einheitsfront zwischen Anarchismus und Marxismus: In seinen Krisenzeiten direkt nach dem Mauerfall öffneten sich marxistische Strömungen in Ansätzen der Selbstkritik. Heute ist das m.E. nicht mehr der Fall, die Reihen werden – mit wenigen Ausnahmen – wieder geschlossen und die Tageszeitung „junge Welt“ verteidigt das militaristisch-autoritäre Maduro-Regime in Venezuela!

(1) Vom Autor dieser Rezension findet sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit Gabriel Kuhns Kritik am "Insurrektionalismus" von Peter Gelderloos aus diesem Buch (S. 123-142) in GWR 421, S. 9-11.