Christoph Jünke (Hg.): Marxistische Stalinismus-Kritik im 20. Jahrhundert - Eine Anthologie, Neuer ISP-Verlag, Karlsruhe 2017, 616 Seiten, 29,80 Euro, ISBN 978-3-89900-150-1
In nicht wenigen Ländern sind sich selbst als KommunistInnen verstehende Menschen mit Stalinporträts zum Gedenken an die Oktoberrevolution auf die Straße gegangen.
Dabei feiern sie den Kopf eines Systems, das fast sämtliche Errungenschaften des Roten Oktober zurückgenommen hat und viele derjenigen, die an der Oktoberrevolution beteiligt waren, einkerkern und ermorden ließ. Der Historiker Christoph Jünke hat kürzlich eine Analogie mit Marxistischen Stalinismuskritiken im 21. Jahrhundert im ISP-Verlag herausgegeben. Dort ist dokumentiert, wie gründlich Marxisten das Phänomen des Stalinismus in den letzten 90 Jahren analysierten. Texte von 15 Autoren werden in dem Band dokumentiert, die sich kritisch mit dem Stalinismus und seinen Wurzeln befassen.
Es ist schade, dass Jünke nicht auch Texte von Frauen wie Agnes Heller, Ruth Fischer oder Angelica Balanoff aufgenommen hat, die in den von Jünke gewählten Bezugsrahmen fallen. In dem Buch sind keine anarchistischen und syndikalistischen Kritiken vertreten, auch räte- und linkskommunistische Beiträge findet man dort nicht. Jünke hat in der Einleitung betont, dass die Zusammenstellung seiner subjektiven Auswahl geschuldet ist. Er habe sich dabei um eine repräsentative Auswahl bemüht, was auch für das von ihm skizzierte marxistische Spektrum zutrifft. „Ausgelassen habe ich vieles, die frühen Kritiken der 1920er Jahre, seien es marxistische Sozialdemokraten wie Otto Bauer, Paul Levi oder linke Kommunisten wie Karl Korsch, Amadeo Bordiga u.v.a.“ Dazu ist anzumerken, dass Jünke die ausgelassenen anarchistischen Kritiken ebenso wenig erwähnt, wie er nicht begründet, warum er auch keine Frauen in dem von ihm ausgewählten Bereich berücksichtigt. Aller Kritik zum Trotz sind die ausgewählten Texte eine beeindruckende Lektion in linker Geschichte und sollten studiert werden.
Der erste Text in der Anthologie stammt von dem führenden bolschewistischen Politiker Christian Rakowski, der 1941 von Stalins Schergen erschossen wurde. Es ist erstaunlich, welche fast machtkritische Einsichten in seinem Text zu finden sind. „Sobald eine Klasse die Macht ergreift, verwandelt sich ein gewisser Teil in Agenten der Macht. Auf diese Weise entsteht die Bürokratie.“ (S.27)
An anderer Stelle kommt Rakowski zu der für ihn niederschmetternden Erkenntnis: „Ich glaube nicht sehr zu übertreiben, wenn ich sage, dass ein Parteigenosse von 1917 sich wohl kaum in der Gestalt eines Parteigenossen von 1928 wiedererkennen würde. Eine tiefe Wandlung hat sich in der Anatomie und der Psychologie der Arbeiterklasse vollzogen.“ Seine intime parteiinterne Kenntnis macht seinen Text interessant. So beschreibt Rakowski, dass die Bolschewiki in der Opposition auch den von Marx als Lumpenproletariat diffamierten Teil der Werktätigen angesprochen hat. Als sie an der Macht waren, haben sich ihre größtenteils zu BürokratInnen mutierten Mitglieder hingegen von diesem Teil der Klasse abgegrenzt. Rakowski prangert auch die Privilegien der Nomenklatura an und verweist darauf, dass die Bolschewiki immer gegen solche Vorteile für die Mächtigen gekämpft hatten. Dieser Text zeigt auch, dass innerhalb der bolschewistischen Partei, 1928 als er verfasst wurde, durchaus noch eine fundamentale Kritik am bürokratischen Kurs möglich war. Klar erkannte der Autor, in welche Richtung der Kurs der Partei geht und beklagte, dass sich die Parteiagenten nicht genieren, „Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Hass auf die Intelligenz usw. für ihre Zwecke einzusetzen“. So hat er schon 1928 präzise die Inhalte stalinistischer Praxis benannt.
Mit Victor Serge stellt Jünke auch den Text eines langjährigen Anarchisten vor, der nach der Oktoberrevolution zum Parteigänger der Bolschewiki wurde. Ergänzend dazu könnte man die Kritik der Anarchistin Rirette Maitrejean heranziehen. Sie war seine Genossin in der anarchistischen Zeit und hat seine Wandlung zum Parteigänger der Bolschewiki wie seine Rolle als Antistalinist sehr kritisch kommentiert, wie Lou Marin in seinem 2016 im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch „Rirette Maitrejean – Attentatskritikerin, Anarchofeministin, Individualanarchistin“ dokumentiert hat.
Zwischen Zweckoptimismus und Pessimismus: Trotzki
Trotzki ist mit drei Texten im Band vertreten. War er anfangs noch überzeugt, dass die stalinistische Epoche nur eine Episode in der Parteigeschichte bleibt, wurde er zunehmend skeptischer und hielt auch ein Scheitern der gesamten Revolution für denkbar. So machte er sich in einem dokumentierten Text kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs Gedanken, was geschehen würde, wenn es in der Folge in den kapitalistischen Ländern zu keiner proletarischen Revolution kommen sollte oder es sich den RevolutionärInnen, worunter Trotzki natürlich KommunistInnen seiner Strömung meint, nicht gelingt, sich zu halten. „Dann wären wir gezwungen einzugestehen, dass der Grund für den bürokratischen Rückfall nicht in der Rückständigkeit des Landes zu suchen ist, auch nicht in der imperialistischen Einkreisung, sondern in der naturgegebenen Unfähigkeit des Proletariats zur herrschenden Klasse zu werden. Dann müssten wir feststellen, dass die jetzige UdSSR in ihren Grundzügen Vorläufer eines neuen Ausbeuterregimes im internationalen Maßstab ist.“ (S.119)
Es ist frappant, dass von den vielen Gruppen, die sich auf Trotzki berufen, auf diese pessimistische Volte kaum eingegangen wird. Bemerkenswert ist, dass Trotzki gar nicht in Erwägung zieht, dass vielleicht das zentralistische Parteimodell in die Niederlage führt, nein, er versteigt sich zu anthropologischen Formeln, wenn er von einer naturgegebenen Unfähigkeit des Proletariats schreibt.
Im letzten Text beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich seine AnhängerInnen verhalten sollten, falls sich herausstellt, dass die Sowjetunion einen Teil von Polen besetzt. Er plädierte dafür, trotz Stalin, die Rote Armee zu unterstützen, weil die zumindest gegen die Großgrundbesitzer kämpfen würde. Trotzkis letzter in dem Buch publizierter Text ist wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs verfasst, als der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt viele KommunistInnen nachhaltig verstört hat. Er endet phrasenhaft: „Das Proletariat hat eine junge und noch schwache revolutionäre Führung. Aber die Führung der Bourgeoisie verfault bei lebendigem Leib. Allein diese Tatsache ist Grund genug für unseren unerschütterlichen revolutionären Optimismus.“ (S.142)
Erfreulicherweise wurden auch Texte von heute wenig rezipierten Autoren aufgenommen. So ist der Sozialphilosoph Leo Kofler heute nur noch wenigen bekannt, der sich ebenso wie der in den 1970er populäre Edward P. Thompson mit den Problemen des sozialistischen Humanismus befasst. Der Ökonom und Historiker Roman Rosdolsky beendet seine Stalinkritik mit der treffenden Charakterisierung der nominalsozialistischen Nomenklatura. „Sie haben in der langen Nacht der Stalin’schen Despotie die Sprache des revolutionären Marxismus restlos und hoffnungslos verlernt; sie sind eben nur mehr: Reformisten gewordene Thermidorianer!“ (S.296). Bezüge zur Französischen Revolution finden sich auch bei anderen Autoren des Buches, die Klassifizierung der Bolschewiki als Jakobiner ist durchaus nicht nur negativ gemeint. Rosdolsky wurde nach der Implosion des Nominalsozialismus bestätigt, wo manche wie der ebenfalls im Buch vertretene Ernest Mandel noch auf einen revolutionären Glutkern hofften, der von Stalinismus und Bürokratismus verschüttet war, zeigte sich bald, dass diese Parteien im Innern verfault und unrettbar verloren waren. Wer mehr über den lange vergessenen Roman Rosdolsky, der bedeutende Texte zur Wertkritik veröffentlicht hat, wissen will, sollte zu dem kürzlich im Mandelbaum-Verlag erschienenen Buch „Mit permanenten Grüßen“, greifen, in dem Leben und Werk von Emmy und Roman Rosdolsky dargestellt sind (ISBN 978-3-85476-662-9).
Hoffnung auf interne Reformen schwinden
Bei den jüngeren dokumentierten Texten ist die Hoffnung auf eine Reform des Nominalsozialismus durch einen Sturz der Bürokratie verschwunden. Im Text von Jacek Kuron und Karol Modzelewski kündigt sich ihre spätere Hinwendung zur kapitalistischen Zivilgesellschaft an und im dokumentierten Text von Rudolf Bahro sein später mit esoterischen Elementen durchdrängter Ökologismus, der keine gesellschaftlichen Widersprüche und Klassen mehr kennen wollte. Auch der Philosoph Lucio Colletti endet schließlich als Abgeordneter in der Partei des Rechtspopulisten Berlusconi. Dabei hat er in dem abgedruckten Text „Zur Stalin-Frage“ aus dem Jahr 1970 die gesellschaftlichen Ursachen des Stalinismus gut beleuchtet. „Die sozialdemokratischen Führer, die im Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet hatten , haben den ersten Stein zu jener Straße gelegt, die Stalin zur Macht verholfen hat. Die übrigen Steine wurden dann durch die revolutionäre Welle gelegt, die auf Europa niederging und Mussolini, Primo de Rivera, Horthy und so viele andere emporhob.“ (S.479)
Diese historischen Tatsachen werden heute bei der Diskussion über die Oktoberrevolution gerne ausgeblendet. Alle, auch die hier nicht erwähnten Texte des Buches, bieten eine Fülle von Assoziationen und Stoff für Debatten.
Das Buch kann dazu beitragen, zu verstehen, warum die Hoffnung, die die Oktoberrevolution vor 100 Jahren für viele Menschen in aller Welt hatte, auch für AnarchistInnen wie Alexander Berkman und Emma Goldmann so schnell in das Gegenteil umschlug. Daran hat Bini Adamczak in ihrem kürzlich in der Edition Assemblage erschienenem Buch „Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution“ erinnert. Wer neue Versuche unternimmt, eine Gesellschaft jenseits von kapitalistischer Verwertungslogik, rassistischer und sexistischer Unterdrückung zu schaffen, sollte es lesen.