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„Bis zum Morgenlicht ist uns das Leben sicher!“

Simha Rotem: Kazik - Erinnerungen eines Ghettokämpfers

| Oliver Steinke

Simha Rotem: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Aus dem Hebräischen von Ronit Mayer Beck, Assoziation A, Hamburg, Berlin 2018, 208 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86241-460-4

Simha Rotem wuchs als Jude in einem ärmeren, von Kleinkriminalität geprägten polnischen Stadtteil von Warschau auf. Am 10. Februar 2018 wurde er 94 Jahre alt. Er ist der letzte Überlebende des Aufstands der jüdischen Bevölkerung im Warschauer Ghetto, wo er den Tarnnamen Kazik trug. Sein Bericht über den Widerstand gegen den Massenmord hat er noch 1944 in einem Versteck niedergeschrieben, nicht aus freien Stücken, sondern aus Pflichtgefühl gegenüber den Ermordeten. Diese Erinnerungen wurden nun von der Assoziation A wieder aufgelegt. Bereits mit 12 Jahren schloss sich Simha Rotem einer jüdischen Jugendorganisation an, als er 15 war, eroberte Hitlers Wehrmacht Polen. Bereits Ende 1939 begannen die Nazis ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung einzuteilen, das im Herbst 1940 abgeriegelt wurde. Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden bis zu einer halben Millionen Menschen, 30 % der Warschauer Bevölkerung, in 2, 4 % des Stadtgebietes gesperrt. Sie durften es bei Androhung der Todesstrafe nicht verlassen. Unzählige starben durch Hunger und Krankheiten, bevor 1942 ihre Verschleppung in die Gaskammern begann, mehr als eine Viertel Millionen Menschen verloren im Sommer 1942 allein in Treblinka ihr Leben.

Obwohl Kazik bei einem Bauern auf dem Land in relativer Sicherheit und gut versorgt war, kehrte er Ende 1942 ins Ghetto zurück, um sich der jüdischen Kampforganisation (ZOB) anzuschließen. Er nahm an den Vorbereitungen zum bewaffneten Kampf teil, die konkret wurden, als die Jüd*innen erfuhren, dass sie in Treblinka systematisch ermordet wurden. Nach einigen Widerstandsaktionen im Vorfeld begann der eigentliche Aufstand am 19. April 1943. Im August 1944 beteiligten sich Kazik und andere Überlebende der ZOB auch am polnischen Aufstand in Warschau, der nach zwei Monaten erbitterter Kämpfe mit einer Niederlage und mit der weitgehenden Zerstörung der Stadt endete. Es sind aber keine Kampferinnerungen, um die es in erster Linie geht, denn Kazik selbst wendet sich gegen Heldenverehrung: „Mutig waren auch die Menschen in Treblinka, die ums Leben gekommen sind. Oder diejenigen, die früher im Ghetto verhungert sind. Wir wollten nur die Art des Todes wählen. Eine leichtere als die in einer Gaskammer in Treblinka.“

Sein Handeln ist bewundernswert, seine Gefährt*innen und er retteten nicht nur die letzten 40 Aufständischen, die sie durch das verworrene Abwassersystem aus dem brennenden Ghetto führten. Viele weitere der etwa 20000 Jüdinnen und Juden, die in Warschau und Umgebung Holocaust und Krieg überlebten, verdanken dies den Aktivist*innen der ZOB. Ihr Widerstandnetz, ihre angemieteten Wohnungen, in denen meist ein Paar oder einzelne als Polinnen und Polen lebten und sich weitere Jüd*innen verbargen, war entscheidend. Kaziks Bericht widerspricht auch dem Vorurteil, praktisch die gesamte polnische Bevölkerung hätte teilnahmslos zugesehen wie die deutschen SS-Rassisten und ihre Hilfstruppen mordeten. Es gab zwar tatsächlich einen weit verbreiteten Antisemitismus in Polen, der immer wieder zu Denunziation, Erpressung und selbst Mord führte, aber es gab auch Tausende, die ihr Leben riskierten und nicht selten auch verloren, um ihre jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn zu schützen. Ohne diese polnischen Antifaschist*innen, die dann ja auch die ZOB in den Warschauer Aufstand von 1944 integrierten, hätte es kaum Überlebende des unfassbaren Massenmordens gegeben.

Kaziks Bericht ist also nicht etwa deswegen einzigartig und besonders, weil er bewaffnet kämpfte, sondern weil er, begünstigt durch seine in der Jugend auf der Straße erworbene Abgebrühtheit und Geistesgegenwärtigkeit, die Verbindungen zwischen den jüdischen Widerstandgruppen in Warschau und Umgebung aufrechterhielt, vor, während und nach dem Aufstand im Ghetto. Außerdem war er der Verbindungsmann der ZOB zum polnischen Widerstand, besonders zu der kommunistischen Volksarmee. Dadurch gewann er eine große Übersicht über das Geschehen. Kazik erinnert sich an so viel Abscheuliches auf der einen, soviel Mut und Selbstlosigkeit auf der anderen Seite, dass dieser Bericht tief erschüttert.

Wie es Überlebende berichteten, sprach zum Beispiel Kaziks erste große Liebe Dwora Baran, die während der Gefechte gegen die SS von ihm getrennt und später erschossen wurde, ihrer erschöpften Widerstandsgruppe eines Abends Mut zu: „Vor uns liegt nach drei Tagen des Kampfes eine ganze Nacht; bis zum Morgenlicht ist uns das Leben sicher; ich weiß nicht, ob die, die am Leben bleiben werden, dies in den kommenden Tagen werden schätzen können. Schwere Kämpfe erwarten uns und jeder Tag, der vorbeigeht, ohne dass wir besiegt werden, ist ein Wunder.“ Es waren fast vier Wochen. Die Nazis brachen den Widerstand erst, indem sie das ganze Ghetto niederbrannten und die Keller sprengten, in denen noch Menschen waren.

Wahrscheinlich werden diejenigen, die meinen, Rassismus heute wieder salonfähig machen zu müssen, nichts aus diesem Buch lernen, sofern sie es überhaupt lesen. Will man aber diesen jüdischen Freiheitskämpfer*innen gerecht werden, so gilt es, jeder Erniedrigung und Einteilung von Menschen entgegenzutreten. Die Shoa ist ohne die gezüchtete Herrenmenschenmentalität der deutschen Mordkommandos undenkbar. Und auch die zweite zentrale Botschaft von Kaziks Erinnerung ist ganz klar: Es ist dringend notwendig, sich zu organisieren.