Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung. Nr. 6, Herbst 2017, Verlag Edition AV, Lich/Hessen, 186 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-86841-201-7
Langsam scheint sich diese neue Zeitschrift mit dem für mich unaussprechlichen Namen („Ne znam“ = kroatisch: Ich weiß es nicht. Aber irgendwann merke ich mir den Namen) zu etablieren. Und das ist gut so. Hier steht die Anarchismusforschung im Vordergrund und weil das akademische Interesse am Anarchismus stetig und international zu steigen scheint, sollten wir dem Herausgeber Philippe Kellermann und dem Verlag Edition AV für deren Engagement in dieser Sache dankbar sein.
Der Aufbau der Halbjahres-Zeitschrift Ne znam ist mit schöner Gleichmäßigkeit übersichtlich: Im Allgemeinen zwischen drei und sechs Aufsätze – diesmal sind es vier -, jeweils ein historisches Dokument und einige Buchrezensionen von neuen, z.T. internationalen Publikationen. So weit so gut.
Die aktuelle Ausgabe 6 ist dem Jahr 1917 mit zwei ausführlichen Beiträgen verpflichtet, so etwa mit der Biographie des in Deutschland recht unbekannten russischen Theoretikers des Anarcho-Syndikalismus Lew Fischelew (aka Maxim Rajewskij, 1880-1931) von Dmitri Rublew und dem zweiten Teil von Philippe Kellermanns „Die Zeitschrift Der Syndikalist im Jahr 1919 und die russische Revolution“. Dazwischen die Beiträge von Andreas Gautsch über eine Kombination von Anarchismus und Christentum bei Eugen H. Schmitt (1851-1916) und Jonathan Eibisch über den Inhalt und Nutzen postanarchistischer politischer Theorien.
Als historisches Dokument gibt es diesmal einen Text von Federico Urales mit dem Titel: „Die Kunst, die Liebe und die Frau im Ateneo von Madrid“ von 1903 in einer erstmaligen Übersetzung mit einer über 18seitigen Einleitung des Hispanisten Martin Baxmeyer. Und dann folgen noch vier Buchrezensionen.
Besserwisserei
Auf knapp 14 Buchseiten bespricht Michael Halfbrodt das Buch: „Lou Marin, Rirette Maîtrejean – Attentatskritikerin – Anarchafeministin – Individualanarchistin“ (Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2016, 262 Seiten, 16,90 Euro). Auf vier Seiten zeichnet er das Leben und Wirken von Rirette Maîtrejean nach, mit Lob, kleinen Quengeleien, dem Aufzählen von Versäumnissen und der Unterstellung, dass sich Lou Marin eine „Wunsch-Rirette“ konstruiert hätte.
Es folgt eine Attacke auf die andere, was darüber hinaus gehende Fehleinschätzungen, Pauschalisierungen sowie ungenügende Erklärungen usw. angeht. Halfbrodt unterzieht die Bezeichnungen im Untertitel – Anarchafeministin, Individualanarchistin und Attentatskritikerin (in dieser Reihenfolge) – des Marin-Buches einer Kritik, die schon an Besserwisserei erinnert. Bis hin zur Kritik an der Übersetzung von Begriffen und an „sprachlicher Schlampigkeit“. Halfbrodt unterstellt Marin ständig aus seinem Blickwinkel einer „gewaltfreien Idelogie“ zu schreiben. Dabei dürfte die Tatsache, dass niemand ein Buch „neutral“ schreibt, doch jedem klar sein. JedeR bringt seinen/ihren Blickwinkel und Gewichtungen in ein Thema ein.
Michael Halfbrodt wie Lou Marin zählen zu den wichtigsten Übersetzern und Kennern Frankreichs und der anarchistischen Geschichte. Beide kennen sich. Warum also eine derartige öffentliche Demontage?
Für mich als Leser des Buches, der der französischen Sprache nicht mächtig ist, bringt diese Rezension wenig. Sie ist eher die Auseinandersetzung eines Spezialisten mit seinem Kollegen. Ich habe das Gefühl, dass mir die Lektüre im Nachhinein gründlich versaut werden soll, obwohl ich es zuvor mit Interesse und Genuss zu meiner Zufriedenheit gelesen hatte.
Dieser Umgang innerhalb der Szene macht mich ziemlich sauer. Das hat nur noch wenig mit „Kritik“ (schon gar nicht mit solidarischer) zu tun, sondern nur mit intellektuellem Fingerhakeln.
Hier stellt sich wieder die Frage nach einer Ethik von Rezensionen innerhalb der anarchistischen Szene. Wenn mir Bücher nicht gefallen, lege ich sie beiseite, aber wenn mich etwas brennend interessiert und trotzdem ärgert, wäre es sinnvoller, den Autor oder die Autorin direkt zu kontaktieren. Schließlich kennt man sich. Da brauche ich mich mit Fachwissen nicht zu profilieren, da es in dem Marin-Buch ja keine grundsätzlichen Fehler oder Lügen gibt.
Einführung
Die Ne znam schließt mit Repliken von Gabriel Kuhn auf Kritik an seiner lobenden Rezension im Internet (www.alpineanarchist.org) zu dem Buch von „Daniel Loick, Anarchismus zur Einführung“ (Junius Verlag Hamburg 2017, 256 S. 15,90 Euro).
Was dem Loick-Buch zugestanden werden kann, ist seine Aktualität. O.k., es ist ja auch gerade erschienen. Dass aber Kuhn Platz in der Ne znam für seine Antworten auf die Kritik seiner Rezension erhält, finde ich schon etwas eigenartig. Warum wurde nicht die Rezension selbst hier publiziert und Kritik daran in der nächsten Ausgabe?
Hier geht es dann u.a. um faktische Fehler wie falsche Jahresangaben etc. Das Ganze macht mich kuselig. Aber beim Thema „Einführungen“ würden mich, der ja auch an solchen mitgearbeitet hat, ganz andere Dinge interessieren: Lesen nur AnarchistInnen solche „Einführungen“?
Hat es an sich schon einen Wert, ob der oder die AutorIn aus der Szene kommt oder nicht? Taugt eine Einführung in den Anarchismus, wenn sie in einem trotzkistischen Verlag erscheint?
Würde ich als Anarchist nicht eher eine Einführung aus einem libertären Verlag empfehlen?
Jedenfalls geht Loick mit anderen Einführungen – subjektiv gesehen – hart um, und schon das Lesen des Inhaltsverzeichnisses gäbe mir Anlass, eine ganze Liste von Unterlassungen anzumerken. Aber interessiert das jetzt jemanden?
Im Prinzip könnte gesagt werden, wenn jemand diese Einführung liest und dadurch neugierig wird und sich mit dem Thema weiter beschäftigt, wäre es doch ein Gewinn, oder?
Forschung
Die Diskussion über den Umgang mit unserer Literatur sollte geführt werden, denn er ist auch ein Teil der Frage, wie wir generell miteinander umgehen wollen. Es geht nicht darum, sich nur gegenseitig zu bestätigen, aber ein solidarischer Umgang mit Kritik sollte auch unseren generellen Ansprüchen genügen.
Da möchte man fast fragen: Womit beschäftigen wir uns eigentlich? Die Verstimmung, die diese Ausgabe der Ne znam auf den letzten Metern bei mir hinterlassen hat, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Periodikum wichtig und empfehlenswert ist. Ne znam sind viele AbonnentInnen zu wünschen. Denn neben der x-ten Einführung bedarf es auch der Forschung, wofür die Ne znam (langsam gewöhne ich mich an den Titel) gute Arbeit leistet.