Zu einem Leben in Würde gehört ein Dach über dem Kopf. Überall auf der Welt aber werden Menschen gezwungen ohne Obdach, ohne schützendes Dach, auf der Straße zu leben. Staatliche Zwangsmaßnahmen verschärfen ihre ohnehin prekäre Lage. In Frankfurt am Main werden Obdachlose zu Verwarnungsgeldern verdonnert, wenn sie in Fußgängerzonen oder auf öffentlichen Bänken schlafen. In Budapest, der Partnerstadt von Frankfurt, greifen Polizei und Justiz zu rigideren Maßnahmen. Menschen, die auf der Straße leben, drohen für diesen "Rechtsbruch" Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren.
Nach wahrscheinlich eher zurückhaltenden Berechnungen der EU leben 33,5% der ungarischen Bevölkerung in Armut. Andere Quellen sprechen von über 40%. Die marginalisierten Bürgerinnen und Bürger können von den Behörden nur wenig oder gar nichts erwarten. Die ungarische Regierung hat Sozialhilfen drastisch gekürzt und die Obdachlosigkeit kriminalisiert. In einem strengen Winter erfroren 200 Obdachlose.
Wer Job und Wohnung verliert, landet auf der Straße. In Ungarn gehört es zum Alltag, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Jobs verlieren und in extreme Armut abrutschen Familien werden durch Zwangsräumung aus ihren Wohnungen vertrieben, weil sie Mieten oder die Raten der Wohnungskredite nicht mehr bezahlen können. In Ungarn lauten 26% aller privaten Kredite auf Schweizer Franken. Nach der Wechselkursfreigabe des Schweizer Franken 2015 und dem dadurch verursachten Kursverfall des Forints erhöhten sich die Schulden im Verhältnis zu den Einkommen drastisch.
Erwachsene Gläubiger setzt man auf die Straße, ihre Kinder nimmt man in staatliche Obhut. Damit werden Familien zerrissen. Gegenwärtig sind 23.000 Kinder in Ungarn durch Wohnungsräumungen von ihren Eltern getrennt. An Sozialwohnungen herrscht großer Mangel, und in Obdachlosenasylen herrschen oft grauenhafte Zustände. Immer wieder versuchen Obdachlose, sich an der Peripherie in kleinen Hüttenkolonien eine Bleibe zu schaffen. Aber früher oder später sind sie den Behörden ein Dorn im Auge und werden vertrieben.
Die Bürgerinitiative AVM kämpft für soziale Gerechtigkeit
Offizielle Stellen erklärten auf Anfrage der Bürgerinitiative „AVM“ (A Város Mindenkié = Die Stadt gehört allen), dass gegenwärtig 70.808 Menschen in Ungarn über keine „gültige Meldeadresse“ verfügen. Zwei Jahre zuvor lag die Zahl bei 63.660 Personen. 41 Prozent von ihnen waren zuvor in Budapest gemeldet. Rechnerisch ergibt das 30.000 Obdachlose in der Hauptstadt. In Frankfurt geht man von 2.700 Menschen aus, die gezwungen sind, auf der Straße zu leben. Noch ein paar Zahlen, um die Dimensionen deutlich zu machen: Ungarn hat 9,8 Millionen Einwohner*innen, davon leben 1,7 Millionen in Budapest. Frankfurt hingegen hat 732.000 Einwohner*innen. Eine Meldekarte ist in Ungarn mehr als eine Formalität, da man ohne sie weder medizinische Versorgung noch Sozialleistungen erhält. Von ihr hängen nicht zuletzt die Bürgerrechte und auch das Wahlrecht ab. 23.865 Menschen haben von dem Recht Gebrauch gemacht, sich ohne festen Wohnsitz anzumelden, was ihnen zumindest juristisch ihre Bürgerrechte sichert, de facto jedoch die Gesamtzahl der Obdachlosen auf fast 100.000 erhöht. Insgesamt stehen 400.000 Wohnungen leer.
In Budapest existieren zahlreiche Bürgerinitiativen, die versuchen, das Los der Menschen auf der Straße zu erleichtern. Ein Beispiel sind die Köche verschiedener Alternativlokale im „hippen“ 7. Bezirk, die sonntags für die Obdachlosen kochen und sie gratis in einem Park bewirten. Die nötigen Gelder für diese Verköstigung erbringen Sammlungen in den Szenekneipen.
In der 2009 entstandenen Bewegung AMV haben sich 50 Menschen aus Budapest mit und ohne Wohnsitz zusammengeschlossen. Sie wehren sich gemeinsam gegen die Verweigerung von Sozialleistungen und die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit. Die Aktivist*innen kämpfen für soziale Gerechtigkeit, die Einhaltung der Menschenrechte und üben ihre demokratischen Rechte aus. Der Name spiegelt wider, was die Mitglieder der Gruppe erstreben: Eine Stadt, mehr noch eine Gesellschaft, basierend auf den Prinzipien von Solidarität und Gerechtigkeit. Sie kämpfen für eine Verankerung des Rechts auf Wohnung in der Verfassung, von dem der Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen spricht. Sie fordern die Kriminalisierung und Diskriminierung der Obdachlosen zu beenden. Den Aufbau eines effektiven Sozialsystems, das niemanden ausschließt.
Mit Druck auf die Entscheidungsträger versuchen sie, die Entwicklung einer entsprechenden Wohnungspolitik zu bewirken. Die Forderung lautet, das Recht auf Wohnraum in die Verfassung aufzunehmen. Der Schutz der Rechte und der Interessen der Obdachlosen sowie der Kampf gegen gesellschaftliche Vorurteile ist auch Bestandteil ihrer Arbeit, mit der sie beweisen wollen, dass Obdachlose, wenn sie sich zusammenschließen, für ihre Menschenwürde eintreten können.
Der tragische Tod zweier Gründungsmitglieder verstärkt das Gefühl der Gruppe, dass der Kampf gegen die Stigmatisierung und Segregation wichtiger ist denn je. Daher arbeiten sie mit anderen Initiativen zusammen, die für ähnliche Ziele kämpfen.
Es gibt keine Hierarchie innerhalb der Gruppe, alle Entscheidungen werden im Plenum gefasst und für die Umsetzung werden jeweils Koordinator*innen bestimmt.
Gemeinsam bereitet man sich auf den passiven Widerstand vor, übt Methoden, feste Menschenketten zu bilden, die von der Polizei nur schwer aufgelöst werden können. Mit gewaltfreiem Protest und zivilem Ungehorsam versucht man, die Zwangsräumung von Wohnungen zu verhindern.
Natürlich setzt man auch auf die klassischen Mittel, Missstände mit Plakaten und Demonstrationen anzuprangern, Wohnraum zu besetzen, versucht darüber hinaus in Verhandlungen mit Behördenvertreter*innen Lösungen für konkrete Fälle zu finden. László Bihari zeigt in seinem Dokumentarfilm (1) über die Gruppe, wie Obdachlose nach Verhandlungen mit der Verwaltung des Stadtbezirks eine leer stehende Wohnung beziehen und die Gruppe sie bewohnbar macht. Es gibt kleine Erfolge zu feiern.
Tessza Udvarhelyi, eine Mitgründerin der Gruppe, kritisiert in dem Film, dass Menschen mit mehr Einfluss, sich nicht für soziale Belange einsetzen, oder sogar alles daran setzen die gegenwärtigen Zustände aufrecht zu erhalten.
Wem gehört die Stadt? Welchen gesellschaftlichen Gruppen wird Teilhabe gestattet? Und in welchem Maße?
Im kapitalistischen System ist keine Lösung der Wohnungsfrage zu erwarten.