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Autoritäres Regime oder Diktatur?

Zur aktuellen Entwicklung in Ungarn. Ein Interview mit dem Philosophen Gáspár Miklós Tamás

| Gáspár Miklós Tamás, Interviewer: Magyar Narancs

Gáspár Miklós Tamás (*1948 in Kolozsvár, Rumänien) ist ein ungarischer Philosoph und Dissident. In den 1980er Jahren war er Teil der illegalen Opposition gegen das kommunistische Einparteienregime und konnte nur im Untergrund oder im Ausland publizieren. Ende der 90er Jahre entwickelte er eine radikale Kapitalismuskritik und war 2001 Mitgründer der ungarischen Attac-Bewegung. 2011 wurde Tamás von der extrem rechten Orbán-Regierung aus seinem Amt als Direktor des Philosophischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften entfernt. (GWR-Red.)

Magyar Narancs: Obwohl die Mehrheit der Ungarn einen Regierungswechsel befürwortet, wird Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen im April 2018 laut Prognosen einen großen Sieg einfahren. Was macht die Opposition falsch?

Gáspár Miklós Tamás: Es macht keinen Sinn darüber nachzudenken, wie die Chancen bei freien Wahlen wären, denn mangels freier Presse gibt es in Ungarn keine freien Wahlen. Für freie Wahlen genügt nicht die Freiheit Parteien zu gründen. Selbst die größten Parteien bestehen in Ungarn im Wesentlichen aus einer Zentrale und deren örtlichen Repräsentanten. Sie existieren nicht als Bewegung. Im vergleichbaren Österreich gibt es Volksparteien mit einer halben Millionen Mitgliedern. Orbáns Fidesz mit ihrem Anhängsel KDNP (Christlich-demokratische Volkspartei) ist keine Partei, sondern eine neue Mischung von staatlichen und halbautonomen Geschäftsmodellen.

Wenn es keine freie Presse gibt und alles durch eine regierungsabhängige Presse beherrscht wird, warum lehnt die Mehrheit der Ungarn die Regierung dennoch ab?

Aus politischer Laune. Die Ungarn mögen das heutige Regime genauso wenig, wie sie das in den 1980er Jahren mochten. Wären die Wahlen damals frei gewesen, hätten sie trotzdem János Kádár gewählt. Das passt nicht zusammen. Politik entsteht nicht, weil die Leute in einer diffusen Art unzufrieden sind. Das hört sich wirr an, doch wer die moderne Geschichte der Politik kennt, ist nicht überrascht.

Welche Bedeutung haben die oppositionellen Parteien in einer solchen Situation?

Von oppositionellen Parteien kann nur im Rahmen eines pluralistischen, parlamentarischen Systems die Rede sein. Das Orbán-Regime ist das nicht. Die Gewaltenteilung ist ungewiss, man regiert willkürlich, aus dem Stehgreif, der rechtliche Rahmen ist nicht gegeben. Die Bedingungen für verfassungsgemäßes Regieren sind nicht erfüllt. Wie könnte es oppositionelle Parteien geben? Wir stellen uns sinnlose Fragen. Obwohl die Gewohnheit ein mächtiger Herrscher ist, sollten Opposition und Wahlen dennoch durch andere Begriffe ersetzt werden, wie zum Beispiel Widerstand oder kollektive Unzufriedenheit. Was entscheidet sich bei uns im Parlament? Nichts. Das gesellschaftliche, politische System, in dem wir leben wird durch die Menschen falsch eingeschätzt.

Wie würden Sie dieses System nennen?

Beim Zentralisieren wird alles Mögliche, was bisher gar nicht da war, der Autorität des zentralisierten Staates untergeordnet. Frühere rechtsstaatliche Funktionen werden von Viktor Orbán und seiner Führungsriege in die eigene Machtsphäre eingeordnet. Hier verliert der übriggebliebene Stumpf des Verfassungsstaates seine Bedeutung. Das ist Dezentralisation und Ausübung der Macht außerhalb der Verfassung. Das kennzeichnet alle rechtsextremen Systeme.

Die Opposition kämpft unbewusst gegen ein von ihr fälschlicherweise als bolschewistisch aufgefasstes System. Unzählige Artikel behaupten, das sei eine Wiedergeburt der Diktatur von János Kádár vor 1989. Das stimmt nicht! Jenes Regime war in der Tat auf Zentralisierung und Verstaatlichung aufgebaut. Dieses ist es nicht, und das ist etwas Neues. Hier wird nach Gutsherrenart regiert, die treuen Vasallen erhalten wirtschaftliche Privilegien, ihre Firmen werden bevorzugt behandelt. Eigenständige Medien werden nicht verstaatlicht, sondern regierungsnahen Oligarchen zugeschanzt. Das ist effektiver als die damals schwerfällige Lenkung der Medien durch den Einparteienstaat. Das gegenwärtige ungarische Regime ist nicht bolschewistisch sondern rechtsextrem. Im Alltag des Dritten Reichs war auch vieles rechtstaatlich, Diebe wurden gefasst, Testamente vollstreckt, Vertragsbrüche geahndet. Die politisch relevanten Entscheidungen wurden aber auf Grund willkürlicher Vorschriften vom Machtapparat ohne gesetzliche Kontrolle gefällt. In Ungarn gibt es gegenwärtig keinen Nazismus, Terror oder totalitäre Machtausübung. Das Chaos in der Verwaltung wird vom rechtsextremen Regime absichtlich erzeugt.

Das gegenwärtige Wahlsystem begünstigt die Fidesz. Halten Sie es für eine Illusion, dass ein gemeinsamer Block der oppositionellen Parteien Orbán trotzdem besiegen kann?

Beim Beibehalten dieses Wahlsystems? Das wäre mal was…

Nach dem Sieg könnte der Wahlmodus geändert werden, man könnte auch andere verfassungskonforme Korrekturen vornehmen.

Das wäre kaum möglich, denn die Ressourcen des ungarischen Staates sind nicht mehr unter staatlicher Kontrolle. Wie könnte außer Orbán jemand anders regieren? Verlöre die jetzige Führungselite die Wahl, würde sie die Macht, die mindestens zur Hälfte informativer Art ist, niemandem überlassen. Es würden einerseits die von ihr zuvor platzierten Minen explodieren, andererseits wären die Institutionen mit ihren mit einem langfristigen Arbeitsvertrag ausgestatteten rechtsradikalen Beamten kaum einfach abzulösen. Das größte Hindernis bilden aber die politisch mobilisierbaren Vermögen und die ausgelagerten Machtzentralen. Auch die Mehrheit örtlicher Verwaltungen wurden mit Fidesz-Mitgliedern besetzt. Regional gibt es keine autonomen Verwaltungen mehr. Die gesamte Palette des autoritären Regimes steht Orban zur Verfügung. Mangels Gegenwehr braucht er keine Gewalt anzuwenden. Das ist in Ungarn ein Regime wie in der Türkei, nur dass es in der Türkei Widerstand gibt.

Ich komme mir lächerlich vor bei der Frage, welche Möglichkeiten die Opposition hat, die Wahlen im April zu gewinnen. Keine. Sollte dennoch eine Orbán nicht genehme Gruppierung gewinnen, müsste diese die vorher rassistische, sich inzwischen der bürgerlichen Mitte annähernde „Jobbik“-Partei beteiligen. Welche Veränderungen wären dann zu erwarten?

Die liberalen Intellektuellen, neuerdings auch die Philosophin Àgnes Heller, haben der demokratischen Opposition eine „technische“ Koalition mit Jobbik nahegelegt.

Einen Verrat zu begehen lohnt es sich, wenn ein echtes strategisches Ziel vorliegt. Das sehe ich nicht. Ich weiß, dass Orbán von Jobbik bereits links überholt wurde, denn sie unterlässt die neonazistische Rhetorik und macht den linksliberalen Wählern Avancen. Aber das hat nichts zu bedeuten. In Europa erinnert man sich an den Kollaps der beiden vergreisten rechtsextremen Regime Spaniens und Portugals im 20. Jahrhundert. In Portugal hatten Offiziere geputscht und in Spanien hatten die Führer der Ultrarechten den Bedarf an Reformen selbst erkannt. Bei beiden waren die Eliten des Staates aktiv. Das Orbán-Regime befindet sich auf seinem Höhepunkt, da kann man so etwas nicht erwarten, obwohl es auch in Ungarn Unzufriedene gibt.

Mehrheitlich ziehen sich die Intellektuellen zurück.

Die Intellektuellen werden von den Rechten – im Gegensatz zum Sozialismus – nicht benötigt. Das hier ist nicht das sozialistische Regime von János Kádár bis 1989. Jenes konnte ohne Intellektuelle nicht funktionieren. Es gab Bedarf an Statistikern, Ökonomen, Ingenieuren, Soziologen, Polizeioffizieren. Ohne Literatur, Musik, Kultur, Volksbildung, Ansehen der Intelligenz gab es den real existierenden Sozialismus nicht. All das braucht man jetzt nicht, die rechtsextreme Regierung stützt sich ausschließlich auf Macht, Angst, Rassismus und Konsum.

Ist es wichtig, ob die FIDESZ-Partei von Orbán in 2018 mit einfacher oder mit einer Zweidrittel Mehrheit gewinnt?

Symbolisch ist das wichtig. Zweifelsohne geht eine weitere Veränderung an der Verfassung mit einer Zweidrittel-Mehrheit leichter. Dem Regime von Orbán können Schranken nur von außerhalb gesetzt werden. Orbán ist gezwungen mit der EU und westlichen Staaten zusammen zu arbeiten. Formell kann er das nicht einfach ignorieren.

Laut aktuellen Umfragen ist selbst eine Vierfünftel-Mehrheit für Orbán nicht ausgeschlossen.

Was könnte Orbán mit einer so großen Mehrheit anfangen?

Diktaturen und Halbdiktaturen werden durch ihren Erfolg erfahrungsgemäß noch skrupelloser. Wenn Sie auf keinen Widerstand stoßen, wenn die öffentliche Meinung durch Angst und Unwissenheit beherrscht wird, könnten sie sich möglicherweise auch zu ganz anderen Methoden entschließen. Auch die internationale Lage hat sich verändert. Trump könnte Orbán ruhig nach Washington einladen. Bisher ist das nicht erfolgt, weil Trump die US-Diplomatie zerschlagen hat und seine Clique bisher die Existenz von Ost-Europa nicht einmal bemerkt hat. Dazu kommt, dass in vielen europäischen Ländern auch fremdenfeindliche, rechtsextreme, faschistische Kräfte in die Regierung gewählt wurden oder zumindest großen Zulauf haben. In Deutschland geht die Ära Merkel bald zu Ende, selbst wenn sie als Kanzlerin weiter macht. Das wird dann aber etwas anderes. Von rechts konnte Christian Lindner Jamaica verhindern. Dass auch in Deutschland die antifaschistisch/demokratische „political correctness“ beendet wird, bemerkte neulich sogar der Mainstream-liberale Timothy Garton Ash im The New York Review of Books. Mit einem größeren Druck muss Orbán jedoch nicht rechnen. Er wird von den Amerikanern nicht geliebt, aber nur deshalb, weil er als Führer eines winzigen Staates arrogant und unverschämt ist. Diese Abneigung nimmt aber zusehends ab.

Teilen Sie die Meinung von vielen Analysten, dass nach Brexit und Trump, den Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland das Pendel wieder in Richtung der demokratischen Kräfte ausschlägt?

Im Gegenteil. In den Niederlanden spielte sich eine Tragödie ab, indem die traditionellen Parteien nur durch die Übernahme von faschistischer Politik siegen konnten. Was sollte daran positiv sein? Genau das geschieht in Ungarn. Inzwischen hat sich die Regierungspartei Fidesz rechts von der früheren rechtsradikalen „Jobbik“ positioniert.

Die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik sind mit ihrer immer aggressiveren Rhetorik in Ungarn noch nicht gleichzusetzen mit dem Abbau der demokratischen Grundordnung.

Doch. Denn die demokratische Grundordnung in Europa basiert nicht nur auf dem einzelnen nationalen Verfassungsrecht, sondern auch auf dem Völkerrecht und auf dem europäischen, föderalistischen Recht. Die Staaten in Europa verletzen ständig das Völkerrecht, man muss nur hinschauen, wie sich die UNO darüber beklagt. Die Schuld am Schicksal der Flüchtlinge in Libyen trägt zuallererst die EU. Werden die Menschenrechte eingeschränkt, so treten die Unterschiede zwischen Staatsbürger und Nicht-Staatsbürger zutage. Das Recht der Staatsbürgerschaft wird in faschistischen Regimen zum Privileg.

Wenn das nicht die Änderung der gesamten Verfassungsstruktur ist, was ist es dann?

In Deutschland wird nunmehr statt einer jährlichen Obergrenze nur von einem „Richtwert“ von 200.000 Asylsuchenden gesprochen. Das ist doch etwas anderes als Orbáns Stacheldraht und seiner Null-Flüchtlingspolitik.

Die öffentliche Meinung galoppiert in Deutschland in atemberaubenden Tempo nach rechts. Außer den Grünen gibt es keine Partei, die nicht einwanderungsfeindlich ist. Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linken, beklagt sich auf Plakaten, es gäbe kein Geld für die Ausbildung von Medizinern, weil man Mediziner aus Nigeria und Marokko ins Land lässt. Auch Melanchons französische Linke ist nationalistisch. Nur Unwissende halten die Sozialdemokraten aus Tschechien, der Slowakei, Rumänien und Serbien für links. Die tschechisch-mährischen Kommunisten (KSCM) sind eine konservative, nationalistische, frauenfeindliche und homophobe Partei. Die mir sehr sympathische britische Arbeiterpartei unterstützt die Tory-Regierung, wenn es um die Begrenzung der Rechte von Gastarbeitern aus Osteuropa geht. Meinen Sie etwa, dass es dabei bleibt? Nein, das war noch nie der Fall und wird es auch jetzt nicht sein. Es ist zu erwarten, dass die neue Regierungskoalition die sozialen Leistungen für Gastarbeiter einstellt, keine Flüchtlinge mehr ins Land lässt, die Studiengebühren erhöht und der Mittelklasse Steuergeschenke macht. Echte reaktionäre Politik, die man aus den 1920er Jahren gut kennt.

Wer sich davon beruhigen lässt, soll es tun. Emmanuel Macron hat die parlamentarische Ordnung Frankreichs ohne die kleinste Gegenwehr zerschlagen und eine neobonapartistische Halbdiktatur etabliert.

Mit welcher Maßnahme hat Macron die Halbdiktatur etabliert?

In einer besonderen Wahlsituation gelang es ihm, eine überwältigende Mehrheit zu bilden, und so kann er mit fast allen Verordnungen gegen den Willen einer Dreiviertel Mehrheit der französischen öffentlichen Meinung regieren. In der Demokratie sollte es nicht unerheblich sein, wie das Volk denkt. Nach Abdankung von General De Gaulle hat sich in der 5. Republik nichts mehr bewegt. Das kann ein Führer mit diktatorischen Zügen jetzt nutzen. Momentan sehe ich inner- und außerhalb Europas leider keine Gestaltungskraft, die prinzipiell etwas gegen ein Regime Typ Orbán hätte.

Geht es nicht gegen Orbán, wenn die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien als Bedingung für EU-Strukturfondzahlungen ab 2020 genannt werden?

In der EU wird darüber nachgedacht, aber das hat kein politisches Gewicht. Juncker und Tusk sind Auslaufmodelle.

EU-Mitgliedstaaten mit rechtsradikalen Regierungen oder Regierungen, die sich vor einer solchen fürchten – etwas anderes gibt es außer Portugal nicht – wollen nicht gegen Orbán und Kaczynski Maßnahmen ergreifen. Regierungen können zwar umgebildet werden, doch die Krankheit der EU dürfte unheilbar sein. Wenn die deutsche Mitte links und Mitte rechts trotz florierender Wirtschaft Europa nicht konsolidieren können, wird die postfaschistische Rechte auf dem ganzen Kontinent triumphieren. Der Respekt vor der Vernunft nimmt weltweit ab, man bemüht sich immer weniger zwischen Fakten und Legenden bzw. Verdrehungen zu unterscheiden. Bekanntes Beispiel dafür ist der sogenannte „Soros-Plan mit den Migranten“. Jeder ahnt, dass die Behauptungen aus der Luft gegriffen sind, doch das ändert nichts an der Anziehungskraft dieses Mantras.

Wenn Sie die Bedingungen für eine rationelle Diskussion nicht vorfinden, was erwarten Sie dann von der Veröffentlichung Ihrer Ansichten?

Die Himmelfahrt… Na ja, es gibt wohl auch die Pflicht. Und dahinter ist auch politisches Kalkül: Die Kontinuität der Kulturkritik sollte gewährleistet werden. Für eine politische Bewegung sind Diskussion und Schreiben kein Ersatz. Dennoch könnte das Äußern von Kritik die Menschen indirekt dazu bewegen, sich für Freiheit und Gleichheit wenigstens auf privater Basis einzusetzen.

Widerstand entsteht gewöhnlich durch irrationale und historische Zufälle. Dazu werden jedoch bestimmte intellektuelle Rahmenbedingungen benötigt.

Man muss Dinge vorbereiten, die man nicht voraussehen kann. In Ungarn wird statt nach Recht und Gesetz nach improvisiertem Chaos regiert. Das offizielle Ordnungsblabla und das konservative Geschwafel sind heuchlerisch und nicht glaubhaft.

Sie dienen lediglich der Selbstvermarktung des Regimes. Ein neues Regime bedarf neuartigen Widerstandes. Für Ratschläge wende man sich an türkische und kurdische Linke, die im Gefängnis schmachten.

Das Interview erschien am 23.11.2017 in der ungarischen Wochenzeitung "Magyar Narancs". Übersetzung für die GWR: Gabor Szasz