Voraussichtlich im Juni 2018 erscheint im Libertad Verlag eine neu übersetzte und erweiterte Ausgabe von Nicolas Walters Standardwerk "Betrifft Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit". (1) Wir finden das von Jochen Schmück nun erstmals ins Deutsche übersetzte Nachwort, das die britische Feministin und Publizistin Natasha Walter im April 2002 zum Buch ihres Vaters geschrieben hat, wichtig und aktuell. Mit freundlicher Erlaubnis des Libertad Verlags veröffentlichen wir es hier als Vorabdruck. (GWR-Red.)
Jeder, der unlängst die Proteste gegen die globale Ungerechtigkeit beobachtet oder sich an ihnen beteiligt hat, kann bestätigen, dass in den letzten Jahren eine dynamische soziale Bewegung entstanden ist. Doch für manche Leute hat diese Bewegung eine besonders negative Seite. So bezeichnete der britische Premierminister nach den Protesten in Göteborg während des Gipfeltreffens der Europäischen Union im Jahr 2001 die Demonstrant*innen als einen „anarchistischen Wanderzirkus“ und verhöhnte ihre Methoden und Träume.
Als ich im gleichen Jahr nur etwas später auf einer weiteren Protestveranstaltung in London durch die Menge ging, sah ich, dass eine Gruppe von Leuten ein schwarzes Spruchband mit der roten Aufschrift „Anarchistischer Wanderzirkus“ trug. Es war sicher nicht das erste Mal, dass Anarchist*innen die Worte ihrer Gegner*innen als ein Markenzeichen des Stolzes benutzt haben, aber diesmal wirkte es wie ein besonders gelungener Witz.
Der Anarchismus wird oft nur als Witz betrachtet, und selbst viele seiner Sympathisant*innen scheinen echte Probleme zu haben, ihn ernst zu nehmen.
Anarchist*innen werden selbst von ihren Freund*innen für die gewalttätigsten oder chaotischsten Ereignisse in der heutigen Bewegung verantwortlich gemacht. Natürlich kann der Anarchismus auch nur ein spontaner Protest sein, ein geschrienes „Nein!“, eine geballte Faust, eine erhobene Fahne, aber jeder Widerstand, der seinen Ansprüchen gerecht werden will, bewirkt nicht nur eine vorübergehende Störung des Alltags, sondern er zielt auch darauf ab, von Tag zu Tag den Alltag zu verändern.
Nicolas Walter hat immer versucht, die positiven Aspekte des Anarchismus zu vermitteln. Er betrachtete den Anarchismus als einen realistischen Weg, um das Leben der Menschen zu verändern, und mit seiner Betonung der pragmatischen Elemente des anarchistischen Denkens hat seine Schrift „Betrifft: Anarchismus“ vieles von dem vorweggenommen, was für die heutige Bewegung gegen den globalen Kapitalismus typisch ist.
Seit dem Zusammenbruch des Experiments des Staatskommunismus sind viele Expert*innen zu der Überzeugung gelangt, dass es wirklich keine Alternative zur bestehenden Organisationsform der Gesellschaft gibt. Aber die Anarchist*innen haben niemals aufgehört an eine Alternative zu glauben. Kaum hatte die Russische Revolution stattgefunden, wendeten sich die Anarchist*innen von ihrem autoritären Charakter ab. Sie fordern immer noch die Freiheit, die der Staatskommunismus verweigerte, ebenso wie die Gleichheit, die der globale Kapitalismus bestreitet.
Anarchismus ist heute die einzige politische Denkweise, die Freiheit und Gleichheit zugleich einfordert. Weil die Anarchist*innen erkennen, dass Freiheit und Gleichheit in der Praxis ein und dasselbe sind, unterscheiden sie sich sowohl von den Sozialist*innen, welche den Schwerpunkt auf die Gleichheit legen, als auch von den Liberalen, die den Schwerpunkt auf die Freiheit legen. Auch wenn viele ihrer Teilnehmer*innen sich nicht als „Anarchisten“ bezeichnen würden, ist die Einsicht, dass Freiheit und Gleichheit unteilbar sind, die charakteristische Einsicht in der heutigen Bewegung gegen die globale Ungleichheit, deren Mitglieder antiautoritäre Methoden verwenden, ohne Hierarchien oder Führungskräfte arbeiten, um ihre Proteste und ihre Forderungen sowohl für ein gerechteres Wirtschaftssystem als auch für eine größere Freiheit für jedes Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln.
Das soll nicht heißen, dass diese Bewegung unbedingt anarchistisch ist. Diejenigen, die heute auf der Suche nach Freiheit und Gleichheit sind, neigen dazu, den Staat nicht als ihr Hauptangriffsziel zu betrachten, wie es die meisten Anarchist*innen in der Vergangenheit getan haben. Stattdessen sehen sie den Kapitalismus, wie er sich vor allem in den multinationalen Konzernen verkörpert, als ihren Hauptgegner.
Diese Konzentration auf die Konzerne als den Hauptfeind hat einige der prominentesten Sprecher*innen der heutigen Widerstandsbewegung argumentieren lassen, dass der Staat im Gegensatz zu den Unternehmen gutartig sein muss, da sie glauben, dass einzig und allein der Staat in der Lage ist, die bösartigsten Folgen des Kapitalismus auf das Leben der Menschen abzuwenden.
Viele Autor*innen, die die Anti-Globalisierungsbewegung unterstützen, haben argumentiert, dass der beste Weg, um hier Fortschritte zu erzielen, der ist, dass die Regierungen Gesetze verabschieden, die das Verhalten der Konzerne reformieren und für eine internationalere Regulierung des globalen Handels durch das gemeinsame Handeln von Gruppen von Staaten sorgen.
Ihr Argument ist tatsächlich, dass der Fortschritt dadurch erlangt wird, dass der Staat die Macht zurückerlangt, die er an die Konzerne abgetreten hat.
Sicherlich haben die Regierungen es oft geschafft, die Macht der Konzerne zu begrenzen – indem z.B. in einigen Staaten die Mindestlohngesetzgebung eingeführt, die Kinderarbeit verboten, die Gesundheits- und Sicherheitsnormen gesichert wurden und anderes mehr. Und sogar Anarchist*innen sehen ein, dass der Staat auch gutartige Funktionen haben kann. Wie Nicolas Walter sagt: „Wir haben es hierbei also einmal mit dem sogenannten freiheitlichen Rechtsstaat‘ zu tun, der sich für die Freiheit des Einzelnen und im anderen Fall mit dem ‚Wohlfahrtsstaat‘, der sich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzt.“ Aber er fügt hinzu, „dass es eine Hauptfunktion des Staates ist, die bestehende Ungleichheit aufrechtzuerhalten“.
Diese letzte Aussage mag den Leuten in der heutigen Widerstandsbewegung, die all ihr Vertrauen in den Staat setzen, zu denken geben. Wozu sind Regierungen da? Können sie dazu gebracht werden, Gleichheit und Freiheit herbeizuführen, oder werden sie die Gleichheit und Freiheit einzig und allein nur so weit schützen, wie diese Rechte nicht mit Reichtum und Macht in Konflikt geraten?
Schau Dir doch das Verhalten unserer eigenen Regierungen an, die ihre Absicht verkünden, der Dritten Welt die Schulden zu erlassen, und dann aber Waffenverkäufe in Entwicklungsländer fördern, die durch noch mehr Schulden finanziert werden. Oder auch: Die die Vorteile des Freihandels verkünden und dann aber an Zöllen und Subventionen festhalten, welche die inländischen Konzerne schützen. Wenn die anarchistische Analyse des Staates richtig ist, die da besagt, dass der Schutz der bestehenden Ungleichheit dem Staat seine Existenzgrundlage verschafft, dann können diese offensichtlichen Widersprüche kaum verwundern.
In der Hinsicht bietet „Betrifft: Anarchismus“ eine nützliche Kritik einiger Argumente, die man häufig in der Anti-Globalisierungsbewegung hören kann. Nicolas Walter argumentiert nicht, dass diejenigen, die für die Reform der Regierungsinstitutionen arbeiten, fehlgeleitet sind, weil sein Pragmatismus ihn dazu bringt zu verstehen, dass dies oft der einzige Weg ist, um Fortschritte zu erzielen. Aber er argumentiert, dass mehr als nur eine Reform des Staates erforderlich sein wird, um Freiheit und Gleichheit herbeizuführen.
Und so harmonisieren seine Ideen mit vielem, was man von den Aktivist*innen hört, denn obwohl diejenigen, die nur die Literatur der Anti-Globalisierungsbewegung gelesen und darin Argumente zugunsten der Staatsmacht gefunden haben, erfahren doch diejenigen, die den Anti-Globalisierungsaktivist*innen auf der Straße zugehört haben, eine gründliche Skepsis gegenüber dem Verhalten der Regierungen. Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg des neuen politischen Aktivismus einhergegangen ist mit einem Rückgang der Wahlbeteiligung und – insbesondere unter den Jüngeren – der Entstehung eines Zynismus gegenüber den Versprechungen des Staates. Der Grund, warum Menschen auf die Straße gegangen sind und sich in Nichtregierungsorganisationen organisieren, anstatt sich für ihre Abgeordneten zu engagieren und deren Wahlkampf zu organisieren, ist, dass sie der Meinung sind, dass ihnen der herkömmliche politische Prozess nicht das bringt, was sie sich wünschen.
Aber wenn die Regierungen nicht handeln, wer dann? Die Tradition, auf die sich Nicolas Walter in „Betrifft: Anarchismus“ bezieht – die Tradition der Anarchist*innen von William Godwin über Peter Kropotkin und Emma Goldman bis zu Ricardo und Enrique Flores Magón, zeigt eine andere Geschichte auf, wie Einzelpersonen oder Gruppen ohne äußere Autorität handeln können.
Das ist der Kern des Anarchismus. Wie Walter sagt, ist das Wesen des Anarchismus, also die Sache, ohne welches es kein Anarchismus wäre, die Verneinung der Autorität, die irgendjemand über einen anderen ausübt. Diese Negation der Autorität ist als Konzept schwierig zu vermitteln. Die meisten Menschen haben den Glauben vollständig verloren, dass irgendetwas ohne die Unterstützung der institutionellen Macht des Staates oder der Marktmacht der Konzerne erreicht werden kann.
Die Unfähigkeit, eine Lösung außerhalb dieser Einrichtungen zu erkennen, hat alle Aspekte der politischen Debatte infiziert. Schau Dir zum Beispiel – um mal weg von der Anti-Globalisierungsbewegung zu kommen – die aktuelle Debatte über die Sozialpolitik an, die immer als ein Konflikt zwischen öffentlicher und privater Vorsorge ausgetragen wird. Doch die Anarchist*innen würden sagen, dass dies in seiner gegenwärtigen Gestalt eher ein Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft ist, da die wirklich öffentliche Sphäre, also die Sphäre, die nicht von der Regierung, sondern von den Menschen selber kontrolliert wird, sich gar nicht entfalten kann.
Es gibt eine andere Möglichkeit, sich eine Wohlfahrtsgesellschaft vorzustellen, in der gewöhnliche Menschen nicht nur in den Krankenhäusern und den Schulen arbeiten, sondern diese auch selber organisieren. Viele Anarchist*innen haben die Idee des Mutualismus hervorgehoben – denn der Wunsch nach Kooperation ist als ein menschlicher Antrieb ebenso ausgeprägt wie der Wunsch nach Autorität. Aber mit dem Aufstieg des staatlichen Wohlfahrtswesens im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurden alle alten Traditionen des Mutualismus, die in einem Land wie Großbritannien bereits existierten – die Genossenschaften, die Gemeindespitäler, die Versicherungsvereine – diskreditiert. Da sich heute sowohl die staatliche als auch die betriebliche Altersvorsorge auf ihre jeweils eigene Art als unbefriedigend erweisen, ist es vielleicht an der Zeit, nicht nur immer komplexere Mischformen der beiden auszuprobieren, sondern auch über das nachzudenken, was Peter Kropotkin die Gegenseitige Hilfe nennt, also das Prinzip, dass die Menschen selber ihr eigenes Wohlergehen organisieren können.
Eine weitere Möglichkeit, in der „Betrifft: Anarchismus“ einen interessanten Beitrag zu den aktuellen Debatten leisten kann, liegt in der optimistischen Synthese von Nicolas Walter hinsichtlich der verschiedenen Arten von anarchistischen, sozialistischen und libertären Aktionen. Er lässt ihre jeweiligen Unterschiede gelten, aber weil er einen so pragmatischen und unkomplizierten Blick auf den Anarchismus besitzt, ist er auch gut darin herauszufinden, was all die verschiedenen Strömungen des anarchistischen Denkens und Handelns vereint und wie jede Strömung sich mit jeder anderen vernetzen kann, anstatt sich zu zerspalten.
Eine solche Sichtweise ist besonders nützlich in der gegenwärtigen Situation. Denn was wir in der Bewegung für die globale Gerechtigkeit sehen ist zweifellos keine einheitliche Bewegung. Es wäre absurd anzunehmen, dass die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung), die mobilisiert wurde, um für die Rechte der indigenen Völker in Mexiko zu kämpfen, und die „Reclaim-the-Streets“-Bewegung gegen die Globalisierung, die in den Metropolen der westlichen Welt tagelange Straßenpartys organisiert, vergleichbare Organisationen wären. Und es wäre unsinnig zu behaupten, dass eine sich selbstversorgende Gemeinschaft in England wie die Kooperative „Tinkers Bubble“ in Somerset und die Bewegung der Landlosen in Brasilien identische Strategien verfolgen würden.
Und doch gibt es auch erkennbar grenzüberschreitende Ideen. Viele der scheinbar unterschiedlichsten Menschen und Organisationen teilen bestimmte grundlegende Ziele. So finden sie eine gemeinsame Basis in ihrer Bejahung des Anti-Autoritarismus, in ihrem Glauben, dass Menschen aus anderen Gründen als dem Willen zur Macht oder dem Wunsch nach Profit handeln, ihrem Wunsch, die wirtschaftliche Organisation auf der Grundlage der Kooperation zu sehen, und die soziale Organisation auf der Grundlage der Gegenseitigen Hilfe und ihrem Glauben an gewaltfreies direktes Handeln als das Mittel, um eine neue Gesellschaft herbeizuführen. Alle diese Ideen sind typisch für diese neuen Organisationen, und sie sind seit mehr als einem Jahrhundert charakteristisch für die Anarchist*innen.
Nicolas Walters Einstellung zu den Unterschieden der verschiedenen Erscheinungsformen des Anarchismus ist ehrlich gemeint, aber sie ist auch ziemlich einzigartig. So sieht er Verbindungen zwischen denen, die sich als erklärte Anarchist*innen verstehen, und denjenigen, die das nicht tun, aber ein anarchistisches Temperament zeigen. Er sieht Verbindungen zwischen den verschiedenen Strömungen des anarchistischen Denkens. Und er sieht die Verbindungen zwischen den verschiedenen Aktionsformen – von der Propaganda durch Wort und Tat bis hin zur Direkten Aktion. Seine Fähigkeit, Vielfalt als eine Reihe von Bindegliedern zu sehen und nicht als eine Reihe von Brüchen, mag vielleicht etwas sehr optimistisch sein, aber sie kann uns auch helfen zu erkennen, dass manchmal das, was die Menschen miteinander verbindet, wichtiger ist als das, was sie auseinander treibt. Und so ist einer der hoffnungsvollsten Sätze dieser hoffnungsvollen Schrift dieser: „In der Praxis sind jedoch die meisten Differenzen zwischen reformistischen und revolutionären Anarchisten bedeutungslos, denn nur der wildeste Revolutionär weigert sich, Reformen gutzuheißen, und nur der sanfteste Reformist weigert sich, Revolutionen zu begrüßen; schließlich wissen alle Revolutionäre, dass ihre Anstrengungen im allgemeinen zu nichts weiter als zu Reformen führen, wohingegen alle Reformisten wissen, dass ihre Arbeit vermutlich zu einer Art Revolution führt.“
Über Nicolas Walter
„Betrifft Anarchismus“ wurde 1968 geschrieben. Ein Jahr zuvor war ich, Nicolas Walters zweite Tochter, geboren worden. Nacht für Nacht saß Nicolas am Küchentisch in einem kleinen Haus in einem hässlichen, unscheinbaren Vorort Nord-Londons. Mit einem Fuß und dann wieder mit dem anderen schaukelte er den Kinderwagen mit seinem quengelnden Baby drin – hin und her. Gleichzeitig schrieb er mit einem schwarzen Füllfederhalter in seiner riesigen, schwungvollen Handschrift den ersten Entwurf dieses Essays, das erstmals 1969 als Sonderausgabe der Zeitschrift „Anarchy“ erschienen ist.
„Betrifft: Anarchismus“ war ein Herzensprojekt und die Frucht eines langen Studiums der anarchistischen Bewegung. Nicolas war erstaunt, dass der Text nicht nur sofort als Broschüre vom Verlag Freedom Press nachgedruckt wurde, von der bis 1977 fünf Auflagen erschienen sind, sondern dass er auch in viele andere Sprachen übersetzt wurde, darunter Japanisch, Serbokroatisch, Griechisch, Deutsch, Chinesisch, Polnisch und Russisch. Die Schrift machte ihn vielerorts – nicht nur unter europäischen und nordamerikanischen Aktivist*innen – bekannt.
Nachdem die letzte Auflage der Broschüre vergriffen war, wollten die anarchistischen Genoss*innen von Freedom Press sie in den frühen achtziger Jahren nachdrucken, aber Nicolas war damit nicht einverstanden. Er bestand immer darauf, dass er den Text noch einmal überarbeiten müsse, bevor er nachgedruckt würde, und sagte, dass er Abschnitte über Feminismus und Umweltschutz, die wichtigsten neuen Strömungen in der Ideologie des Widerstandes, hinzufügen würde. Diese hätten mächtige Ergänzungen seines ursprünglichen Textes sein können. Nicolas hatte im Wachstum der feministischen Bewegung sowohl eine Herausforderung als auch eine Inspiration gefunden. Und obwohl er durch und durch ein urbaner Mensch war, verachtete er zutiefst das reine Konsumdenken und fühlte sich mit der Schönheit der freien Natur innig verbunden. Hätte dies ihn veranlassen können, etwas Wertvolles darüber zu schreiben, wie eine kooperativere Gesellschaft eine liebevollere Beziehung zu ihrer Umwelt haben könnte? Aber obwohl er diese Überarbeitung seines Textes begonnen hatte, wurde sie nie abgeschlossen. So ist diese Ausgabe die erste Neuveröffentlichung seiner klassischen Arbeit seit 1980.
Das bedeutet, dass „Betrifft: Anarchismus“ ungeachtet all seiner Bedeutung, die der Text auch noch in der Gegenwart besitzt, doch ein Werk seiner Zeit ist, geprägt von all dem Idealismus der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. „In den sechziger Jahren dachte ich, dass alles zum Besseren geändert werden könnte“, sagte Nicolas in den Neunzigern in einem Interview mit einem Redakteur der Londoner Zeitung „The Independent“.
In der Tat entstand „Betrifft: Anarchismus“ als das Ergebnis eines lebenslangen Engagements, nicht nur für die anarchistischen Ideen, sondern auch für die anarchistische Aktion. Fünf Jahre bevor er „Betrifft: Anarchismus“ schrieb, hatte Nicolas den Versuch unternommen, Großbritannien vom Weg des Autoritarismus und Militarismus abzubringen, auf dem es sich hinzu zu bewegen schien. 1962 waren Nicolas, seine Frau Ruth und sechs ihrer Freunde, die alle in der Friedensbewegung tätig waren, frustriert von der Richtung, welche die zeitgenössischen Proteste eingeschlagen hatten.
Zwar waren Großdemos und illegale Sitzstreiks alle gut und führten zu viel beachteten Presseberichten und zahlreichen Verhaftungen, aber welche effektive Wirkung hatten sie auf den wachsenden Militarismus der Regierung?
Nicolas und seine Freundinnen und Freunde begannen nach einer Möglichkeit zu suchen, um die Macht des Staates direkt herauszufordern. Im Laufe der Monate diskutierten sie verschiedene Ideen. Dann erinnerte sich einer von ihnen, dass ein Freund eines Freundes einmal erwähnt hatte, dass er in einem „geheimen Bunker“ in der Nähe von Reading in der Grafschaft Berkshire gearbeitet hatte. Auf gut Glück brachen er und drei andere im Februar 1963 nach Reading auf, um herauszufinden, was es mit diesem geheimen Bunker auf sich hatte.
Sie fuhren stundenlang über eisbedeckte Straßen und stapften weitere Stunden über schneebedeckte Felder, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich suchten. Es war nur eine Vermutung, eine absurde Idee, wirklich, aber sie trug Früchte. Am östlichen Ende eines Dorfes namens Warren Row fanden sie einen umzäunten Hügel mit einem Holztor, das mit einem Vorhängeschloss verschlossen war, und einer freistehenden Baracke. Sie kletterten über das Tor, um auf dem Gelände ein aus Ziegeln erbautes Kesselhaus und eine breite Betonrampe zu finden, die in den Hang führte. Nicht weit entfernt davon standen drahtlosen Antennen, deren Kabel in den Hügel führten. Einer von ihnen prüfte die Türen des Kesselhauses und entdeckte, dass sie unverschlossen waren. Sie gingen rein. Innen entdeckten sie eine weitere Tür, die ebenfalls unverschlossen war und sich mit einem Schwung öffnete, um den Blick auf eine steile Treppe freizugeben, die in einen unterirdischen Bürokomplex führte. Sie liefen die Treppe hinunter, die Stille wurde nur vom Trappeln ihrer Schritte unterbrochen. Unten angelangt schnappten sie sich alles an Dokumenten, die sie dort auf den Schreibtischen vorfanden. Dann stürmten sie wieder hinaus und fuhren davon.
Die Untersuchung der Dokumente zeigte der Gruppe, dass sie ein großes Geheimnis entdeckt hatten. Sie waren direkt in ein geheimes Hauptquartier der Regierung eingedrungen, das sich Regionaler Regierungssitz Nr. 6 nannte und erbaut worden war, um Regierungsbeamte im Falle des Atomkrieges zu beherbergen. Zu der Zeit wurde die britische Öffentlichkeit ganz im Dunkeln über die Pläne gelassen, die ihre eigene Regierung für das Überleben nicht des gewöhnlichen Volkes, sondern der politische Elite entwickelt hatte.
Nicolas und seine Freunde, die sich jetzt die „Spione für den Frieden“ nannten, waren im Besitz eines Geheimnisses, von dem sie hofften, dass sie mit ihm den geheimen Militarismus der Regierung ändern könnten.
Erst einmal kehrten vier Mitglieder der Gruppe nach Warren Row zurück, um mehr über das geheime Hauptquartier zu erfahren. Sie fuhren an einem Samstag dorthin und kamen nach Mitternacht an. Diesmal war die Tür des Kesselhauses verschlossen. Dort in der eisigen Dunkelheit stehend, entschieden sie sich mit aller Vorsicht in das Gebäude einzubrechen und verbrachten mehrere Stunden in der Anlage. Im Innern des Bunkers übernahm jeder eine andere Aufgabe. Einer machte Fotos, einer kopierte Dokumente, einer machte Skizzen von Landkarten. Ein anderer durchsuchte jeden Raum und durchstöberte dabei jede Schublade und jeden Schrank. Dann verließen sie den Bunker mit einem Koffer voller kopierter Papiere und einer Kamera voller Fotos.
Die Gruppe tippte dann ein Flugblatt, das sie in 3.000 Exemplaren vervielfältigte, in dem sie erklärte, was sie entdeckt hatte. In den Tagen vor dem Internet oder den Desktop-Computern stellte dies die Gruppe vor überraschende Probleme der Ressourcen und der Organisation. Die Geheimhaltung hatte oberste Priorität. Mit Handschuhen bekleidet tüteten sie die Flugblätter in Briefumschläge ein und warfen diese für den Versand in unterschiedliche Briefkästen in ganz London ein.
Dann verbrannten sie alle ihre eigenen Dokumente, schickten die Originalfotos anonym zu Sympathisant*innen und warfen die Schreibmaschine, die sie für die die Aktion benutzt hatten, in einen Fluss. Wie Nicolas 25 Jahre nach den Geschehnissen schrieb, war in der Nacht vom Mittwoch, dem 10. April 1963, „ein Geheimnis entkommen, und ebenso entkamen die Spione für den Frieden“.
Wenn man jetzt die Geschichte erzählt, dann klingt sie fast wie ein Spiel. Aber für die acht Menschen, die daran beteiligt waren, bedeutete sie deutlich mehr. Alle waren sie jung und hatten noch ihr Leben vor sich, dennoch gingen sie das Risiko von langen Gefängnisstrafen ein für das, wovon sie überzeugt waren. Die unmittelbare Wirkung ihrer Aktion war explosiv.
Die tausenden von Flugblättern waren in die Redaktionsbüros der Zeitungen, in die Häuser von Prominenten, Abgeordneten und Demonstrant*innen versendet worden, und obwohl die Regierung sofort eine sog. „D-Notice“ (2) verschickt hatte, um die Veröffentlichung von Informationen über das System der geheimen Regierungsbunker zu verhindern, beschlossen die Zeitungen, diese Warnung zu ignorieren. An diesem Samstag machte die Geschichte Schlagzeilen in jeder britischen Zeitung. Tausende von Demonstrant*innen, die sich damals an einem weiteren Aldermaston-Friedensmarsch in der Gegend beteiligten, machten sich sofort auf nach Warren Row, um dort zu demonstrieren. Dieser Tag, es war der 13. April, war gleichzeitig auch der 21. Geburtstag von Ruth Walter. Zusammen mit Walter saß sie im schwachen Sonnenschein draußen in Warren Row, trank billigen Rotwein und sang zusammen mit dem Rest der Menge: „We shall overcome“.
„Es war einer der magischsten Tage“, sagte sie später, „Plötzlich wussten wir, dass wir damit wirklich davongekommen waren.“
Die meisten Leute schienen zu glauben, dass es nur ein Insider gewesen sein kann, der eine solch sensible und beunruhigende Information geleakt hatte. Der „Sunday Telegraph“ war sich dessen sicher und schrieb am 21. April: „Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Untersuchung einen scharfsinnigen politischen Kopf ans Licht bringt, der diese brillante subversive Operation geleitet hat“, und am 19. Mai schrieben sie über „ein Genie, das hinter den Spionen für den Frieden steckte“, einen „Jekyll- und Hyde-Charakter“, den man sich als „einen brillanten Mann“ vorstellte, „der einen wichtigen Job durchführte“.
Trotz – oder auch gerade wegen – so fiebriger Spekulationen wurden die wirklichen Spione nie ermittelt oder inhaftiert.
Was haben die Spione für den Frieden langfristig erreicht?
In einer Hinsicht sehr wenig, denn die Regierung hielt an ihrer Überzeugung fest, dass sie einen Atomkrieg führen und überleben könnte, und die Aktion der Spione für den Frieden löste auch keinen Schneeballeffekt zur Entstehung einer massenrevolutionären Aktion aus, wie einige von ihnen sicherlich gehofft hatten.
In anderer Hinsicht haben sie aber doch sehr viel erreicht, denn die Idee, dass die Menschen über die geheimen militärischen Vorbereitungen ihrer Regierung informiert werden sollten, fand fruchtbaren Boden in einer sich wandelnden Gesellschaft. Zusammen mit der Duplizität der später im gleichen Jahr stattfindenden Enthüllungen der Profumo-Affaire (3) half die Geschichte, den bedingungslosen Respekt zu brechen, der die Beziehung der britischen Bevölkerung zu ihrer Regierung bislang geprägt hatte. Die einzelnen Spione wurden von dieser Mischung aus Erfolg und Misserfolg ermutigt und in Bestürzung versetzt. Im Laufe der Jahre erlebte Nicolas den charakteristischen Verlust an Illusionen, wie das so vielen Revolutionären ergeht, und er begriff, dass, obwohl er der Gesellschaft geholfen hat sich zu ändern, die Zukunft, an die er einmal geglaubt hatte, sich nicht realisieren würde – zumindest nicht zu seinen Lebzeiten.
Aber der Verlust des Glaubens an eine revolutionäre Zukunft hat Nicolas nur gelegentlich zu schaffen gemacht. Die meiste Zeit machte er weiter mit dem, was er immer getan hatte und protestierte energisch gegen die Geheimniskrämerei der Regierung, gegen den Militarismus, für die freie Rede und für den Frieden. Nur einmal brachte ihn das tatsächlich ins Gefängnis. Im Oktober 1966 hatte er an einem Protest gegen die britische Politik gegenüber dem Vietnamkrieg teilgenommen, indem er einen Gottesdienst in Brighton störte, in dem der damalige britische Premierminister Harold Wilson eine Bibellesung hielt. „Heuchler!“, rief er, „wie können Sie das Wort Gottes benutzen, um Ihre Politik zu rechtfertigen?“ 1967, kurz nach meiner Geburt, wurde er zu zwei Monaten Gefängnis wegen seiner Rolle in der Protestaktion verurteilt. Ich habe noch das Foto, das auf der Vorderseite der „Sun“ veröffentlicht wurde (also in den Tagen, als die „Sun“ noch eine seriöse Zeitung war), das uns vier zeigt – meine Eltern, meine Schwester und ich selbst im Alter von sechs Monaten – wie wir fragend in die Kamera schauen, kurz bevor mein Vater eingesperrt wurde.
Viele Anarchist*innen haben sich dem Anarchismus wegen ihrer persönlichen rebellischen Einstellung zugewandt. Nicolas machte da keine Ausnahme. Er war ein natürlicher Anarchist, mit einer geringen Toleranz für die Autorität, und er besaß große Reserven an Zorn. Als Kind in eine Internatsschule geschickt, dann direkt von der Schule zum Kriegsdienst und von dort direkt an die Universität von Oxford, dabei lernte er trotz – oder wegen – seines traditionellen Hintergrundes der Autorität zu misstrauen.
Erstaunlicherweise findet man in seiner eigenen Familientradition auch den Anarchismus. So war sein Großvater, Karl Walter, einer von zwei britischen Delegierten des ersten Internationalen anarchistischen Kongresses, der 1907 in Amsterdam abgehalten wurde.
Obwohl Nicolas in seinen letzten Jahren einen Großteil seiner Protestaktivitäten aufgab, auch wegen seiner zunehmenden körperlichen Behinderung, hörte er nie auf, für die anarchistische Presse zu schreiben und auf anarchistischen Versammlungen zu sprechen. Eine Broschüre, die er 1986 über die Bedeutung des Mai-Feiertages veröffentlichte, kann man zugutehalten, dass durch sie der 1. Mai als ein populärer Tag des Protests für die Anarchist*innen in Großbritannien wiederentdeckt wurde. Und seine Edition der Essays von Charlotte Wilson, einer Anarchistin, die mitgeholfen hatte 1886 in London die international renommierte anarchistische Zeitschrift „Freedom“ zu gründen, wurde nach seinem Tod im Jahr 2000 veröffentlicht.
Er war daran interessiert, wie eine neue Generation die anarchistischen Ideen für sich entdeckte und definierte – obwohl ihn ihr Mangel an historischem Bewusstsein und das Fehlen konkreter Ziele für die Zukunft oft auch wütend gemacht hat.
Es ist traurig, dass er die Neuauflage von „Betrifft: Anarchismus“ nicht mehr erleben konnte, aber seine Worte leben weiter, und seine Stimme klingt wie jene, an die diejenigen, die ihn kannten, sich erinnern: kämpferisch und kompromisslos, aber immer flackert im Hintergrund eine große Hoffnung und Menschlichkeit auf.
Natasha Walter
(1) Nicolas Walter: Betrifft Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit. Mit einem Vorwort und einer kommentierten Anarchismus-Bibliographie von Jochen Schmück sowie einem biographischen Nachwort von Natasha Walter. Libertad Verlag, Potsdam, voraussichtlich Juni 2018, 3. neu übersetzte und erweiterte Ausgabe, ca. 260 Seiten. ISBN 978-3-922226-28-4. Ladenpreis: ca. 14,80 Euro.
(2) Eine D-Notice (Defence-Notice) ist eine vom britischen "Defence and Security Media Advisory Committee" herausgegebene Empfehlung an die Medien um zu verhindern, dass bestimmte Informationen im Interesse der nationalen Sicherheit veröffentlicht werden. Dem noch heute unter anderem Namen bestehenden Komitee gehören Mitglieder der Regierung und der Medien an. Das System der D-Notice wurde bereits 1912 eingeführt, und es galt als Kompromiss zwischen nationaler Sicherheit und Pressefreiheit. Die D-Notices wurden noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg von den britischen Medien im Rahmen einer freiwilligen Selbstzensur weitgehend befolgt.
(3) Die Profumo-Affäre war ein politischer Skandal um den britischen Heeresminister John Profumo in den Jahren 1962/63, dem vorgeworfen wurde, 1961 eine Affäre mit dem Mannequin Christine Keeler gehabt zu haben, die wiederum eine Beziehung mit Jewgeni "Eugene" Iwanow, dem Marineattaché der sowjetischen Botschaft, unterhalten haben soll. Es kamen Gerüchte auf, dass Keeler den Minister im sowjetischen Auftrag ausspioniert habe. Der Skandal führte am 5. Juni 1963 zum Rücktritt von Profumo. Die Profumo-Affaire hatte das Ansehen der Regierung selbst so beschädigt, dass auch der konservative Premierminister Harold Macmillan im Oktober 1963 aus gesundheitlichen Gründen, nicht zuletzt aber auch wegen des politischen Skandals, seine Ämter niederlegte.