Schon in der Ankündigung der 9. Anarchietage in Winterhur vom 9. bis 11. Februar 2018 hatten die Veranstalter*innen in der Schweiz angemerkt, dass sie selbst sich in Lebensphasen befinden, die nicht dem Standardklischee der jugendlich-ungebundenen Aktivist*innen entsprechen (vgl. GWR 429).
So wurden hauptsächlich am Samstag Möglichkeiten diskutiert, wie politische Arbeit in anarchistischen Zusammenhängen aussehen kann, wenn der allabendliche Besuch des örtlichen Punkschuppens durch neue Zwänge abgelöst wird: Setzt die Kombination von überbordenden Lohnarbeitszeiten, Familie und zunehmender Ermüdung ein, werfen viele langjährig politisch Aktive das Handtuch – und das liegt nicht immer an einem selbstgewählten Gang in die Spießigkeit, sondern auch an linken Strukturen, die diese Lebensmodelle ausgrenzen.
Einen Schwerpunkt des Programms bildeten deshalb Überlegungen, wie Elternschaft, die Notwendigkeit eines geregelten Einkommens und überhaupt das Älterwerden mit libertären Ansprüchen und politischer Praxis vereinbar sein können. Bereits die Auftaktdiskussion am Freitagabend hatte mit alternativen Bildungsmodellen ein Thema aufgegriffen, das gerade Menschen mit Kindern anspricht.
Einem völlig anderen Bereich widmete sich der Sonntag mit den Workshops des çapulcu-Kollektivs zu Technologiekritik und zu sicherer Kommunikation, die beide als Broschüren veröffentlicht sind.
Der Samstag war in einen Vormittags- und einen Nachmittagsblock gegliedert, in denen jeweils zwei Veranstaltungen stattfanden. Recht gut besucht war die morgendliche Diskussion über die Problematik, Kinder und politischen Aktivismus zu vereinbaren – für anarchistische Zusammenhänge eine ebenso große Herausforderung wie für die Eltern selbst, wenn sie versuchen, ihre Abläufe diesen Notwendigkeiten anzupassen.
Der parallel laufende Workshop zur „Tyrannei unstrukturierter Gruppen“ fand nach einem ersten Input in Diskussionsphasen statt. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie (informelle) Hierarchien innerhalb libertärer Politstrukturen abgebaut werden könnten, darunter Informations-, Wissens- und Erfahrungshierarchien ebenso wie die unterschiedlich starke Einbindung in die gesamte politische Szene.
Bei diesen Gesprächsrunden traten klare Gegensätze zutage, die die Interessen verschiedener Altersgruppen widerspiegelten.
Ebenso wurde das Konfliktfeld zwischen effektivitätsorientierter Arbeit und möglichst hierarchiearmen gruppeninternen Prozessen sichtbar. Für alle befriedigende Lösungsansätze konnten nicht entwickelt werden, doch die geäußerten Ideen waren hilfreich, um die Hierarchien gerade in sehr heterogenen Strukturen zu reflektieren.
Nachmittags widmete sich ein Workshop des Kollektivs RaAupe unter dem Titel „Gemeinsame Ökonomie und kollektive Organisation von Leben“ einer alternativen Lebensgestaltung, die der gesellschaftlichen Zersplitterung in Individuen und Kleinfamilien entgegengesetzt werden kann.
Zeitgleich fand der Vortrag „Älter werden und aktiv bleiben!“ des Politaktivisten Michael Dandl statt, in dem der seit 35 Jahren in (post-)autonomen Zusammenhängen Engagierte anhand seiner eigenen Biografie und theoretischer Analysen das Thema umriss. Angesprochen wurden die Entstehung einer fundamentaloppositionellen Haltung – oftmals im Kontext jugendbewegter Subkultur – und deren Beibehaltung trotz zunehmenden sozialen Drucks, trotz persönlicher Frustration und trotz staatlicher Repression.
Thema war auch der szeneinterne Ageismus: in den von Jüngeren dominierten Zusammenhängen wird eine Ablehnung gegenüber den Älteren häufig offen geäußert, und ein Großteil der Plenums- und Aktionsabläufe ist an den Möglichkeiten junger Menschen orientiert.
Der lange Input ging fließend in eine rege Diskussion über, in der zunächst die Frage im Raum stand, wie es nach dem Abklingen der anfänglichen „Wut im Bauch“, die in den ersten Jahren Hauptmotor für die politische Arbeit ist, weitergeht: wie kann daraus konstruktiv eine dauerhaft widerständige Haltung entwickelt und diese auch bei veränderten Lebensumständen aufrechterhalten werden?
Viele Teilnehmer*innen berichteten von ihren Erfahrungen in altersgemischten Gruppen oder auch in Strukturen, die sich hauptsächlich aus Älteren zusammensetzen, die über ähnliche (Polit-)Sozialisationen und Bewegungserfahrungen verfügen. Die Berichte von langjährig Aktiven, in der von ständigem Wechsel geprägten Szene mit immer neuen Mitstreiter*innen die immer selben ermüdenden Diskussionen zu führen, ermöglichte den Jüngeren ein besseres Verständnis für deren Situation und ergänzte den morgendlichen Workshop über gruppeninterne Hierarchien.
Fazit
Die bei den Anarchietagen geführten Debatten waren ein wichtiger Beitrag, um die Positionen und Schwierigkeiten von Menschen anderer Altersstufen und Lebenssituationen zu verstehen und diese in den gemeinsamen politischen Alltag einzubeziehen.
Silke