Pierre Ramus: Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. von Gerhard Senft, Verlag Monte Verità, Wien 2017, 284 Seiten, 45 Euro, ISBN 978-3-900434-91-5
Als jugendlicher Aktivist fuhr ich mehrfach nach Wien, um dort – auch noch in der „National“-Bibliothek – die Zeitschrift von Pierre Ramus (1882-1942) aus den Zwanzigerjahren, „Erkenntnis und Befreiung“, zu lesen.
Das war für mich eine lebenslang nachwirkende Inspiration für meine gewaltfrei-anarchistischen Überzeugungen. Umso mehr freut es mich – inzwischen einige Jahrzehnte später –, dass nun von der Wiener Pierre Ramus-Gesellschaft in Herausgabe von Gerhard Senft eine Werkausgabe in Angriff genommen wird. Der erste Band der auf acht Bände angelegten „Gesammelten Werke“ ist 2017 erschienen.
Er umfasst eine ausführliche Einleitung des Herausgebers, in welcher er Pierre Ramus’ Biografie in die Gesamtgeschichte des Anarchismus einbettet und dabei besonderen Wert auf Personen und Bewegungen legt, die Ramus’ Denken beeinflusst haben, seien es etwa die proudhonistische Tradition, der revolutionäre Syndikalismus in Frankreich, der Stirnersche Individualismus oder aber die russisch-anarchistische Tradition mit Tolstoi, Bakunin und Kropotkin. S. 61-72 zeichnet Senft im Anschluss daran den spezifischen Lebenslauf Ramus’ nach, der ihn nach früher Politsozialisation in den USA und in England ab 1907 wieder nach Wien zurückführte, wo er in den Zwanzigerjahren mit der Organisation des „Bund herrschaftsloser Sozialisten“ (BhS) laut Reinhard Müller (bei einem Vortrag im CIRA Lausanne 1996) „die mächtigste anarchistische Bewegung“ im Österreich des 20. Jahrhunderts aufbaute. 1925 hatte der BhS rund 4000 Mitglieder. In kaum einem anderen Land – von Indien abgesehen, wenn man Gandhi als gewaltfreien Anarchisten interpretiert, wie es auch Senft tut (S. 44) –, hat der gewaltfreie Anarchismus ein gesamtes Jahrzehnt lang die anarchistische Bewegung so geprägt wie in Österreich. Am Ende seiner Einleitung spürt Senft dann noch dem Geist der gewaltfreien Revolte (etwa die Nelkenrevolution in Portugal 1974) und dem zivilen Ungehorsam von Ramus’ Tod bis in die heutige Zeit nach (S. 72-79).
Es folgen Ramus’ Biografien von Anarchisten, die ihn beeinflussten. Ramus schrieb über sie in Zeiten lebenswichtiger geografischer und politischer Weggabelungen: über William Godwin (1907), Bakunin (1908), Tolstoi (1920), Edward Carpenter (1910) und Francisco Ferrer (1921), wobei manche Biografien, wie etwa über Godwin und Ferrer, nach 1968 in Reprints wieder veröffentlicht wurden und Ramus-Kenner*innen nicht neu sind.
Außer Bakunin stellt Ramus die Genannten durchweg als Anarchisten dar, die revolutionäre Gewalt einer Herrschaftskritik unterwarfen und nach einem alternativen Weg für den Anarchismus suchten. Bei Bakunin ist Ramus in sanfter, aber spürbarer Kritik an Proudhon doch wichtig, dass das Ziel des Anarchismus die Revolution bleiben (S. 178ff.) und in Abgrenzung zum Marxismus von den „Dogmenfallstricken der Hegelei“ (S. 181) befreit werden müsse. Besonders hat mir beim Wiederlesen Ramus’ längerer Text über Godwin gefallen, wo er in einem ersten Abschnitt über englischsprachige Vorläufer Godwins sein, in den US- und Englandjahren gesammeltes Wissen ausbreitet und der Ansicht widerspricht, nur die französische Tradition des 18. Jahrhunderts sei revolutionär gewesen.
Es ist beeindruckend, dass Ramus direkt nach dem Ersten Weltkrieg, in der Revolutionszeit, als es in Österreich eine Rätebewegung gab (siehe dazu Peter Haumers Aufsatz in „Ne zam“, Nr. 7, S. 67-82) und einige frühere Anhänger Ramus’ bewaffnet für die ungarische Räterepublik kämpften, gerade seiner gewaltfrei-anarchistischen Überzeugung treu blieb.
Davon zeugen auch die Biografien über Tolstoi und Ferrer. Bei Tolstoi widerspricht er energisch einer passiven Deutung des Begriffs vom „Nichtwiderstreben“, denn laut Ramus verstehe Tolstoi darunter lediglich „das Nichtwiderstreben mittels Waffengewalt, weil diese nie Revolution, immer nur Krieg und neue Macht“ herbeiführe (S. 190f.). Berührend ist der längere, den Band abschließende Text zu Francisco Ferrer und dessen europaweiter Bewegung für freie, „moderne“ Schulen.
Ramus lässt viel Ferrer im Original zu Wort kommen, und breitet Dokumente, Briefe, sogar Verhörprotokolle und Anwaltsreden des Prozesses von 1909 vor den Leser*innen aus, wodurch die hochwillkürliche Fabrikation des Mordes der Militärjustiz und der Kirche an Ferrer deutlich wird – in Wahrheit ein ideologischer Mord wegen dessen antiautoritärer, rationalistischer Erziehung. Ramus zitiert dabei u.a. Originalaufsätze von 10-12jährigen Schüler*innen aus Ferrers „Moderner Schule“ (S. 225).
Darin hieß es von Schüler*innen zu „Das Wirtshaus“:
„Wie schade, dass es soviele Wirtshäuser und so wenige Freie Schulen gibt! In den Wirtshäusern betrinken sich die Männer und verzehren den Unterhalt ihrer Familie. Die Frauen leiden darunter und werden krank, infolgedessen treiben sich die Kinder, schlecht genährt und schlecht gekleidet, auf den Straßen herum, lernen weder Lesen noch Schreiben und gehen denselben Weg wie ihre Väter.“
Und zu „Der Krieg“:
„Die Menschen sollten nicht gegeneinander kämpfen. Die Waffen wurden von den Menschen erfunden, um ihre Mitmenschen zu beherrschen, anstatt dass sie nützliche Werkzeuge zum Fortschritt der Menschheit erfunden hätten.“
Kinder (und die Erwachsenenwelt, in die sie hineinwachsen) könnten so frei sein! Es kömmt drauf an, auf welche Schule sie gehen!
Ramus war Vegetarier und Anti-Alkoholiker.
Leider gibt es einen Tropfen Wermut in dieser wunderbaren Ausgabe: das ist der Preis. Mit 45 Euro kriegt man jugendliche Aktivist*innen kaum dazu, dieses Werk und die nachfolgenden Bände zu kaufen – und gerade für sie wäre es schön, sich, wie ich in jungen Jahren, von Ramus inspirieren zu lassen. Wollen wir hoffen, dass sie den Weg in die Bibliotheken finden.
N.O. Fear