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Sehnsucht nach der Anarchie

Ein anarchistischer Leitfaden zeigt, dass die Utopie der herrschaftsfreien Gesellschaft so bewegend wie eh und je ist

| Bernd Drücke

Nicolas Walter: Betrifft: Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit. Mit einem biografischen Nachwort von Natasha Walter. Herausgegeben, neu aus dem Englischen übersetzt, mit einem Geleitwort, Anmerkungen und einer kommentierten Anarchismus-Bibliografie versehen von Jochen Schmück. Libertad Verlag, Potsdam 2018, 200 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 978-3922226284

Im Mai 2018 erschien unter dem Titel „Anarchist*innen glauben an eine Alternative“ in der Graswurzelrevolution Nr. 429 ein Artikel von Natasha Walter als Vorabdruck. Bei diesem packenden Text handelt es sich um das von Jochen Schmück 2018 erstmals ins Deutsche übersetzte, biografische Nachwort, das die bekannte Feministin ursprünglich 2002 für eine britische Neuauflage zum Buch ihres Vaters Nicolas geschrieben hat.

Nun ist die von Jochen Schmück neu übersetzte und erweiterte Ausgabe von Nicolas Walters Bestseller „About Anarchism“ unter dem Titel „Betrifft Anarchismus. Leitfaden in die Herrschaftslosigkeit“ auf Deutsch erschienen.

Die gute Schreibe hat die Guardian-Autorin Natasha Walter sozusagen von ihrem Vater Nicolas „geerbt“. Sein Buch war ursprünglich ein Artikel und erschien erstmals 1969 in der britischen Anarchozeitschrift Anarchy, bevor der Text seitdem in mindestens 16 verschiedene Sprachen übersetzt und in vielen Ländern der Erde als Buch verbreitet wurde. „About Anarchism“ ist ein moderner Klassiker, verständlich und mitreißend geschrieben, ein guter Einstieg in das Thema Anarchismus. Bis heute hat dieser Einführungstext kaum an Aktualität verloren und ist auch in der dritten deutschsprachigen Auflage seit 1979 dazu geeignet, jungen und alten Menschen zu vermitteln, was es mit der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft auf sich hat.

Der Historiker und Publizist Nicolas Walter (1934 – 2000) hat zahlreiche Texte und Bücher unter anderem zu den Themen Anarchie und Atheismus geschrieben. Seit 1958 engagierte sich der Anarchist aktiv in der britischen Antikriegsbewegung.

Besonders spannend nicht nur für Graswurzelrevolutionär*innen ist, dass das Gründungsmitglied des antimilitaristischen „Comitee of 100“ in der im Untergrund arbeitenden Gruppe „Spies for Peace“ (Spione für den Frieden) aktiv war, die 1963 die bis dahin geheim gehaltenen Vorbereitungen der britischen Regierung zur Führung eines Atomkrieges aufdeckte. Die Ausführungen seiner Tochter dazu lesen sich wie ein Krimi. (S. 79ff.)

Aber auch die anderen Texte in der erweiterten Neuauflage sind eine Bereicherung für alle, die sich für libertär-sozialistische Ideen, Strömungen und Aktionsformen interessieren.

Im persönlichen Geleitwort zur Neuauflage stellt Jochen Schmück klar, dass der Anarchismus gerade wegen der Vielfalt seiner Erscheinungsformen stark ist und „wegen der Toleranz, die die Anarchist*innen gegenüber der gesellschaftlichen Vielfalt haben“. Der Libertad-Verleger erinnert uns daran, dass es „nicht den einen richtigen Weg gibt, der die Menschheit in die herrschaftsfreie solidarische Gesellschaft führt, sondern es gibt so viele Wege wie es Menschen gibt, die Sehnsucht nach der Anarchie haben“. (S. 12)

Nicolas Walters Text ist im Kontext des weltweiten Aufbruchs der 68er-Bewegung zu verstehen. Entsprechend optimistisch kommt er rüber. Das tut gerade heute gut. Seine Erkenntnisse bleiben so relevant wie damals. Nicolas Walter: „Ähnlich wie für Atheisten im Mittelalter, die die Existenz von Gott in Frage stellten, ist es für heutige Anarchisten nicht leicht, die traditionellen Schranken des Denkens zu durchbrechen und die Menschen davon zu überzeugen, dass die Notwendigkeit einer Regierung nicht selbstverständlich ist, sondern dass man über sie diskutieren und sie sogar ablehnen kann.“ (S. 61)

Für Anarchist*innen sei es unabdingbar, sich ein ganz neues Bild von der Welt zu machen und eine neue Methode zu entwickeln, sich mit ihr zu beschäftigen.

Anarchismus-Bibliografie

Für alle, die nach dem Genuss der Walter-Texte hungrig auf weitere anarchistische Leckerbissen geworden sind, bietet die von Jochen Schmück kommentierte Anarchismus-Bibliografie mit 250 Titeln auf den Seiten 87 bis 198 fast alles, was das Herz begehrt. Fast alles, denn natürlich fehlen dabei auch etliche mir wichtige Bücher, aber das ist angesichts der Vielzahl an anarchistischer Literatur, die in den letzten Jahren auch in deutscher Sprache erschienen ist, unvermeidlich.

Bernd Drücke