Verkehrte Welt. Weil der Inhalt eines Artikels, der in der anarchopazifistischen Zeitschrift Graswurzelrevolution (GWR) abgedruckt war, vom Verfassungsschutzchef des Landes Thüringens, Stephan Kramer, zur Begründung der Überwachung der AfD in seinem Bundesland herangezogen wurde, stellte der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Jörg Henke, die GWR am 21. September als „linksextremes Schmierblatt“ an den Pranger. Mit seiner Behauptung, der Verfasser Andreas Kemper habe sich „verfälschter Argumente“ (1) bedient, hielt er sich aus gutem Grunde bedeckt. Was die neue Rechte im Falle der bürgerlichen Presse zum pauschalen – und damit nicht rechenschaftspflichtigen – Vorwurf der notorischen Lüge verdichtet hat, unterblieb in diesem Fall. Henke hätte rechtliche Schritte fürchten müssen, wenn er den Autoren konkret falscher Tatsachenbehauptungen bezichtigt hätte.
Unter der Überschrift „Björn Höckes faschistischer Fluss – Der völkische Machiavellismus des AfD-Politikers“ (2) unterzog Kemper das aus einem langen Interview mit dem AfD-Politiker hervorgegangene Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ einer akribischen Analyse. Er gelangt dabei zu dem Schluß, daß die AfD „nicht weiter als ‚rechtspopulistisch‘ oder ’nationalkonservativ‘ verharmlost werden“ dürfe. Mit der Rehabilitation des zwischenzeitlich von einem Parteiausschlußverfahren bedrohten Höcke sei „die AfD faschistoid, denn die Tendenz in der AfD geht in Richtung Höcke, also Faschismus.“ Indem Kemper aus dem Vollen der Bekenntnisse des Thüringer Politikers schöpft und seine Worte ernst nimmt, tut er im Grunde genommen nichts anderes als das, was dieser intendiert haben dürfte, als er seine Gesinnung frei und offen zu Gehör brachte. Nun gegen die kritische Lektüre des Buches zu polemisieren fördert vor allem zu Tage, daß die AfD ein prinzipielles Problem mit dem demokratischen Diskurs hat.
Wenn sich ihre PolitikerInnen dagegen wehren, in die faschistische Ecke gestellt zu werden, dann vor allem deshalb, weil die Partei noch nicht auf die Positionen ihres rechtsradikalen Flügels eingeschworen ist. Im demokratischen Schönheitswettbewerb durchzufallen ist für sie ein Hindernis auf dem Weg zur Macht, also behilft man sich damit, in wichtigen programmatischen Punkten indifferent und vielseitig auslegbar zu agieren. Sich zur Zeit auf wesentliche politische Positionen eindeutig festzulegen bedrohe den Bestand der Partei, meint die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber in ihrem Buch „Inside AfD“ (3). Zugleich sorge Höcke dafür, daß die Grenze des ungestraft Sagbaren immer weiter nach rechts wandert und die Liberalen in der Partei zum Austritt genötigt würden. Da der Aufstieg Höckes zum AfD-Führer ihrer Einschätzung nach kaum noch zu verhindern sei, wobei die Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz seinen Kultstatus nur noch erhöhe, besteht die reale Gefahr, daß die neue Rechte in Deutschland autoritäre Verhältnisse durchsetzt, von denen viele Menschen glauben, daß sie nur in Ländern wie der Türkei möglich seien.
Demgegenüber ist der Vorgang, daß der Chef eines Landesamtes für Verfassungsschutz aus einer Zeitschrift zitiert, die ihrerseits in verschiedenen Verfassungsschutzberichten Erwähnung fand, kaum der Erwähnung und ganz bestimmt nicht der Skandalisierung wert. Wenn die AfD-Landtagsfraktion Thüringen, deren Fraktionsvorsitzender Höcke ist, dies als „Anschlag auf die Verfassung“ (4) verurteilt, dann nimmt diese Scharade Züge einer Realsatire an. Gleiches gilt für Bild am Sonntag, wo der Vorgang am 23. September in der Aussage gipfelte, die „linksextreme“ Graswurzelrevolution kämpfe „seit 1972 für die Abschaffung unseres Staates“ (5). Die PolitikerInnen der AfD können gar nicht demagogisch genug auftreten, als daß die Front zwischen ihnen und dem Bürgertum gegen links aufweichte, wenn dort mit stichhaltigen Argumenten und entlarvenden Zitaten die von der neuen Rechten ausgehende Gefahr kenntlich gemacht wird.
Dabei ist es gerade die Stärke linker Gesellschaftskritik, den Dingen auf den Grund zu gehen, anstatt sich an wohlfeilen Erregungszuständen abzuarbeiten und das politische Geschäft Kräften zu überlassen, die im Falle der AfD eine akute Bedrohung links stehender Menschen und nichtweißer MigrantInnen darstellen. Daß Kemper Höckes rund 300 Seiten starkes Interview einer gründlichen Lektüre unterzogen hat und damit auf kurzem Weg Argumente gegen die AfD verfügbar macht, ist notwendiger Bestandteil eines politischen Kampfes, in dem es nicht um ideologische Spiegelfechtereien geht, sondern eine möglicherweise folgenschwere Auseinandersetzung um die Zukunft der Republik geführt wird. Die neue Rechte wird nach wie vor unterschätzt, das gilt auch für AntifaschistInnen, die die innere Konsistenz ihrer Ideologie nicht ernst genug nehmen und die Aggressivität ihrer Positionen nicht gründlich genug kritisieren, um ihren Vormarsch auf allen Ebenen aufhalten zu können.
Große Teile der AfD des Rechtsextremismus zu überführen fällt heute nicht schwer. Die Gefährlichkeit der Partei liegt jedoch gerade darin, daß sie an eine bürgerliche Abwehrhaltung andockt, die in den Ressentiments und Identitätsansprüchen der gesellschaftlichen Mitte desto virulenter ist, als die herrschenden Gewaltverhältnisse ersatzweise an den schwächsten und verletzlichsten Menschen abgearbeitet werden. Das schnelle Ausholen gegen links und die häufig zu vernehmende Einstellung, laut der rechts und links miteinander austauschbare Positionen an den extremen Rändern des politischen Spektrums seien, sind Ergebnisse vieler Jahre herrschaftskonformer Ideologieproduktion und extremismustheoretischer Staatsschutzarbeit. Daß es bei dieser Gleichsetzung darum geht, die emanzipatorische bis revolutionäre Linke zu desavouieren, weil diese den neoliberalen Kapitalismus weit wirksamer kritisiert, als es eine neue Rechte, deren Staatskonformität im politischen Bekenntnis zu Nationalchauvinismus und Volksgemeinschaft verankert ist, bei dem Versuch, die sozialen Widersprüche der Klassengesellschaft in den Dienst eines nationalen Sozialismus zu stellen, jemals täte, wird allzuhäufig verkannt.
Da die Verfassungsschutzämter maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt sind, indem sie die radikale Linke kontinuierlich über das tatsächliche Ausmaß ihres gesellschaftlichen Einflusses hinaus zur Gefahr für Staat und Demokratie erklären, während ihnen der Aufbau rechter Strukturen und die Vertuschung der NSU-Ermittlungen auch von bürgerlichen JournalistInnen zur Last gelegt wird, erscheint es auf den ersten Blick erstaunlich, daß der Chef eines Landesamtes zur Zielscheibe der AfD wird. Als ehemaliger Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, SPD-Mitglied und Leiter eines Verfassungsschutzamtes, das einer Landesregierung aus Linkspartei und SPD untersteht, ist Kramer jedoch aller Sympathien für die neue Rechte unverdächtig. So hat er sich mit seiner Kritik an den Thesen Thilo Sarrazins so weit aus dem Fenster gelehnt, daß es harsche Kritik auch von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde wie Michael Wolffsohn hagelte.
In der ARD-Dokumentation „Rechtsrockland“ (6) kritisiert Kramer denn auch die häufige Duldung rechtsradikaler Konzertveranstaltungen, die als organisatorische Schnittstellen der in Thüringen und Sachsen besonders starken extremen Rechten fungieren, durch staatliche Behörden. Deren in der Sendung an mehreren Beispielen belegte Nachsicht im Umgang mit der hochgradig durchorganisierten und im Wortsinn schlagkräftigen Neonaziszene steht nicht nur im krassen Widerspruch zur anhaltenden Kriminalisierung der G20-KritikerInnen. Sie läßt auch ahnen, daß die neue Rechte in den deutschen Staatsapparaten gut verankert ist. Ein Hans-Georg Maaßen, unter dessen Führung der Bundesverfassungsschutz die Aufklärung der NSU-Mordserie eher verhinderte denn unterstützte, der gegen die Online-Publikation netzpolitik.org Strafanzeige wegen Landesverrats stellte, weil diese im Rahmen aufklärerischer journalistischer Arbeit aus vertraulichen Berichten des Verfassungsschutzes zur Überwachung des Internets zitierte, und der das Verbot der linken Informationsplattform Indymedia linksunten „umfangreich unterstützt“ (7) hat, erscheint als Regelfall bei der personellen Besetzung des Inlandgeheimdienstes, während Kramer als Ausnahme hervorsticht.
Zwar war der Versuch der AfD, mit der Bezichtigung Kramers, aus einer unlauteren Quelle zitiert zu haben, zugleich gegen ihn wie die linke Presse auszuholen, nur wenig erfolgreich. Die Partei segelt jedoch im Auftrieb des großen Stroms nationaler Restauration und rechtskonservativen Wertewandels fast wie von selbst in Schlüsselstellungen gesellschaftlicher Hegemonie. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung, weil die Unterdrückung linksoppositioneller Medien noch nicht türkische Ausmaße angenommen hat, ganz im Gegenteil. Das Stadium, wo der warnende Ruf „Wehret den Anfängen“ noch dem Stand gesellschaftlicher Rechtsdrift entsprochen hätte, ist spätestens seit 2006, als im Zuge der Fußball-WM der Männer auf breiter Ebene ein angeblich positiver Patriotismus propagiert wurde, vorüber.
(1) https://afd-thueringen.de/2018/09/henke-anschlag-auf-die-verfassung-durch-verfassungsschutzpraesident-kramer/
(2) https://www.graswurzel.net/gwr/2018/09/bjoern-hoeckes-faschistischer-fluss/
(3) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar697.html
(4) https://afd-thueringen.de/2018/09/henke-anschlag-auf-die-verfassung-durch-verfassungsschutzpraesident-kramer/
(5) https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/verfassungsschutz-chef-wehrt-sich-gegen-afd-vorwuerfe-57413280.bild.html
(6) https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/rechtsrockland-100.html
(7) https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2017-08-vereinsverbot-linksunten-indymedia
Erschienen auf: Schattenblick - Elektronische Zeitung, Infopool, 2. Oktober 2018