Dr. phil. Bernd Drücke (*1965) ist Soziologe, freier Journalist und Autor. Er lebt seit 1991 in einem alternativen Wohnprojekt in Münster und ist seit November 1998 hauptamtlicher Koordinationsredakteur der gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitschrift Graswurzelrevolution (GWR).
Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Beeinflusst wurde die Bewegung durch französische, schweizerische, britische und US-amerikanische AktivistInnen und Publikationen aus dem Umfeld der international vernetzten War Resisters' International (WRI).
Die Graswurzelbewegung selbst hatte insbesondere in den siebziger Jahren einen großen Einfluss auf gewaltfreie Aktionsgruppen der Friedensbewegung und auf die Anti-AKW-Bewegung. Die erste »GWR«-Zeitung wurde 1972 im Zuge des libertären Antimilitarismus und der anarchisch-pazifistischen Bewegung herausgegeben. Mit dem Anspruch Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen die MitarbeiterInnen auf gewaltfreie Aktionsformen. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische GWR seit 1972, Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.
Fred Spenner: Reporter ohne Grenzen hat im Barometer der Pressefreiheit 2017 aufgeführt (1), dass u.a. nachweislich 52 Journalist*innen getötet wurden, 178 JournalistInnen in Haft sitzen. Wie bewertest du diese Entwicklung?
Bernd Drücke: Diese Entwicklung ist katastrophal. GWR sind wir solidarisch mit inhaftierten Kolleg*innen überall. Die meisten inhaftierten Journalist*innen gibt es in der zunehmend autokratisch regierten Türkei. Momentan sind dort mehr als 50 Journalist*innen inhaftiert, regimekritische Zeitungen werden vom AKP-Regime zerschlagen, kritische Journalist*innen entlassen oder außer Landes getrieben. Nachdem unser Kollege Deniz Yücel im Februar 2017 in der Türkei verhaftet wurde, haben wir am 10. März 2017 als Graswurzelrevolution-Redaktion in Münster den bundesweit ersten FreeDeniz-Fahrradkorso unter dem Motto »Freiheit für alle inhaftierten Journalist*innen« auf die Beine gestellt. Es war eine medienwirksame Demo mit über 300 Teilnehmer*innen. (2) Ein Grund, warum ich diese Demo organisiert habe, war auch das solidarische Verhalten, das Deniz Yücel auszeichnet. Deniz war 2001 einer der wenigen Journalisten, der über die Kriminalisierung der von mir presserechtlich verantworten Otkökü (türkisch für Graswurzel) in der Türkei berichtete. Die Otkökü hatten wir damals als Graswurzelrevolution-Redaktion zusammen mit türkischen Anarchist*innen als türkisch-kurdisch-deutschsprachiges GWR-Supplement produziert. Alle Ausgaben der ersten Ausgabe, die wir in die Türkei geschickt hatten, wurden dort beschlagnahmt, weil sich das Blatt mit dem türkischen Genozid an den Armeniern 1915, der Kriegsdienstverweigerung, dem türkisch-kurdischen Konflikt, dem Anarchismus und der schwul-lesbischen Szene in der Türkei beschäftigte. Alles Themen, die in der Türkei bis heute tabuisiert werden. Um unsere Mitarbeiter*innen in der Türkei nicht zu gefährden, haben wir die sieben danach veröffentlichten Otkökü-Ausgaben nicht mehr in die Türkei geschickt. Deniz Yücel berichtete im Mai 2001 in der Jungle World solidarisch über die Otkökü-Kriminalisierung. Das war auch ein Grund dafür, dass wir uns 2017 so sehr für ihn engagiert haben. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Und die Pressefreiheit ist auch in Deutschland keineswegs gewährleistet. Das zeigt sich nicht nur daran, wie mit kritischen Journalist*innen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg umgegangen wurde. Auch Autor*innen der Graswurzelrevolution, z.B. Ismail Küpeli und ich, haben in den letzten Jahren von AfDlern, Grauen Wölfen und Erdoğan-Fans Hatemails und Drohungen bekommen. Die Pressefreiheit wird hierzulande aber nicht nur von faschistischen Trollen bedroht, sondern auch vom Staat, der unsere Arbeit nachrichtendienstlich überwacht und behindert. Die Graswurzelrevolution erscheint seit Sommer 1972. Seitdem wurde auch unsere Zeitschrift mehrmals kriminalisiert. Beispiele: 1999/2000 wurde gegen mich als V.i.S.d.P. der Graswurzelrevolution Nr. 239 (April 1999) und gegen 90 UnterzeichnerInnen eines Blockade- und Desertionsaufrufs zum Jugoslawienkrieg strafrechtlich nach § 111 StGB ermittelt. 1999 bombardierten zum dritten Mal im 20. Jahrhundert deutsche Bomber Belgrad. Der NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 war der erste Angriffskrieg mit direkter deutscher Beteiligung seit 1945. Es war auch das erste Mal, dass gegen einen deutschen Redakteur nach 1945 wegen »Aufruf zur Desertion« bzw. »öffentlicher Aufforderung zu Straftaten« ermittelt wurde. Wir hatten im Zusammenhang mit dem NATO-Krieg zu Blockaden einer Kaserne in Calw und zudem alle Soldaten zur Desertion aufgerufen. Das Propagieren direkter Aktionen hatte der »Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft« zuvor schon mehrere Ermittlungsverfahren eingebracht, z. B. wegen des in der GWR Nr. 110 vom Dezember 1986 abgedruckten Artikels »Wenn der Strommast fällt … – Überlegungen zu Sabotage als direkte gewaltfreie Aktion« oder aufgrund des Nachdrucks des kriminalisierten »Mescalero«-Textes während des Deutschen Herbstes 1977. Pressefreiheit muss von unten durchgesetzt werden – überall.
Fred Spenner: Das Vertrauen in Medien, Parteien und Regierungen ist weiter gesunken. Deutlich wird im Global Trust Report 2017 (3), dass ein mangelndes Vertrauen nicht nur in kleinen, mehr oder weniger von der Mitte der Gesellschaft entkoppelten Gruppen vorherrscht, die aufgrund ihrer eigenen abweichenden politischen Meinung und ihrem Gesellschaftsbild mit Argwohn auf die Institutionen blicken. Das böte eine Chance alternativer Medien wie der GWR. Doch wie kann die GWR das Vertrauen in der Gesellschaft überhaupt gewinnen?
Bernd Drücke: Zum Beispiel durch Aufklärungsarbeit, durch gut recherchierte journalistische Artikel, durch Engagement in den sozialen Bewegungen, durch das Entwickeln von Alternativen in Theorie und Praxis. Ich denke, die GWR genießt Vertrauen bei vielen Menschen aus der gewaltfreien und anarchistischen Szene, aus der Anti-Atom- und Klimabewegung, in feministischen Kreisen, in antirassistischen Gruppen, bei Antifas und in Teilen der Zivilgesellschaft. Sie ist vor allem auch ein Sprachrohr und Diskussionsorgan aus diesen emanzipatorischen, staatskritischen sozialen Bewegungen. Allerdings bewegt sich die GWR in gewisser Weise in einer sozialen Nische. Sie ist einerseits die letzte vergleichsweise auflagenstarke Zeitschrift aus der anarchistischen Bewegung. Viele Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen nutzen sie. Sie bleibt aber eine Nischenzeitung, was auch damit zu tun hat, dass vor allem auch intellektuelle Autor*innen in der GWR schreiben, über Themen, die nicht unbedingt alle Menschen interessieren. Eine Massenauflage, wie sie die BILD hat, wird die GWR deshalb nie bekommen. Aber als Impulsgeber für soziale Bewegungen bleibt sie hoffentlich auch in den nächsten 46 Jahren wichtig.
Fred Spenner: »In den Medien muss sich ›fast alles‹ ändern.« Mit diesen Worten brachte der Soziologe Hauke Brunkhorst im Telepolis-Interview auf den Punkt, was kritische MediennutzerInnen seit geraumer Zeit ansprechen: Die Verwerfungen in den Medien sind gewaltig. Was ist deine Kritik an der Berichterstattung großer Medien bzw. an der Nachrichtenproduktion?
Bernd Drücke: Uiii, das sprengt den Rahmen eines Interviews, wenn ich das jetzt angemessen beantworten soll. Dazu haben wir in der GWR schon viele Artikel geschrieben, die zum Teil auch auf www.graswurzel.net zu finden sind. (4) Ich denke, dass die Massenmedien einen großen Anteil an der Verdummung und Verrohung weiter Teile der Bevölkerung haben. Dass sechs Millionen Deutsche bei der letzten Bundestagswahl eine rassistische, sexistische und menschenfeindliche Partei gewählt haben, hat auch damit zu tun, dass BILD, Spiegel und Co. vor einigen Jahren den Rassisten Sarrazin mit Buch-Vorabdrucken gehyped haben und bis heute in den allabendlichen Talkshows die AfDler ihre braun-blaue Hetze in die Köpfe der Zuschauer*innen pflanzen können, während emanzipatorische, antifaschistische, libertär-sozialistische Bewegungen dort nur sehr selten zu Wort kommen. Massenmedien stellen also für die Entwicklung und Verbreitung emanzipatorischer Ideen ein Hindernis dar, im Gegensatz zu den alternativen Klein- und Kleinstpublikationen. In diesem Zusammenhang möchte ich aus Yona Friedmans Buch »Machbare Utopien« zitieren: »Stellen wir uns eine Zeitung (…) vor, die alle zu einem bestimmten Zeitpunkt entstandenen neuen Ideen sammeln wollte. Wir haben (…) gesehen, dass es praktisch unmöglich wäre, in einer solchen Sammlung ein bestimmtes Thema zu finden. Es gibt nur ein Mittel, um dem Leser das in einer Zeitung (…) enthaltene Material zugänglich zu machen: Die Masse des Materials muss reduziert werden. Es muss also eine Auswahl getroffen werden, aber diese Auswahl kann nur schlecht sein, denn auch die Herausgeber oder Zensoren, die sie vornehmen, sind außerstande, eine solche Unmenge von Informationen zu lesen, um nur eine davon auszuwählen. Überdies würde diese Auswahl besonders schwierig sein im Falle neuer, ungewohnter Ideen, deren Terminologie noch nicht allgemein bekannt sein kann und die eine gewisse Zeit zum Nachdenken erfordern. Die Herausgeber oder Zensoren (…) werden daher automatisch das zweitrangige, aber bereits bekannte Material behalten und alle neuen Ideen ablehnen. Diese Tatsache können wir tagtäglich in unseren Zeitungen, auf den Fernsehbildschirmen etc. bestätigt finden.«
Die Massenmedien ersticken also neue Ideen. Anders als anarchistische Periodika, setzen sie die Herrschaftsstrukturen im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung als unantastbar voraus und tragen so zu ihrer Zementierung bei. Nach Meinung des Anarchisten Noam Chomsky handelt es sich hierbei weder um Zufall noch um eine besondere Bösartigkeit. Der fabrizierte Konsens, von dem Chomsky in »Manufacturing Consent« spricht, geht von den kapitalistischen Unternehmern als unantastbarem Heiligtum aus. Chomsky sieht fünf »Filter« am Werk, die das Funktionieren der Massenmedien steuern.
- Der erste Filter: Die Medien sind im wachsenden Maße große Konzerne wie das Kirch-, Berlusconi- oder Bertelsmann-Imperium.
- Den zweiten Filter stellen Werbe- und AnzeigenkundInnen dar. Sie sind für Chomsky die eigentlichen Kund*innen, auf deren Wünsche die Tätigkeit der bürgerlichen Medien ausgerichtet sein muss. Die KonsumentInnen sind, in der Sprache des Marktes, lediglich das »Produkt«, das aggressiv beworben wird.
- Der dritte Filter wird durch die Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich wichtigen Institutionen wie Unternehmen oder staatlichen Einrichtungen gebildet. Wem werden die Informationen gegeben und wem nicht? Welche Medien werden die neuesten Informationen erhalten, wem wird die Möglichkeit zu einem »informellen Gespräch« eingeräumt? Den Medien, die zusammen mit Konzernen und Parteien die Sicherung des »Standorts Deutschlands« verfechten, oder den Menschen, die direkte Widerstandsaktionen gegen Militarisierung, Klimakiller, Atompolitik, Umstrukturierung und rassistische Propagandist*innen leisten? Eine wohl eher rhetorische Frage.
- Als vierten und
- fünften Filter zur Eliminierung kritischen Denkens aus den Medien nennt Chomsky systematische »Schmutzkampagnen gegen AbweichlerInnen« und, vor allem auf die USA bezogen, »Antikommunismus als nationale Religion«. Das KPD-Verbot 1956, die Antiterrorismushysterie, die im »Deutschen Herbst« 1977 einen Höhepunkt erreichte, die aktuelle CSU-Hetze gegen die »Anti-Abschiebe-Industrie« belegen, dass diese Prozesse auch in der Bundesrepublik wirksam waren und sind.
Nach Chomsky beruht die Struktur moderner Medien auf einem herrschenden Konsens, der durch den Wiedererkennungswert bestimmter Meldungen ständig reproduziert wird. Die Meldung »Kommunisten unter Pol Pot begehen in Kambodscha Völkermord« musste demnach in der US-Öffentlichkeit ab Mitte der siebziger Jahre nicht belegt oder ausführlich begründet werden, um geglaubt zu werden. Sie fußte auf dem herrschenden Konsens des medial geprägten Prokapitalismus und US-typischen Antikommunismus. Die Nachrichten: »USA begeht in Kambodscha Völkermord« (dies war 1975 der Fall) und: »Von den USA unterstützte indonesische Interventionstruppen begehen in Ost-Timor Völkermord« (dies war nach 1975 ein Fakt) hatten keine Chance auf Zustimmung, weil sie dem herrschenden Konsens widersprachen. Es hätten erst Beweise, Belege und Dokumente angeführt werden müssen, um glaubwürdig zu werden.
Demnach fördern kurze Nachrichten den herrschenden Konsens. Abweichende oder den Konsens durchbrechende Nachrichten haben kaum eine Chance, weil sie in der Kürze der Zeit nicht begründet werden können.
Fred Spenner: Ist die große Meinungsvielfalt in der deutschen Presse Geschichte?
Bernd Drücke: Nein, es gibt immer noch mediale Nischen, in denen Meinungsvielfalt eine Chance hat. Damit meine ich nicht nur die kleinen, linken Alternativmedien wie GWR, ak, Contraste, Gai Dao und andere, sondern auch Nischen etwa auf arte, in TV-Sendungen wie Monitor und auch in Tageszeitungen wie taz, ND, junge Welt und anderswo. Aber diese Meinungsvielfalt ist immer auch gefährdet.
Fred Spenner: …und welche Maßstäbe hat die GWR-Redaktion im Umgang mit Informationen und welche Probleme können sich hierbei ergeben?
Bernd Drücke: In gewisser Weise orientieren wir uns journalistisch an den Maßstäben des »Friedensjournalismus«, wie sie der Friedensforscher Johan Galtung formuliert hat. Es gibt kommunikationswissenschaftliche und soziologische Uniarbeiten, in denen analysiert wird, ob die GWR den von Galtung entwickelten Kriterien des »Friedensjournalismus« entspricht. (5) Ist die Berichterstattung der GWR also »friedens- und konfliktorientiert«, »wahrheitsorientiert«, »menschenorientiert« und »lösungsorientiert«? Das Fazit des Soziologen Dominik Hanning lautete 2003: »Da das Medium eine Bewegungszeitschrift ist, erreicht sie nur eine relativ kleine Leserschaft. Daher wird es schwer sein für die GWR auch ›Bewegungsfremde‹ zu erreichen. Dies ist sehr schade, denn die GWR hat den Friedensjournalismus nach Johan Galtung zum größten Teil umgesetzt und stellt eine interessante Alternative zu den Massenmedien dar.« (6) Ich denke, das ist heute immer noch so.
Als anarchistische Zeitschrift ist die GWR außerdem basisdemokratisch organisiert und zudem unabhängig von Werbeeinnahmen. Alle Entscheidungen werden im Konsens des GWR-HerausgeberInnenkreises getroffen. Basisdemokratische Strukturen, wie es sie bei der GWR gibt, sind wichtig für das Funktionieren von Alternativmedien. Wichtig ist uns eine »Perspektive von unten«, eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart. Libertär-sozialistische Medien wie die GWR schaffen eine zunächst kleine Gegenöffentlichkeit, sie veröffentlichen Informationen, die in den Massenmedien nicht oder nur in homöopathischen Dosen vorkommen. Ihre Chancen liegen auch in der Stärkung der außerparlamentarischen Bewegungen. Dabei ist die basisdemokratische Verfasstheit von Bedeutung. Alles immer basisdemokratisch abzustimmen ist schwierig, aber basisdemokratische Strukturen tragen auch dazu bei, dass die GWR immer noch an die sozialen Bewegungen anknüpft.
Fred Spenner: Was bedeutet für dich persönlich die GWR-Zeitung?
Bernd Drücke: Mein jüngster, 13-jähriger Sohn hat das neulich schön auf den Punkt gebracht: »Die Graswurzelrevolution ist doch Papas Leidenschaft.«
Fred Spenner: Die Graswurzelrevolution und ihr Umfeld hatten in den siebziger Jahren großen Einfluss auf die entstehende Anti-AKW-Bewegung. Inwiefern kann das GWR-Leitziel »einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung« heute Potential aus linken und sozialen Protestbewegungen schöpfen und Einfluss auf diese nehmen?
Ich denke, dass sich GWR und soziale Bewegungen gegenseitig beeinflusst haben – und das immer noch tun. So haben auch neue, erstarkende Bewegungen wie »Ende Gelände« ihren Platz in der GWR. Die Autor*innen sind Teil dieser emanzipatorischen Bewegungen und bringen neue Impulse sowohl für die Bewegungen als auch für den GWR-Herausgeber*innenkreis.
Fred Spenner: Welche aktivierenden Veränderungen sind für diese Umwälzung überhaupt notwendig?
Bernd Drücke: Beispielsweise ein langer Atem, ein solidarisches Kollektiv, Gegenmacht von unten und der Wille, herrschaftsfreie Theorie und Praxis generationsübergreifend weiterzuentwickeln.
Fred Spenner: Im Jahre 1972 erschien erstmals die Graswurzelrevolution. Die Charakterisierung der 70er Jahre war geprägt von Begriffsbildungen wie »Risikogesellschaft« oder »Erlebnisgesellschaft« in einer Übergangsepoche, deren Selbstbild zwischen einem verbreiteten Krisengefühl und neuer Aufbruchstimmung schwankte. Diese Charakterisierung ist auch heute wieder in der Gesellschaft spürbar. Was sind die Chancen und Risiken dieser Charakterisierung für die GWR-Inhalte?
Bernd Drücke: Die Risikogesellschaft ist Realität. Täglich besteht die Gefahr etwa eines neuen Super-GAUs oder gar eines Krieges. Erst recht im Zeitalter des Trumpismus, wo ein rechtsextremer Narzisst mit einem Knopfdruck den nuklearen Massenmord auslösen könnte. Solange es Herrschaft und Kapitalismus gibt, führen wir immer soziale Kämpfe. Und das nicht ganz erfolglos. Von den bis zu 200 Atomkraftwerken, die die Atommafia in Deutschland bauen wollte, konnte ein großer Teil durch den Druck der Anti-Atom-Bewegung verhindert werden. Der »Ausstieg« ist allerdings noch immer nicht Realität.
Fred Spenner: Inwiefern findet sich in den GWR-Publikationen eine verbreitete Krisenrhetorik wieder? Und ist das eher kontraproduktiv hinsichtlich einer zunehmenden Individualisierung der Lebensentwürfe in der Gesellschaft?
Die GWR propagiert ein Leben ohne Chef und Staat, Gegenseitige Hilfe, freie Vereinbarung und Kommunikation. Sie verbreitet sozusagen einerseits eine kollektivistisch-anarchistische Utopie, andererseits versucht sie zur Politisierung beizutragen, indem sie über Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufklärt und Strategien zur Überwindung und Bekämpfung dieser Verhältnisse entwickelt. Der Kapitalismus ist die Krise. Und, ja, wenn es nicht gelingt, dieses natur- und menschenfeindliche Ausbeutungssystem zu überwinden, ist die Menschheit über kurz oder lang dem Untergang geweiht. Das sollten wir uns klar machen. Von daher ist der Gewaltfreie Anarchismus nicht nur eine Utopie, sondern auch ein mögliches Mittel zur Überwindung eines Systems, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruht.
Fred Spenner: In der GWR finden sich Interviews, Analysen zu aktuellen Ereignissen, aber auch eine umfassendere historische Auseinandersetzung zum Thema Anarchie. Welche langfristigen Auswirkungen können die redaktionellen Beiträge der GWR auf einen gesellschaftlichen Wandel haben?
Bernd Drücke: Na, langfristig hoffentlich eine gewaltfreie Umwälzung wie oben skizziert. Oder, wie es in unserer Selbstdarstellung heißt: »Graswurzelrevolution bezeichnet eine tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung, in der durch Macht von unten alle Formen von Gewalt und Herrschaft abgeschafft werden sollen. Wir kämpfen für eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechtes oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung, aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Wir streben an, dass Hierarchie und Kapitalismus durch eine selbstorganisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine föderalistische, basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden. Schwerpunkte unserer Arbeit lagen bisher in den Bereichen Antimilitarismus und Ökologie. Unsere Ziele sollen – soweit es geht – in unseren Kampf- und Organisationsformen vorweggenommen und zur Anwendung gebracht werden. Um Herrschafts- und Gewaltstrukturen zurückzudrängen und zu zerstören, setzen wir gewaltfreie Aktionsformen ein. In diesem Sinne bemüht sich die anarchistische Zeitung Graswurzelrevolution (…) Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln.«
Fred Spenner: Die GWR ist eine Bewegungszeitung und die Berichte entstehen aus der Ideologieorientierung der AutorInnen. Ist es deiner Meinung nach nicht sehr einseitig, wenn die GWR eine ideologische Klientelpolitik betreibt, um gleichzeitig auf ideologische Debatten Einfluss zu nehmen?
Bernd Drücke: Ich sehe nicht, dass wir eine »ideologische Klientelpolitik« betreiben. Wir sind in der GWR offen für Diskussionen und vertreten eine Weltanschauung, die ich aber – im Gegensatz zu Leninismus oder Marxismus – nicht als Ideologie bezeichnen würde. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine redaktionell gemachte Zeitschrift mit dem Untertitel »für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft« in erster Linie Texte abdruckt, die im Sinne dieses Untertitels agitieren.
Fred Spenner: Der Schweizer Zeithistoriker Kurt Gritsch erklärt: »Im Nachrichtengeschäft geht es um Interessen, nicht um Wahrheit.« Die GWR entlarvt in ihren Artikeln viele Unwahrheiten, verfolgt aber auch ein ganz spezielles Interesse, nämlich „Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution zu verbreitern und weiterzuentwickeln“. Das bietet viele Reibungspunkte und Kritik aus der »anarchistischen (radikalen) Bewegung«. Wie gehst du damit um?
Bernd Drücke: Ich freue mich über Kritik und Auseinandersetzung auch aus der anarchistischen und aus anderen radikalen Bewegungen. Die GWR ist sicher nicht perfekt, aber ich denke, dass sich ihr recht offenes Konzept bewährt hat, sonst hätte sie sich nicht schon so lange halten können. Tragisch finde ich, dass die meisten anarchistischen Zeitschriften mittlerweile verschwunden sind. Bei uns schreiben auch Menschen, die früher für die mittlerweile nur noch online und zum 1. Mai erscheinende anarchosyndikalistische Direkte Aktion (DA) (7) oder den leider ganz eingestellten Schwarzen Faden geschrieben haben. Wir können die frühere Vielfalt von Anarcho-Blättern nicht vollständig ersetzen.
Fred Spenner: Anders herum können sich mit dem Begriff Graswurzelrevolution bis heute zahlreiche Gruppen und Bewegungen identifizieren. Warum kann oder muss der Wandel zu mehr Nachhaltigkeit also wirklich von unten, aus den sogenannten »Graswurzel«-Bewegungen heraus entstehen?
Bernd Drücke: Graswurzelrevolutionär*innen und andere Anarchist*innen wollen weder herrschen noch beherrscht werden. Wenn wir also eine egalitäre, freiheitlich-sozialistische Gesellschaft organisieren wollen, geht das nur von unten, durch Freie Assoziation, Gegenseitige Hilfe, Direkte Gewaltfreie Aktionen, kollektiv und solidarisch. Die von uns angestrebte menschenfreundliche Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit sollte möglichst auch schon in unseren fantasievollen Aktionsformen sichtbar werden.
(1) https://www.reporter-ohne-grenzen.de/barometer/2017/journalisten-in-haft
(2) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=wrpo5ns0eiM
(3) www.gfk-verein.org/forschung/studien/global-trust-report
(4) Siehe z.B. www.graswurzel.net/270/gegenoeff.shtml
(5) Siehe: www.graswurzel.net/news/friedensjournalismus.shtml