es wird ein lächeln sein

Improvisierte Gesellschaft

Unfertige Überlegungen zu einem banalen Erlebnis

| Dr. phil. Martin Baxmeyer

Foto: Wikipedia
Einkaufspassage im Leipziger Hauptbahnhof

Ich bitte in aller Demut um Entschuldigung, aber dieser Artikel muss mit mir beginnen: Vom fünfzehnten bis zum siebzehnten März 2018 war ich auf Einladung meines Verlags im Rahmen der Leipziger Buchmesse nach Dresden und Leipzig gereist, um dort mein neues Buch vorzustellen. Auf der Rückreise geriet ich am Leipziger Hauptbahnhof in das, was die regionalen Medien – die nationalen übergingen das Ereignis bezeichnenderweise mit Stillschweigen – als „Schnee-Chaos“ bezeichneten. Ein „Schnee-Chaos“ freilich habe ich nicht erlebt. Ich erlebte ein Bahn-Chaos.

Gewiss, es hatte geschneit. Dicke Flocken waren Tag und Nacht über dem Osten Deutschlands niedergesegelt. Ein kalter Wind war in Leipzig um die Häuserecken gefegt, und hier und da hatte sich eine tückische Eisdecke unter dem Schnee gebildet.

Die Leipziger Innenstadt, selbst an heiteren Tagen keine Schönheit, glich einer Zauberlandschaft, wie von der Hand eines romantischen Malers. Und der Innenstadtring, den zu anderen Zeiten die Leipziger Montagsdemos entlang marschiert waren, war weiß und schön und wurde viel photographiert. Aber durfte man wirklich das, was dann am Bahnhof losbrach, ein paar unschuldigen Flocken anlasten? Ein paar Zentimetern Schnee?

Unsinnige Durchsagen, die sich ständig widersprachen, defekte Züge, Lokführer, die nirgends aufzutreiben waren, Signale, die nicht umsprangen, Computeranzeigen, die abstrakten Kunstwerken glichen, Verspätungen von 120, 240, 360 Minuten, die schließlich nur noch in mehreren Stunden und schließlich in Tagen (!) zu messen waren?

Für meine Heimreise, normalerweise eine Angelegenheit von viereinhalb Stunden, benötigte ich zwölf. Und war damit noch gut bedient.

Wie reagieren Menschen auf eine Störung ihres Lebensablaufs?

All dies wäre kaum der Rede wert, wenn ich nicht Gelegenheit gehabt hätte, einmal aus nächster Nähe und über einen langen Zeitraum – durchaus auch an mir selbst – zu beobachten, wie Menschen auf eine massive Störung ihres gewohnten Lebensablaufs reagieren. Genauer: wie sich ihre Reaktionen im Laufe der Zeit ändern. Zunächst nämlich war die Stimmung am Leipziger Hauptbahnhof so, wie man sie in einem solchen Fall hätte erwarten sollen, und wohl auch von zahllosen anderen Problemen mit der Deutschen Bahn leidgeprüft kennt: hektisch, fordernd, aggressiv. Die Menschen blieben für sich. Ganze Trauben standen zwar vor den aberwitzigen Computeranzeigen, fluchten vor sich hin, und viele tippten zornig auf ihre Handys ein. Aber es war, als hätte jeder und jede von ihnen innerlich einen Zaun um sich gezogen. Niemand sprach mit dem anderen. Höchstens ein paar empörte, abgehackte Wortfetzen flogen hin und her. Überall sah man einzelne Menschen hastig durch die Halle laufen. Auch ich mied, so gut ich konnte, die Gesellschaft anderer. Die Stimmung war aufgeheizt, trotz des kalten Windes, der durch die Halle wehte, die Gesichter waren hart. Niemand wollte riskieren, vom Nebenmann angeblafft zu werden.

Alle schienen wild entschlossen zu sein, sich mit Nachdruck oder notfalls mit Lärm und Gewalt ihr Recht auf einen Transport zu sichern. Und alle waren in der Tiefe ihrer Seele vermutlich überzeugt, dass niemand derart dringende Geschäfte in der Ferne zu erledigen haben könne wie sie. Es war eine Stimmung uneingestandener, eifersüchtiger Konkurrenz.

Ein paar Stunden später, nachdem deutlich geworden war, dass es keine wundersame Rettung geben, dass kein Engel der Bahndirektion herniedersteigen und kein reitender Bote des Königs kommen würde, um uns zu erlösen, hatte sich die Stimmung vollkommen gewandelt. Dabei war unsere Situation keinen Deut besser geworden. Eher noch schlechter.

Wir hatten Stunden in eisigen Zügen verbracht, die dann doch nicht losfuhren, waren nutzlos von Bahnsteig zu Bahnsteig gescheucht worden, der Leipziger Bahnhofsbuchladen – der größte beheizbare Raum am Platz, in dem es auch ein kleines, überfülltes Café gab – war zum Fluchtpunkt für hunderte von Menschen geworden, und in der überfüllten Stadt während der Buchmesse noch ein Zimmer bekommen zu wollen, war völlig hoffnungslos. Trotzdem herrschte eine gänzlich andere Atmosphäre: Sie war gelöst, spottfreudig, fast fröhlich.

An allen Ecken sah man Menschen miteinander sprechen. Neuankömmlinge wurden zwar grimmig, aber durchaus vergnügt über die Situation aufgeklärt, und auch die Distanz zwischen den Angestellten der Bahn und den gestrandeten Reisenden begann zu schwinden.

Freilich nicht bei allen und nicht überall. Im ersten Zug, in dem wir zu hunderten hoffnungsvoll froren und der schließlich wegen eines defekten Weichenrelais doch nicht fahren konnte, konnte es der Zugbegleiter nicht lassen, trotz der chaotischen Situation weiter seine Durchsagen in jenem gestelzten, bürokratischen Duktus zu machen, den die Bahn ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufnötigt. Die Reaktionen der (Nicht)Fahrgäste waren bemerkenswert: Sie rollten mit den Augen, einige murrten verärgert, und als sich die Redeweise nicht besserte, brüllte schließlich ein süddeutscher Fahrgast entnervt in den Waggon: „Himmelherrgottsakramentnochamoi!“.

Stunden später, in einem anderen Zug, mit dem wir dann – oh Wunder! – tatsächlich der Falle Leipzig entkamen (zumindest bis Magdeburg), meldete sich der Zugbegleiter dagegen nur noch mit einem lässigen: „Meine Damen und Herren, ich wollte nur kurz Bescheid sag’n: Es geht tatsächlich gleich los!“. Der ganze Waggon johlte fröhlich, manche riefen laut: „Das glaub’ ich aber erst, wenn ich’s sehe!“ und einige wohlfrisierte ältere Damen mir gegenüber begannen, sich in gespieltem Freudentaumel die Haare zu zerraufen. Wir hatten das Gefühl, Teil einer verschworenen Notgemeinschaft zu sein, die Schaffnerinnen und Zugführer durchaus mit einschloss.

Gegenseitige Hilfe

Der größte Unterschied jedoch war, wie viele Menschen begannen, ihr Schicksal (soweit möglich) in die eigenen Hände zu nehmen und sich gegenseitig zu helfen. An beiden Seiteneingängen zum Bahnhof entstanden beispielsweise improvisierte Mitfahrzentralen. Wer immer Freunde oder Verwandte in der Stadt oder im weiteren Umland hatte, trommelte diese auf allem, was ohne Schienen fahren konnte, zum Leipziger Hauptbahnhof, und wildfremde Menschen, die kein allzu entferntes Ziel hatten, quetschten sich, bedeckt mit mächtigen Koffern und Taschen, gemeinsam in die diversen Fahrzeuge. Immer wieder rief jemand durch die Halle, ob irgendjemand nach Da-und-da müsse, und es fanden sich stets reichlich Interessentinnen und Interessenten. Auch mein Verhalten wandelte sich: Als ich zum Beispiel der wirren Anzeigen auf dem Bahnsteig müde geworden war und es wagte, mein Glück einmal im Reisezentrum zu versuchen – als ich meine Wartenummer zog, waren geschlagene 126 (!) Personen vor mir – sah ich hinter mir ein älteres Pärchen, das mit mir in einem der besagten Tiefkühl-Züge gesessen hatte. Ich stand in der Liste vor ihnen, also fragte ich sie höflich, ob ich vielleicht statt ihrer Erkundigungen für sie einholen könne. Sie stimmten gerne zu. Das einprägsamste Bild aber waren für mich zwei Herren, von denen ich mir ziemlich sicher bin, dass sie sich nie zuvor begegnet waren: Der eine war ein distinguierter, älterer Japaner mit schneeweißem Haar und einem perfekt gestutzten Vollbart. Der andere war ein kräftig gebauter Schwarzer in einer zerknautschten Windjacke, der einen riesigen Rollkoffer hinter sich herzog. Beide sprachen nur schütteres Deutsch und hatten sich offenbar entschlossen, ihre spärlichen Ressourcen zusammenzuwerfen. So standen sie nun beide an einem Schalter des Reisezentrums, radebrechten um die Wette – gingen dem einen Puste und Vokabeln aus, übernahm der andere – und mussten dabei über ihre Unbeholfenheit so herzlich lachen, dass am Ende auch die Bahnbedienstete sich nicht mehr halten konnte.

Einige Stunden später sah ich beide sich auf dem Bahnsteig zum Abschied herzlich umarmen – eine in Japan unübliche Geste – und ihrer Wege gehen.

Ich glaube nicht, dass sie sich je wiedersehen werden. Selbst, als unsere Züge schon wieder rollten, blieb der vergnügliche, freundliche, solidarische Ton Pflicht. Als mein Zug zum Beispiel in Magdeburg stehen blieb, weil die Bahn im allgemeinen Chaos der Dienstpläne keinen Lokführer finden konnte, rannte ein gewaltiger Mensch mit breiter Narbe auf der Wange wütend durch den Zug und schrie allen, denen er begegnete, diese Neuigkeit entgegen. Gewiss rollten wir wieder mit den Augen oder seufzten vor uns hin. Aber in den meisten Gesprächen, die ich mitbekam, wurde dem erbosten Narbenmann doch nahegelegt, sich zu beruhigen. Aus unsozialer Konkurrenz und egoistischem Anspruchsdenken war soziale, kreative Solidarität geworden.

Was könnten diese Beobachtungen bedeuten?

Vielleicht dies: Das wesentliche Problem funktional differenzierter Gesellschaften ist, dass sich ihre Makrostrukturen der Einflussmöglichkeit und dem Improvisationstalent des Einzelnen für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung entziehen. Es bleibt den meisten Menschen gar nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass übergeordnete, oft anonyme Instanzen und Institutionen (wie etwa die Deutsche Bahn) für Abhilfe bei ihren Problemen sorgen oder ihre täglichen Bedürfnisse befriedigen. Tun sie das nicht, beharren aber trotzdem weiter auf alten, funktionalen Abläufen und Verhaltensweisen, dann entstehen Aggressionen. Eine Solidarisierung über die Grenzen von Funktion und Profession hinweg wird verunmöglicht. Erreicht das Chaos aber ein solches Ausmaß, dass Menschen beiderseits der funktionalen Barriere „aus der Rolle fallen“, geschieht etwas Erstaunliches: Ein neues, soziales Miteinander entsteht, in dem es für gewöhnlich weit freundlicher, humorvoller und entspannter zugeht als zuvor.

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Heute realsatirisch wirkende Werbung der Bahn aus den 1960ern

Dieses neue soziale Miteinander soll hier als improvisierte Gesellschaft bezeichnet werden. Die hervorstechendsten Merkmale der improvisierten Gesellschaft, wie sie hier verstanden werden soll, sind ihre klassen- und schichtenübergreifende Struktur, also die soziale, kulturelle und individuelle Heterogenität der an ihr Beteiligten, deren vollkommener Mangel an Vorbereitung auf ihr Zustandekommen, das Schwinden von Hierarchien im Umgang miteinander und ihre Kurzlebigkeit und Spontanität. Improvisierte Gesellschaften sind meist Notgemeinschaften, und im Gegensatz zu meiner eher lässlichen Gefährdung oft für das Überleben der Menschen unabdingbar. Autoritäten, die soziale Fürsorgepflichten zu übernehmen hätten, sind zusammengebrochen oder erweisen sich als unfähig. Man muss sich selber helfen.

Der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar hat der improvisierten Gesellschaft mit seiner Erzählung „Autobahn nach Süden” ein literarisches Denkmal gesetzt. Dort dauert ein Stau auf der berüchtigten Autoroute du Soleil [‘Autobahn der Sonne’] während der Ferienzeit in Frankreich erst Tage, dann Wochen, schließlich Monate. Da die anwohnenden Bauern die verhassten Pariser nicht von der Bahn herunterlassen, sondern auf sie schießen, entwickelt sich notgedrungen eine improvisierte Selbstverwaltung, die unter anderem ein völlig anderes Identitätskonzept zugrunde legt als die Welt jenseits des Staus: Die Menschen reden sich nicht länger mit Namen an, sondern mit der Bezeichnung der Fahrzeugtypen, die sie fahren. Ein resoluter und respektierter Herr, der zum Staubürgermeister ernannt wird, heißt beispielsweise „Taunus“. Und der Ich-Erzähler hat sogar ein kurzes erotisches Techtelmechtel mit einer jungen Frau, die – natürlich – einen zierlichen Renault Dauphine fährt und dementsprechend „Dauphine“ heißt. Am Ende löst sich der Stau ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hat, und die Bürgerinnen und Bürger der improvisierten Gesellschaft sehen voneinander nur mehr die Scheinwerfer, die sich in der Nacht verlieren.

Interessant ist nun, wie Menschen auf einen solchen Zusammenbruch der bisherigen Ordnung und die Neuerungen, die sich für kurze Zeit aus ihm ergeben, reagieren. Denn die unausweichliche Notwendigkeit, sich selbst und anderen zu helfen, wird von vielen offenbar gar nicht als bedrohlich und belastend, sondern als befreiend erlebt – oft zur eigenen Überraschung. Die intensive soziale Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und die Bequemlichkeit, die sie verspricht, werden nämlich erkauft mit einer latenten Angst – ob einem dies nun bewusst ist oder nicht.

Der Postwachstumstheoretiker Niko Paech hat das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine immer weiter ausufernde Sekundärversorgung durch mächtige, weder greif- noch beeinflussbare Akteure einmal mit dem grimmigen Bild erfasst: „Niemand […] ist hilfloser als ein Patient, der am Tropf hängt“. Paech spricht wörtlich von einer „Angstkultur“, die sich aus der wachsenden materiellen und sozialen Abhängigkeit ergebe und effizient zur Stabilisierung von Herrschaft und Konsum gleichermaßen eingesetzt werden könne. Der zum vorgeblichen Hort der Freiheit erhobene Konsum ist für Paech sogar das eigentliche Synonym für Angst, denn er ermöglicht einem kleinen Teil der globalen Bevölkerung einen materiellen Wohlstand, der ihrem individuellen Schaffensvermögen in keinster Weise mehr entspricht. So mancher mag sich hier an den nützlichen Begriff der „imperialen Lebensweise“ erinnert fühlen, den Ulrich Brandt und Markus Wissen geprägt haben. Die bunte Welt der Waren und der Werbung ist für Paech nur die Betäubung dieser Angst; der Angst, nicht länger über die Runden kommen zu können, wenn auch nur ein Teil dieses Angebots wegfiele; dass also die Sekundärversorgung Lücken aufweisen könnte.

Jedes Gefühl des Ausgeliefertseins erzeugt Aggression und Angst, und die Befreiung von beidem wird naheliegender Weise als genussvoll empfunden. Eine meiner Reisegefährtinnen, eine ältere, sehr einfache Dame, der ich nicht unterstelle, in ihrem Leben auch nur einen umstürzlerischen Gedanken gedacht zu haben, brachte diesen Umstand treffend auf den Punkt. „Man ist der Bahn so ausgeliefert. Ich mag es nicht, ausgeliefert zu sein.“ Die Möglichkeit, sich und anderen aktiv zu helfen – und sei es nur kurz und im Kleinen – hilft, die Angst zu überwinden, die Abhängigkeit zu verringern, und wird zum Saatboden einer übergreifenden sozialen Solidarität. Wer ständig Angst um sich, die seinen, seinen Lebensstandard, seine Sicherheit, sein Auto, seine Katze oder seine Spitzendeckchen hat, wird nur mit Entsetzen auf Forderungen nach tiefgreifenden sozialen Veränderungen reagieren können, die immer notwendiger werden. Die (Wieder)Entdeckung der eigenen kreativen sozialen Schöpferkraft ist ein erfreuliches Erlebnis.

Aber ist es nicht vermessen, aus einem derart banalen Erlebnis wie dem meinen allgemeine Schlüsse ziehen zu wollen?

Was hatte sich denn verändert? Wir fingen ja schließlich nicht plötzlich an, die Züge selber zu fahren oder die Weichen selber zu stellen. Macht und Einfluss der Deutschen Bahn blieben ungebrochen.

Kommt, wer heutzutage Kritik an staatlicher oder teilstaatlicher Sekundärversorgung äußert, außerdem nicht rasch in ungutes, neoliberales Fahrwasser, mit jener lügenhaften Vergottung der ‘Eigeninitiative’, damit die Profite nicht durch nutzlose Sozialausgaben belastet werden?

Und woher will ich eigentlich wissen, dass eine improvisierte Gesellschaft, jede improvisierte Gesellschaft, immer so aussehen muss wie am Leipziger Hauptbahnhof? Wäre es nicht naheliegender, zu vermuten, dass derartige Strukturen ebenso gut ganze Menschengruppen ausschließen könnten, ohne deswegen, nach innen betrachtet, weniger solidarisch und funktional zu sein? Die bloße Tatsache, dass Menschen sich prinzipiell gegenseitig helfen könn(t)en, ist als Basis für eine freiheitliche Gesellschaftsutopie denkbar dürftig. Es ist albern, wenn der anarchistische Ethnologe David Graeber – dies sei mit allem Respekt gesagt – die Tatsache, dass Menschen sich zuweilen auf der Straße gegenseitig Feuer geben, zum Embryo einer libertären Gesellschaft hochspielen will.

Dergleichen ideologische Prinzipienerklärungen sind ohne Bedeutung, zumal Graeber übergeht, dass für die meisten Menschen die gegenseitige Hilfe nicht etwa beim Feuergeben beginnt, sondern genau dort endet. Man mag nicht einmal mehr wehmütig lächeln, wenn man zum soundsovielten Mal begeisterte Berichte von linken Protestcamps liest, auf denen es die Menschen unterlassen haben, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, statt dessen alternative Formen der Entscheidungsfindung erprobt haben und nun der Überzeugung sind, dass eine herrschaftsfreie Gesellschaft möglich sei: Menschen, die im Allgemeinen im selben Alter sind, ähnliche Ansichten vertreten und wissen, dass sie sich nach ein paar Tagen ohnehin wieder los sein werden.

Mit einer wirklichen Gesellschaft hat all dies nichts zu tun. Und es mag abschließend just die Tatsache sein, dass Menschen solche Improvisationskünstler sind, die zu erklären hilft, warum sie unerträgliche Strukturen so lange hinnehmen.

All dies sind stichhaltige und gewichtige Einwände. Dennoch habe ich gesehen, was ich gesehen habe, und meine Erlebnisse nach bestem Wissen und Gewissen nicht geschönt: Ich sah einen spontanen, improvisierten und zeitlich begrenzten Abbau sozialer Hierarchien; das Entstehen eines solidarischen Miteinanders unter einander völlig unbekannten, unterschiedlichen Menschen über definierte Grenzen der sozialen Funktion und Profession hinweg; und einen auffälligen, erklärungsbedürftigen Wandel der kollektiven Stimmung.

Wer nicht vermitteln kann, dass tiefgreifende, freiheitliche Veränderungen des Bestehenden keineswegs nur furchterregend, sondern auch angstlindernd, kreativitätsfördernd und emotional befreiend sein können, wenn sie unterschiedslos alle Menschen miteinschließen, wird lange auf sie warten müssen. Wie sich verfestigende soziale Strukturen, gewissermaßen die Institutionalisierung der improvisierten Gesellschaft, dann aussehen werden, steht auf einem anderen Blatt. Was spontane, allgemeine und unterschiedslose gegenseitige Hilfe aber wohl tatsächlich immer bewirkt, ist eine beträchtliche Aufhellung der Stimmung.

Martin Baxmeyer

Dr. phil. Martin Baxmeyer (Jg. 1971) ist Hispanist, Literaturwissenschaftler und seit vielen Jahren Autor u.a. der GWR. Bücher: Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der spanischen Revolution, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018; Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild, edition tranvia, Berlin 2012; Hg. mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling: Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge, Verlag Edition AV, Frankfurt/M. 2004

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