anarchismus

Castoriadis: das revolutionäre Projekt

| S. Münster

In den Jahren nach der weltweiten Revolte Ende der sechziger, als leninistische Parteien einen gewaltigen Zulauf hatten und zahlreiche maoistische Bünde gegründet wurden, war für die antiautoritären SozialistInnen die Kritik, die von einem revolutionären, antibolschewistischen Standpunkt aus und mit fundierten historischen Kenntnissen an diesen Parteien geübt wurde, besonders wichtig für ihre Selbstverständigung. Besonders durch die Schriften der britischen „Solidarity“-Gruppe lernten wir damals Paul Cardan schätzen, der eine scharfe Kritik der traditionellen, etatistischen Linken und ihrer programmatischen Grundlagen übte. Auch die Mystifizierungen des „historischen Materialismus“, die bereits bei Marx beginnen, wurden offen behandelt, obwohl den Schriften anzumerken war, daß der Verfasser aus der marxistischen Tradition kam. Im Unterschied zu anderen KritikerInnen der stalinistischen Linken, etwa der „Frankfurter Schule“, entwickelten Cardans Texte jedoch auch Perspektiven, wie aus der Krise der Bürokratie in der kapitalistischen Produktion und im Staatskapitalismus sowie aus der Krise der politischen Formen eine revolutionäre Zielsetzung, die „generalisierte Selbstverwaltung“, der Räte-Sozialismus entstehen könne. Die Kritik der Parteiform, des Parlamentarismus und des Staates wie die Hoffnung auf einen authentischen Sozialismus, der in den Bewegungen der Pariser Kommune 1871, in den revolutionären Bewegungen nach 1917, in der ungarischen Revolution und im Pariser Mai aufschien, konnte sich also nicht nur auf wiederentdeckte anarchistische und anarchosyndikalistische Texte stützen, sondern auch auf zeitgenössische TheoretikerInnen, die aus ihren Erfahrungen mit autoritären „Sozialismus“-Konzeptionen eine antibürokratische und antiautoritäre Utopie begründeten (1), die in vielem an Bakunin erinnerte, aber um die bösen Erfahrungen von hundert Jahren der Vermischung von Sozialismus und Staat reicher.

Cornelius Castoriadis, so der eigentliche Name von „Paul Cardan“ (eines von mehreren Pseudonymen) hat seitdem bis zu seinem Tod am 26. Dezember letzten Jahres wiederum die Erfahrungen der Bewegungen der 70er und 80er Jahre aufgegriffen, seine Marxismus-Kritik radikalisiert, Reste der Ideologie einer einheitlichen und als „revolutionäres Subjekt“ ausgezeichneten Arbeiterklasse verworfen und eine politische Philosophie entwickelt, die die Grundlagen einer freien Gesellschaft darstellen soll. Leider sind diese Ansätze nur gelegentlich in den sozialen Bewegungen aufgegriffen worden (2) und in den akademischen Disziplinen ohnehin randständig (3). Dabei gibt es nur wenige Konzeptionen, die sich vielen Problemen der Gesellschaft und der Erfahrungen mit Versuchen der Befreiung stellen, ohne vor Kapitalismus und Bürokratie zu kapitulieren und die Rebellion zu verwerfen. Castoriadis hat sich zudem gerade mit Themen beschäftigt, die im Zentrum unseres Interesses liegen: Wie die Hierarchien aufzuheben sind, unter welchen Bedingungen Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, das Verhältnis von Kontinuität und Bruch, von notwendiger Vorbereitung gesellschaftlicher Veränderung durch autonome Bewegungen, Fragen, wie solche Bewegungen sich organisieren können, ohne zur Reproduktion der bekämpften Verhältnisse beizutragen, neue FührerInnen und Befehlsstrukturen aufzubauen. Diese Fragestellungen auch nur offen zu halten, statt viele Aspekte des revolutionären Projekts für „gescheitert“ und „unmöglich“ zu erklären, ist allein schon ein großes Verdienst der Schriften von Castoriadis. (4)

Castoriadis wurde am 11. März 1922 in einer griechischen Familie in Istanbul geboren, wuchs in Athen auf und schloß sich zunächst 1937 der Kommunistischen Jugend, 1941 der Kommunistischen Partei Griechenlands an. 1942 trat er zu den Trotzkisten über. Er war im Widerstand gegen die Metaxas-Diktatur und die deutsche Besatzung Griechenlands aktiv. 1945 floh er aus Griechenland, von mehreren Seiten bedroht, und ging nach Frankreich, um hier zu bleiben. 1948 brach er mit den Trotzkisten, weil er auch im titoistischen Jugoslawien nicht den authentischen Sozialismus erkennen mochte. 1949 wurde „Socialisme ou Barbarie“ gegründet, die bis 1965 erschien und in dieser Zeit vielleicht das wichtigste Organ einer anderen, weder reformistischen, noch stalinistischen oder nationalistischen Linken wurde. Die Erfahrung der grotesken Wendungen der stalinistischen und trotzkistischen Bürokratien, der autoritären, militaristischen und dogmatischen Erstarrung der „Linken“, ließ es nicht zu, daß „Socialisme ou Barbarie“ der unter linken Intellektuellen üblichen Mystifikation der Sowjetunion, Chinas, Jugoslawiens, Kubas, Vietnams … als „sozialistisch“ aufsaß. Für die marginalen Gruppen einer „Neuen Linken“ bildeten die in viele Sprachen übersetzten Kritiken und Programmschriften der Gruppe wichtige Orientierungen oder Herausforderungen. Es gehört zu den merkwürdigen und tragischen Episoden in der Geschichte des neueren antiautoritären Sozialismus, daß die Zeitschrift ihr Erscheinen eingestellt hatte, als die Bewegungen, die ihre Impulse aufnahmen, massenhaft wurden. „Arbeiterselbstverwaltung“ wäre nicht so leicht zum billigen Markenzeichen eines nur kosmetisch veränderten Reformismus geworden, wenn es in Frankreich noch „Socialisme ou Barbarie“ gegeben hätte, um die Basisbewegungen zur Selbstbewußtseinsentwicklung aufzufordern. Die Wechselwirkungen mit den neu entstehenden Bewegungen der Jugendlichen, der Frauen, der Verweigerung auf verschiedenen Ebenen und neuen Themen wie die Kritik der Technik, des Privatlebens, des Konsums hätten die Theorien durch praktische Erfahrungen wiederum erweitern und verändern können. So nahm nur ein Einzelner, keine intervenierende Gruppe, das auf (5). Castoriadis hatte von 1948 bis 1970 für die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gearbeitet. Nach seiner Pensionierung begann er als Psychoanalytiker zu praktizieren und wurde 1980 Drektor der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales der Universität Paris (6). Es erschienen Sammlungen seiner früheren Schriften und zahlreiche Aufsätze. Als gesammelte Ergebnisse dieser letzten Phase sind auch deutsch erschienen „Durch das Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft“ (Frankfurt a.M. 1981 u.a.) und sein „Hauptwerk“ „Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie“ (Frankfurt a.M. 1984, als Taschenbuch 1990).

Während er noch in diesem Buch definiert hatte: „Die sozialistische Revolution erstrebt die Veränderung einer Gesellschaft durch die autonome Tätigkeit der Menschen und zielt auf die Einrichtung einer Gesellschaft, die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt“ (S. 162), kam Castoriadis in späteren Jahren zu dem Ergebnis, daß die Begriffe „Sozialismus“ und „Kommunismus“ so rettungslos mit etatistischen Diktaturen, mit totalitärem Terror, identifiziert sind, daß es sinnlos oder sogar verwirrend sei, diese Begriffe noch für das Projekt einer freien Gesellschaft reklamieren zu wollen. Castoriadis bevorzugte den Begriff der „autonomen“ Gesellschaft. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich bewußt selbst ihre Institutionen schafft und sie fortwährend kritisiert und verändert, statt von ihnen bestimmt zu werden und sie als etwas „naturgegebenes“ oder „göttliches“ oder „technisches“ zu mystifizieren. Der Pariser Mai, die Forderung „Phantasie an die Macht“, findet in Castoriadis‘ Aufsätzen und seiner theoretischen Konzeptionen einen Nachhall und eine Bestätigung.

Castoriadis sieht nicht mehr die Ökonomie im Zentrum der Gesellschaft, wie es in der marxistischen Tradition (7) üblich ist, sondern gesellschafliche Institutionen, die auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Dimensionen auch die Wahrnehmungen und Interpretation der physischen und sozialen Welt bestimmen und die möglichen Formen, sich dazu zu verhalten. Jede Gesellschaft „erfindet“ einen Konsens imaginärer Bedeutungen. Aber die autonome Gesellschaft instituiert sich bewußt und explizit selbst. Diese Konzeption, daß auch gesellschaftliche Institutionen beurteilt und ausgewählt werden können, natürlich nicht abstrakt, sondern vielfach determiniert durch vorangegangene Institutionen und Auseinandersetzungen, wurde zuerst in der griechischen Antike entwickelt: „der instituierende historische Prozeß: Aktivitäten und Kämpfe in Verbindung mit den Veränderungen der Institution, die explizite Selbst-Institution (auch wenn sie partiell bleibt) der polis als permanenter Prozeß.“ (8) Autonomie besteht in dem Bewußtsein, sich sein eigenes Gesetz zu geben, es nicht durch Ahnen, göttliche Gewalt oder sakrosankte Einrichtungen gesetzt zu erhalten. Auch wenn der Ausschluß von Fremden, Frauen und Sklaven Grenzen definiert, in denen die polis Autonomie institutionell ermöglicht, so entsteht hier doch das Bewußtsein, daß die Gemeinschaft der Bürger als Volksversammlung entscheidet. Und es wird Teilhabe gefordert; auf den Bürgern „lastet der moralische Druck, völlig frei zu sprechen“ (ebenda, S. 307). Diese Formen der Selbstkonstitution sind in der Geschichte von den radikalen Bewegungen immer neu erschaffen worden: „die Stadträte (town meetings) in der Amerikanischen Revolution, die Sektionen (…) in der Französischen Revolution, die Pariser Kommune oder die Arbeiterräte und Sowjets in der Frühform; Hannah Arendt hat viele Male die Bedeutung dieser Formen hervorgehoben. In allen Fällen ist der souveräne Körper die Totalität der betroffenen Personen; immer wenn eine Delegation notwendig war, wurden die Delegierten nicht nur gewählt, sondern waren jederzeit rückrufbar.“ (ebenda, S. 308) Die Repräsentation ist ein der Demokratie fremdes, aristokratisches Prinzip! Athener Magistrate wurden durch Los oder Rotation eingesetzt, um möglichst viele Bürger mit den öffentlichen Angelegenheiten vertraut zu machen (S. 311). Es erinnert an Bakunin, wenn Castoriadis hervorhebt, „daß die Athener fachkundige Männer zu Rate zögen, wenn es darum ginge, Stadtmauern oder Schiffe zu bauen, dies aber ablehnten, wenn es sich um Politik handelte“ (ebenda, S. 309): „Der richtige Beurteiler von Spezialisten ist nicht etwa ein weiterer Spezialist, sondern der Benutzer.“ (S. 309) Und Castoriadis hebt hervor, daß die öffentlichen Angelegenheiten in der polis nicht etwa von einem Staat, einer von den Bürgern getrennten und über ihnen stehenden Körperschaft, organisiert wurden; der technisch-administrative Apparat war ohne politische Entscheidungsgewalt und bestand aus Sklaven.

Die Entstehung eines öffentlichen Raumes, in dem offen und ohne Einschränkungen gesprochen, geforscht, gedacht werden konnte, läßt in Athen zugleich Demokratie, Philosophie und unparteiisches Denken entstehen. Die Politik-Konzeption unterschied sich von der heutigen gerade dadurch, daß Einzelinteressen als illegitim galten, wenn es um Angelegenheiten des Gemeinwesens ging; die Wahrung eigener Interessen war verpönt. Castoriadis erwähnt, daß noch die Verfassung der Vereinigten Staaten es Abgeordneten und Senatoren, die aus überwiegend agrarischen Bundesstaaten kommen, verbietet, an Entscheidungen des Parlaments über Landwirtschaftsfragen teilzunehmen. (S. 313) Dies verweist schon darauf, daß gesellschaftlich verallgemeinerte Autonomie nicht etwa nur eine demokratietheoretische Frage im Sinne einer abgespalteten Sphäre sein kann. Eine autonome Gesellschaft kann nicht entstehen und bestehen, wenn die Spaltungen in Führer und Geführte, in Befehlende und Ausführende, Eigentümer und Eigentumslose usw. aufrechterhalten bleiben. Nur autonome Menschen können eine autonome Gesellschaft bilden, nur eine autonome Gesellschaft läßt Autonomie der Einzelnen zu.

Die Privatisierung, der Rückzug der Menschen auf kleinlichste Interessen, die kapitalistische Individualisierung ist verbunden mit dem Siegeszug der kapitalistischen Imaginären (9), einer angeblich ökonomisch alternativlosen und rationalen Welt der Ökonomisierung; sie scheint zunächst das Projekt der Autonomie – ich würde immer noch sagen: des herrschaftslosen, antiautoritären, föderalistischen Sozialismus – verdrängt zu haben. Aber die Rückkehr des Verdrängten kann geschehen: „Die Wiederaneignung der Macht durch die Allgemeinheit, die Abschaffung der politischen Arbeitsteilung, der ungehinderte Umlauf politischer relevanter Information, die Abschaffung der Bürokratie, die größtmögliche Dezentralisierung der Beschlüsse, die Selbstbestimmung der Verbraucher, die Selbstverwaltung der Produzenten.“ (10) Dazu ist zweifellos die „Zerstörung des Ökonomischen als des zentralen und einzigen Werts“ (Castoriadis, ebenda) Voraussetzung. Castoriadis ist wie Bakunin der Ansicht gewesen, daß Gleichheit und Freiheit sich nicht gegeneinander ausspielen und sich nicht auf bestimmte Bereiche einschränken lassen. Die Gesellschaft allein kann den Individuen tatsächliche Freiheiten, Handlungsspielräume garantieren. Ungleiche Einkommensverteilung führt notwendigerweise auch zu politischer Herrschaft; deshalb muß Gleichheit materiell verwirklicht werden. Eine politische Diktatur wird immer auch ungleiche Eigentumsverhältnisse erzeugen; es ist grotesk, eine Gesellschaft als egalitär oder „sozialistisch“ zu verteidigen, in der Herrschende Abweichende in Lager stecken können. Die Herrschaft über den Arbeitsprozeß aufzuheben, erscheint Castoriadis auch in seinen späten Schriften als entscheidend. (11) Aber die autonome Gesellschaft, wie er sie sich vorstellt, wird auch die vorgefundene Technik verändern.

„Die Selbstverwaltung schließt die Gleichheit aller Löhne, Einkommen usw. ein. Auf der anderen Seite würde sie aber sehr schnell in sich zusammenfallen, wenn es allein darum ginge, die herrschende Anhäufung von wertlosem Müll ’selbstzuverwalten‘. Die Selbstverwaltung kann sich nur stärken und entwickeln, wenn sie sogleich eine bewußte Umwandlung der existierenden Technologie, der instituierten Technologie, nach sich zieht, um sie den Bedürfnissen, Wünschen und dem Willen der Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten wir als Verbraucher, anzupassen.“ (12) Die angebliche „Neutralität“ der Technik hatte Castoriadis bereits in „Durchs Labyrinth“ kritisiert (S. 206ff): Sie ist gerade ein Beispiel, wie gesellschaftliche Ziele und Institutionen sich materialisieren und jeder bewußten Entscheidung zunächst entzogen sind; die Auswirkungen sind kaum begreifbar und erst recht von niemandem zu kontrollieren; es wäre erst selbstgesetzte Aufgabe einer sich befreienden Gesellschaft, aus den vorgefundenen allmählich jene Technologien zu entwickeln, die ihre Autonomie möglichst unterstützen oder zumindest weniger beschränken.

Viele Texte über den Anarchismus behaupten, dieser sei antiinstitutionell, und es mag sein, daß auch manche AnarchistInnen das annehmen. Wenn wir nicht um Worte streiten wollen, so stellen wir jedoch leicht fest, daß anarchistische Schriften immer wieder Institutionen empfehlen und propagieren, Organisationsformen und Formen, Konflikte zu schlichten. Landauer entwarf sogar eine Verfassung für die „Vereinigten Republiken Deutschlands“ und wollte nach dem Vorbild des „Jubeljahres“ den Besitz an Land umverteilt wissen. Und die historischen Bewegungen haben zahlreiche Institutionen geschaffen: Föderalistische Gewerkschaften, Arbeiterbörsen, Siedlungen, Föderationen. In der Föderation der gewaltfreien Aktionsgruppen hatten wir lange Auseinandersetzungen über Vetorechte und Minderheitenschutz bei Entscheidungen. In solchen Debatten sehe ich Versuche, häufig scheiternde, aber weiterwirkende Ansätze, Formen einer nicht-hierarchischen Lebensweise, von Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit in der bewußten Kontrolle der organisierten Gruppen zu entwickeln. Und genau dies ist das Interesse von Castoriadis. Jede Gesellschaft muß über die Verteilung knapper Ressourcen entscheiden, über Streitfälle und den Ausschluß von Menschen, die gegen andere gewalttätig werden. Und gerade die Sanktionierung von Gewalt wirft in jeder Gesellschaft viele Probleme auf. Wie diese Fragen aber entschieden werden, wie kreativ, wie sehr von allen betroffenen Mitgliedern einer Gruppe nach reiflicher Diskussion oder von elitären Minderheiten, wie sehr korrigierbar – das macht den Unterschied ums Ganze zwischen Autonomie und Heteronomie.

Eine freie Gesellschaft kann nicht ein für allemal Institutionen schaffen, die Gerechtigkeit und Freiheit garantieren; im Gegenteil ist es sehr wahrscheinlich, daß Hierarchisierungen und materielle Ungleichheit immer neu entstehen werden. Aber die gesellschaftlichen Institutionen können die Frage der Gerechtigkeit und Freiheit zumindest immer offen halten, immer neu aufwerfen. Die Aufgabe, Institutionen zu schaffen und immer wieder neu zu erfinden, die tatsächlich individuelle und gemeinschaftliche Freiheit zulassen, fördern und nahelegen, ist das große, unabgeschlossene Projekt der menschlichen Geschichte. Unsere Situation heute ist sicherlich durch die völlige Ökonomisierung, Bürokratisierung und Privatisierung geprägt. Aber aus allen Kämpfen und Befreiung bleiben gefährliche und befreiende Erinnerungen. Die Gesellschaft bleibt nicht einfach heteronom, ein Potential ist da. Nach der Kampfphase kommen oft Lernphasen, die Bewegungen sind nicht öffentlich, sondern latent. In diesen Phasen entstehen, oft von einsamen Individuen, Texte, die Erfahrungen festhalten, durchdringen – und für die nächste manifeste Bewegung zur Verfügung stellen. Die Zeit der Utopie ist nicht vorbei.

(1) Vgl. Castoriadis, Cornelius: Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft. Frankfurt/M., Verl. Neue Kritik, 1974 (und andere Ausgaben. Der Text erschien zuerst 1957 in der von Castoriadis mitbegründeten Zeitschrift "Socialisme ou Barbarie" unter dem Titel "Sous le contenu du socialisme")

(2) Vgl. etwa David Schuster: Wege zur direkten Demokratie. Wie organisiert sich die befreite Gesellschaft? in: Graswurzelrevolution 146/47/48 (Sonderheft zur Kritik der parlamentarischen Demokratie)

(3) Eine beachtliche Darstellung von Castoriadis' Ansatz findet sich in: Politische Vierteljahresschrift 30, 1989, H. 4 S. 585-602 von Hans Jonas: Institutionalisierung als kreativer Prozeß; gerade erschienen ist: Rödel, Ulrich: Von der Totalitarismustheorie zur Demokratietheorie. Claude Lefort und Cornelius Castoriadis, in: Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Hersg. von Alfons Söllner ..., Berlin, 1997, S. 208ff

(4) Eine gewisse Distanz der Graswurzelrevolution wird sicher damit zusammenhängen, daß Castoriadis den neuen Friedensbewegungen sehr kritisch gegenüberstand. (kritisch bemerkt dazu auch Jonas a.a.O. S. 599f, Castoriadis habe einen "sterilen Beitrag zur Überlegenheitsdiskussion" geleistet). Seine Sicht der Sowjetunion bestätigte er noch nach deren Ende: "Diese Regimes waren immer Systeme hemmungsloser Ausbeutung der Bevölkerung, der Unterdrückung, und zugleich eines grundlegenden Irrationalismus, selbst vom instrumentellen und funktionellen Standpunkt her. Darin fühle ich mich bestärkt, ebenso wie in der Analyse, die ich über die strikt militärische Macht Rußlands gemacht habe. Ich hatte gesagt, daß die SU 15 % ihres Nationaleinkommens in die Militärausgaben steckt. Die russischen Militärs sagen jetzt, daß das 30 % sind. Wenn sie davon ausgehen, daß die Bürokratie weitere 15 % unproduktiv konsumiert hat, dann ist die Ausbeutungsrate der arbeitenden Bevölkerung in Rußland viel höher gewesen als in den gewöhnlichen kapitalistischen Ländern. Von einem anderen Standpunkt aus fühle ich mich überhaupt nicht bestätigt. Weil ich gehofft hatte, daß die Krise dieser Regimes zu Volksbewegungen führen würde, die versuchen würden, sich der Bürokratie zu entledigen und eine demokratische, sozialistische, autonome Gesellschaft zu etablieren ..." (Cornelius Castoriadis: Philosophie ist eine Ausdrucksform der Autonomie. Ein Interview mit Fragen von Effi Böhlke in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40. 1992, H. 5, S. 461-472, hier S. 470)

(5) Die Parallelen zwischen Bookchin und Castoriadis sind auffällig: Kommunistische Jugend, Trotzkismus, Kritik der autoritär-sozialistischen Tradition und ständiger Bezug auf die autonomen Bewegungen, schließlich Wendung zur philosophischen Begründung eines neuen Lebens - und Besinnung auf oft die gleichen politisch-sozialen und philosophischen Traditionen von der griechischen Polis über die Pariser Kommune und die Arbeiterräte bis zur "Phantasie an die Macht".

(6) Zur Biographie vgl. den Nachruf von NW (Nicholas Walter) in Freedom vom 7. Februar 1998

(7) Seine Kritik ist an vielen Stellen zu finden, natürlich in "Gesellschaft als imaginäre Institution", sehr interessant aber auch in: Castoriadis, Cornelius: Sozialismus oder Barbarei. Analysen und Aufrufe zur kulturrevolutionären Veränderung. Berlin 1980 oder in: Das Gebot der Revolution, in: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M. 1990, S. 54ff

(8) Castoriadis, Cornelius: Die griechische polis und die Schaffung der Demokratie, in: Rödel, Ulrich (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt/M. 1990, S. 298ff, hier S. 305, 306

(9) Vgl. Castoriadis, Cornelius: Das privatisierte Individuum, in: Le monde diplomatique, Februar 1998, S. 3. Dieser Text zeigt übrigens das aus seiner marxistischen Vergangenheit stammende Ressentiment gegen die AnarchistInnen, die ihn die große Ähnlichkeit seiner Gedanken mit denen etwa Bakunins, Landauers, vieler AnarchosyndikalistInnen nicht wahrnehmen ließ; daß er in diesem Text sogar "Staatsgewalt" bejaht, wird wohl ein Übersetzungsfehler sein.

(10) Castoriadis, zit. n. Robert Redeker: Werde autonom!, in: Le monde diplomatique, Sept. 1997, S. 23

(11) Cornelius Castoriadis: Sozialismus und autonome Gesellschaft, in: Rödel, Ulrich, a.a.O., S. 329-358

(12) Ebenda, S. 340. Ich finde, daß der Begriff "Selbstverwaltung" wesentlich problematischer als "Sozialismus" ist, denn moderne Herrschaft funktioniert gerade als Verwaltung, vgl. schon: Exterminismus und Revolution, in: Wege des Ungehorsams, 1. 1984, S. 19ff. Und Selbstverwaltung bedeutet heute das privatistisch verinnerlichte Verwalten - von sich selbst im Dienste des herrschenden Konformismus. (vgl. GWR 222: Sozialimus oder Barbarei)