Elsa Birgé beginnt allein zu singen. Ihre Stimme könnte einem Kind gehören, so klar, hell und auch zart klingt sie bisweilen. Die einsetzende Musik erinnert an Orffsche Instrumente und der Text der ersten Strophe an eine Ballade, außerdem plätschert Wasser immer stärker. Aber der Gesang zerstört aufkommende Illusionen durch die trockene Feststellung: das ist alles nur Ballade.
Die zweite Strophe versetzt musikalisch auf einen Jahrmarkt. Blasinstrumente wie eine Tuba sorgen für ein Humptata, ohne in Marschmusik abzukippen, was auch Saxophon, Schlagzeug, Percussion und Gitarre der französischen Gruppe Un Drame Musical Instantané verhindern. Es entsteht eine folkloristische Musik ohne dumpfe Volkstümelei. Dem entspricht es formal und thematisch, wenn ein Sprichwort den Vers einleitet, um anschließend die Basis der unmenschlichen Perversionen menschlicher Schaffenskraft zu erörtern.
In dem Refrain bleibt die Atmosphäre erhalten aber die Musik wechselt, indem sie die gestellte Frage: „was haben sie mir anzubieten?“ unterstützend zuspitzt. Der Gesang wird dramatisch hoch, betont so, daß Ordnung schlimmste Unordnung sei, und wird abgelöst von einer befreienden – von Saxophon und Gitarre vorwiegend getragenen – an Jazz erinnernden Improvisation. Sie untermalt das Geklapper einer Schreibmaschine. Die mechanische Niederschrift theoretischer Reflexion weckte in den dreißiger Jahren sicher noch den Eindruck einer Geräuschkulisse der Modernität.
Anschließend wird die Herrschaft erörtert, um dann zu folgern, daß weder Beruf ohne Neigung noch heilige Bücher der Lebenswut eine Perspektive bieten. Das wirkt gelesen martialisch, aber klingt nicht so und die wieder anhebende Improvisation der Instrumente schafft das befreiende Umfeld, das ein ausgiebiges Lachen und Gekichere begleitet, besser unterstützt oder gar ermöglicht?
So übermütig unbeschwert bleiben die folgenden Überlegungen nicht. Obwohl sie Handlungsanweisungen benennen, enthalten sie auch das Bewußtsein von Grenzen, etwa dem Schrecken, den die Massen verbreiten. Wenn die Verhältnisse nichts anzubieten haben, welche Perspektiven bleiben? Herausgestellt wird die Konsequenz für die eigene Praxis: ich will nichts beherrschen, auch meine Freiheit nicht. Die Tendenz zur Freiheit bestätigt die Improvisation von Saxophon und Percussion und Gitarren eindrucksvoll. Aus dem Hintergrund drängt sich schließlich in Spanisch die Parole „Hoch die Utopien“ in den Vordergrund.
Damit verweist das Lied auf die spanische anarchistische Bewegung, dessen zentraler Identifikationsfigur Buenaventura Durruti die Doppel-CD aus Frankreich gewidmet ist. Neben der achtköpfigen Gruppe Un Drame Musical instantané spielen außerdem zahlreiche MusikerInnen der verschiedensten Musikstile. Sie entstammen überwiegend der französischen Jazz-Scene, die, wie auch die hier vorgestellten, selbst wenn sie sich mit dem spanischen Anarchismus befassen, keinem Traditionalismus folgen. Große Teile des französischen Jazz kennzeichnet das Bemühen um musikalische Eigenständigkeit, die in der Auseinandersetzung mit der Folklore durch deren spielerische Aneignung gewonnen wird. Ausgestattet mit dem Selbstverständnis, imaginäre Folklore zu schaffen, wird noch freier mit den folkloristischen Einflüssen umgegangen, als es von dem hier bekannteren Umgang mit bretonischer Musik her vertraut ist. Von dem spanischen Anarchismus bleibt in diesem Song der Sprechchor. Alles andere sind aktuelle Überlegungen, die jedoch den Absichten der historischen Bewegung in Spanien sehr nahe stehen dürften.
¡Vivan las utopías!
La belle au bois en vain
Attendra le réveil
Car nul ne revient
Du pays du sommeil
Ni son roi ni ses frères
Partis pour la croisade
Ne reverront leur terre
C’est tout pour la ballade
On récolte ce qu’on sème
Les hommes ont l’art divin
D’inventer des systèmes
Qui sont tous inhumains
Théoriciens du nombre
Ils réduisent les têtes
Camouflant dans leurs ombres
Ce qu’ils tiennent des bêtes
Qu’avez-vous à m’offrir
De tous les animaux
L’homme est bien le plus sot
Qu’avez-vous à m’offrir
L’ordre est le pire désordre
J’ai la vie pour la mordre
Nomenclature sénile
D’arrogants parvenus
Ou banquiers nécrophiles
C’est le pouvoir qui tue
Jusqu’à ses propres fils
Don de l’irrationnel
Sévices des services
Secrets de polichinelle
Qu’avez-vous à m’offrir
Je ne veux pas de métier
Si ce n’est celui d’aimer
Qu’avez-vous à m’offrir
Quelle bible est votre livre
J’ai la rage de vivre
Éteins vite la lumière
Écoute les oiseaux
Étouffe les prières
Et les systèmes sociaux
Soigne bien tes voisins
La théorie s’écroule
En face d’un être humain
Car l’horreur c’est la foule
Qu’avez-vous à m’offrir
Si la terre ma possède
Son fantôme m’obsède
Qu’avez-vous à m’offrir
Je ne veux rien posséderMême ma liberté
Hoch die Utopien!
Die Schöne im leeren Wald
Wartet auf das Erwachen
Denn niemand kehrt zurück
In das Land des Schlummers (der Müdigkeit)
Weder ihr König noch ihre Brüder
Aufgebrochen für einen Kreuzzug
Verehren nicht ihre Erde
Das ist alles Ballade
Wie die Saat, so die Ernte
Die Menschen fähig zu schöpferischem Werk
Erfinden Systeme
Die alle unmenschlich sind
Theoretiker die Menge
Sie zermartern sich die Köpfe
Verschleiert in ihre Schatten
Weil sie die Einfältigkeit festhalten
Was haben sie mir anzubieten
All die Dummköpfe
Menschen sind sicherlich die größten Trottel
Was haben sie mir anzubieten
Die Ordnung ist die schlimmste Unordnung
Ich habe das Leben um es zu begreifen
Altersschwache Herrschende
Arrogante Emporkömmlinge
Oder todessüchtige Bankiers
Es ist die Macht die tötet
Sogar die sauberen Typen
Geschenk des Irrationalen
Mißhandlungen der Dienerschaft
Das ist ein offenes Geheimnis
Was haben sie mir anzubieten
Ich will keinen Beruf
Den ich nicht lieben kann
Was haben sie mir anzubieten
Welche Bibel ist euer Buch
Ich habe die Wut des Lebens
Lösche schnell das Licht
Höre die Vögel
Ersticke die Gebete
Und die sozialen Systeme
Pflegen sorgfältig deine Nachbarn
Die Theorie scheitert
Im Angesicht des menschlichen Seins
Da der Schrecken die Massen sind
Was haben sie mir anzubieten
Wenn die Erde mich beherrscht
Ihr Trugbild mich verfolgt
Was haben sie mir anzubieten
Ich will nichts beherrschen
auch meine Freiheit nicht
CD: Buenaventura Durruti, nato 1996