Medien und Politik verbeiten erneut das Bild eines Israel bedrohenden Irak. Unerwähnt bleibt dabei, ob nicht durch die Eskalation des Konfliktes mit den USA und durch den ins Stocken gekommenen Friedensprozeß im Mittleren Osten eine wesentlich größere Bedrohung für Israel entsteht.
Das Bild der Menschen, die sich in Israel erneut mit Gasmasken ausrüsten, kann keine/n deutschen AntimilitaristIn unberührt lassen. Und zwar einmal deshalb, weil es in der BRD durch die Offensive rechter Ideologien und Anschläge einen virulenten Antisemitismus gibt, der sich oft als Antizionismus verkleidet. Aber auch zweitens, weil wir radikalen AntimilitaristInnen wissen, daß die irakischen C- und B-Waffen mit maßgeblicher deutscher Hilfe erbaut, daß die Modifizierung der Scud-Raketen Iraks, um überhaupt Israel zu erreichen, fast gänzlich in deutschen Händen war.
Wer in diesen Tagen der Golfkrise über den abgebrochenen Friedensprozeß in Israel und Palästina spricht, darf nie unsensibel gegenüber der Tatsache werden, daß vor der Shoah, der Vernichtung von 6 Mio. jüdischen Menschen durch den Nationalsozialismus, die zionistische Bewegung ein kleines Häuflein und völlig isoliert war, daß also ohne die Shoah die Entstehung Israels so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg undenkbar gewesen wäre. Die wenigen Überlebenden der Shoah und die vielen Nachfahren, Bekannten und Verwandten von Flüchtlingen und Displaced Persons verdienen unsere Sensibilität. Wir fühlen eine besondere Verantwortung, wenn ihnen ein neuer Gasangriff droht, egal von wem und wie wahrscheinlich. Und die PalästinenserInnen sind nicht die Opfer der Opfer: die Shoah ist nicht übertragbar und sie ist nicht vergleichbar mit den Verbrechen, die die israelische Armee und der israelische Staat den PalästinenserInnen tatsächlich zugefügt hat.
Das heißt nicht, daß nicht auch die palästinensische Bevölkerung unsere Solidarität verdient, aber aus einem anderen Begründungszusammenhang: Israel ist ein Staat wie jeder andere auch und daher auch zu den üblichen staatlichen Verbrechen fähig. Der palästinensische Nationalismus war lange ausschließlich unterdrückt, ist nun aber ein Staat im Werden und entwickelt in diesem Prozeß, wie bei anderen nationalen Befreiungsbewegungen auch, potentiell unterdrückerische Strukturen (Polizei, Geheimdienste usw.), die im Moment ausschließlich gegen die IslamistInnen angewandt und daher gerne übersehen werden.
Gerade weil wir eine besondere Verantwortung gegenüber den Menschen in Israel haben, gerade weil die Bedrohung durch irakisch-deutsches Giftgas schwinden soll, sind wir gegen den Krieg – und die radikalen AntimilitaristInnen waren es übrigens aus denselben Gründen schon während des letzten Golfkriegs. Die israelischen Menschen sind nur bedroht, wenn ein Diktator Hussein so in die Enge getrieben ist, daß er aus Verzweiflung die letzte Scud mit Gas oder B-Waffen beladen und starten läßt. Dazu darf es nie kommen – deshalb dürfen die Bomben der US-Armee nicht fallen!
Der Schutz durch Patriot-Raketen war damals wie heute gerade für die israelische Bevölkerung ein trügerischer Schutz. Heute ist dieses antimilitaristische Wissen, das sich aus einem tiefen Mißtrauen gegen die Versprechen zielgenauer Waffen durch die Militärs rechtfertigt, erfahrungsgesättigt. Zwei Monate nach dem letzten Golfkrieg wurde in der New York Times ein Bericht von William Safire veröffentlicht: „Von den über 80 Scuds, die Saddam gegen Israel und Saudi-Arabien abschießen ließ, seien 50 angegriffen und 49 getroffen worden, berichteten stolz die Militärs. Dazu sind nach Expertenmeinung etwa 160 Patriots abgefeuert worden. (…) Die meisten Killer (Patriots) trafen nur den unförmigen Scud-Rumpf, zerstörten aber nicht den mit mehreren hundert Kilo Sprengstoff gefüllten Kopf der Rakete. Der explodierte dann doch noch am Boden. Da die ungenauen Scuds nur gegen ausgedehnte Flächenziele gerichtet werden können, war oft nicht einmal hilfreich, daß der Sprengkopf gelegentlich durch Patriot-Treffer abgelenkt wurde: Eine Scud traf nach dem Zusammenprall mit einer Patriot ein US-Lagerhaus in Saudi-Arabien und tötete 28 GIs – es war der verheerendste Scud-Treffer des ganzen Krieges.“ (zit. nach Graswurzelrevolution Nr. 155, 4/91, S.7) Eine Patriot war und ist also gerade kein Schutz vor Giftgas – im Gegenteil! Die KritikerInnen des radikalen Antimilitarismus haben das damals nicht wahrnehmen wollen, weil sie sich für Waffentechnik und ihre Anwendung wie Konsequenzen noch nie interessiert haben. Werden sie es heute tun? Werden sie die Motive der radikal-antimilitaristischen Patriot-GegnerInnen endlich respektieren?
In der Kriegssituation ziehen sich die Menschen in ihre etatistischen Lager zurück: die palästinensische Bevölkerung tendiert dazu, Hussein zu unterstützen, die islamistische Hamas hat für einen US-Angriff bereits mit Terror gedroht, die israelische Opposition versteckt sich hinter einer rechten Regierung, die diesmal Vergeltung für irakische Angriffe angedroht hat. In der Bedrohungssituation ist die Identität der israelischen Bevölkerung mit der Regierung am höchsten. Die PalästinenserInnen sind zurecht enttäuscht vom aufgehaltenen Friedensprozeß. Er müßte erweitert werden, doch faktisch wird er sogar zurückgenommen. In der Kriegssituation zeigt sich exemplarisch, daß nur der Friede sowohl den israelisch- palästinensischen Friedensprozeß fördert als auch der israelischen Opposition und Friedensbewegung, die ja gerade wieder aktiv geworden war, eine Chance bietet sich zu entfalten. Nur so kann aus einem ungerechten ein gerechter Friede werden.