Editorial

Hoffnungsträgerinnen

| Bernd Drücke

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HoffnungsträgerInnen

Liebe Leserinnen und Leser,

vor ein paar Tagen sprach mich ein Bekannter an: Die Graswurzelrevolution sei für ihn eine Hoffnungsträgerin in finsteren Zeiten. Bei aller Kritik an „verkopften“ GWR-Artikeln (siehe Seite 23) ist das Balsam für die Seele. Danke!

Solidarität mit „Eichhörnchen“ Cécile Lecomte

Für mich ist auch Kletteraktivistin Cécile Lecomte eine Hoffnungsträgerin. Mit ihren Aktionen hat die ehemalige französische Klettermeisterin viele Menschen begeistert und die Konzernchefs von RWE & Co. verärgert. Von Anti-Atom-Protesten über die Besetzung von Genmais-Feldern bis hin zu Blockaden von Nazi-Aufmärschen und Baumbesetzungen gegen Großbauprojekte, die Bewegungsarbeiterin (1) zeigt, dass gewaltfreier Widerstand effektiv und lebendig ist. Bei Prozessen und Aktionen durfte ich erleben, wie die GWR-Mitherausgeberin mit ihrer charmanten Art sogar beim Richter und bei Polizist*innen Sympathien geweckt hat. Andere hassen sie für ihre Beharrlichkeit. So wetterte 2009 Lüneburgs damaliger Polizeichef Niehörster im NDR: „Absolut nervig. Das ist absolut krank, was sie macht“. (2)

Seit Jahren wird Cécile vom LKA Niedersachsen aufgrund „extremistischer Umtriebe“ beobachtet. Ihre Klage auf Auskunft über gegen sie gerichtete Überwachungsmaßnahmen durch die Polizei wird von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. unterstützt. „Die Klage soll offenlegen, welchen Formen der Überwachung Personen ausgesetzt sind, wenn die Behörden sie willkürlich als ‚relevant‘ einstufen, ohne dass sie sich dagegen wehren können“, sagt der GFF-Vorsitzende Ulf Buermeyer.

Cécile erfuhr 2015 von ihrer Einstufung als „relevante Person“. Nach eine5r Überprüfung stellte das LKA fest, dass wesentliche Voraussetzungen für diese Einstufung nicht mehr gegeben seien, und löschte den Eintrag. Die Klage soll die Polizei nun dazu zwingen, die Überwachungsmaßnahmen offenzulegen. Die Polizei stuft eine Person als relevant ein, wenn sie „innerhalb des extremistischen/terroristischen Spektrums die Rolle einer Führungsperson, eines Unterstützers/Logistikers oder eines Akteurs einnimmt“ und objektive Hinweise „die Prognose zulassen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung (…) fördert, unterstützt, begeht oder sich daran beteiligt.“ (3) Wie eine Umweltaktivistin diese Kriterien je hatte erfüllen können, ist ein Rätsel.

Cécile: „Ohne Wissen über die eigene Einstufung gibt es keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren und Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Wenn zudem nicht klar ist, welche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte durch Überwachungsmaßnahmen stattfinden und ob eine Kontrolle durch Dritte erfolgte, halte ich das für nicht tragbar. Das ist im Hinblick auf die Ausweitung der Überwachungs- und Kontrollbefugnisse der Polizei durch das neue niedersächsische Polizeigesetz beängstigend. Es ist schon jetzt festzustellen, dass Gesetze zur angeblichen Bekämpfung von Terrorismus schamlos gegen Bürger*innen, deren politisches Engagement den Behörden missfällt, angewendet werden.“ Die Bedeutung der Klage reicht über den Einzelfall hinaus. Die Behörden stufen Hunderte als ‚relevant‘ ein – mit gravierenden Folgen. (4)

Solidarität mit den Gefangenen für den Frieden

Zum Internationalen Tag der Gefangenen für den Frieden am 1. Dezember bittet die War Resisters‘ International (WRI), zu deren Mitgliedern auch die Graswurzelrevolution zählt, um Solidarität mit Menschen, die weltweit wegen ihrer Kriegsdienstverweigerung oder ihres Engagements für Frieden inhaftiert sind. Ihre Namen und Gefängnisadressen werden in der Liste der Gefangenen für den Frieden veröffentlicht. Die WRI ruft dazu auf, den Gefangenen Kartengrüße als Zeichen der Solidarität und der Ermutigung in die Haft zu schicken. Die Liste enthält in diesem Jahr die Adressen von Gefangenen in Eritrea, Südkorea, den USA und Turkmenistan, stellvertretend für viele andere, deren Adresse unbekannt ist oder die keine Publizität wünschen. Karten können privat geschrieben werden, oder, wie es die DFG-VK Mainz macht, gemeinsam mit Live-Musik, Bildern und Filmen, Speis und Trank: Freitag, 7. Dezember 2018, 19 Uhr, Walpodenstraße 10, Mainz. (5)

www.graswurzel.net – anarchistisch surfen

GWR-Webmaster Andreas hat vor über zwanzig Jahren die Homepage der Graswurzelrevolution entwickelt und sie seitdem ehrenamtlich betreut und permanent ausgebaut. Nirgendwo im deutschsprachigen Raum finden sich wohl mehr anarchistische Texte als hier. In den letzten zwei Jahren hat Andreas zusammen mit einem Genossen des IT-Kollektivs und in Rücksprache mit den GWR-Herausgeber*innen am Relaunch unserer Homepage getüftelt. Seit Oktober 2018 ist der grunderneuerte Internetaufritt online. Großartig! Zusätzlich unter anderem zu Texten aus der GWR und des Buchverlags Graswurzelrevolution werden nun seit Ende Oktober 2018 von GWR-Mitherausgeber Nico mit großem Elan aktuelle Texte online eingespeist. Exklusiv auf graswurzel.net findet Ihr jetzt z.B. einen Kommentar von Veronika Kracher über „Pick-Up Artists, angehende Sexgötter und die Kritiklosigkeit der Süddeutschen Zeitung“. Außerdem einen Artikel zur Entstehung einer gewaltfreien Bewegung in Pakistan, Rezensionen z.B. zu „Bohemian Rhapsody“, „Der Dolmetscher“, „The Clash“ von Neonschwarz und zu Mark Zaks Buch „Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno“. Regelmäßig kommen jetzt neue Texte hinzu. Schaut Euch um! Surfen lohnt sich.

Blick in die GWR 434 – Schwerpunkt: Amerika in Bewegung

Seien es die Berichte über die Schüler*innen-Bewegung gegen die Waffenlobby (S. 3f.), über den gewaltfreien Widerstand gegen die Dakota Access Pipeline (S. 4f.) oder die Seebrücken-Bewegung in Europa (S. 11), in Sachen „Hoffnung machen“ hat die GWR 434 einiges zu bieten. Thematisiert werden auch die Anti-Atom-Bewegung (S. 6) und die Situation politischer Gefangener in den USA. Zum 90. Geburtstag würdigen wir Noam Chomsky, den vielleicht bekanntesten US-Intellektuellen und Anarchisten der Gegenwart (S. 8). Schockierend und schwer nachzuvollziehen ist, dass die Mehrheit der Brasilianer*innen im Oktober 2018 den Faschisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten des größten südamerikanischen Staates gewählt hat. Nicolai Hagedorn beleuchtet die Hintergründe (S. 9f.).

Informationen, die wir anderswo vergebens suchen, finden sich auch in Vadim Damiers Artikel über die neoliberale Rentenpolitik in Russland (S. 1, 17), in Jacob Reimanns Bericht zum Krieg im Jemen (S. 13f.) und in Jürgen Wagners Artikel zu den Aufrüstungsplänen der Bundeswehr (S. 15f.). Hundert Jahre nach der Novemberrevolution fehlt auch ein Bericht von Dieter Nelles über die Geschichte des Kieler Matrosenaufstands nicht (S. 18). Einzigartig finde ich auch Johann Bauers ungewöhnliche Analyse zum Kriminalfall Niels H. (S. 1, 20). Und, und, und. Viel Spaß beim Lesen!

Vorschau auf die Januarausgabe

Die Graswurzelrevolution Nr. 435 wird voraussichtlich schon zu Weihnachten erscheinen, u.a. mit einem Griechenland-Schwerpunkt, einer Würdigung zum 100. Geburtstag der Münchner Räterepublik, leckeren Rezensionen und einem Interview mit dem 91jährigen Wehrmachtsdeserteur Rainer Schepper (6).

Anarchie und Glück,

Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)