Interview

„Ich bin dafür, sich in diese Mühen hineinzubegeben“

Daniel Kulla über die gilets jaunes, revolutionäre Potenziale und die Polizei

| Interview: Nicolai Hagedorn

Beitraginterview
GWR-Gespräch mit Daniel Kulla (Fotos: Aurélien Adoue (CC BY 2.0), Alexander Klink [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], from Wikimedia Commons)

Mit dem Auftreten der so genannten Gelbwesten ist auch in anarchistischen und anderen linken Zusammenhängen in Deutschland eine Debatte darüber entbrannt, wie denn die französische Massenbewegung einzuschätzen sei. Für die GWR sprach Nicolai Hagedorn dazu mit Daniel Kulla, der sich auf seinem Blog classless.org unter anderem mit Revolutionen und Klassenfragen beschäftigt.

GWR: Sind die Gelbwesten nun ein französisches Pegida oder der Beginn der sozialistischen Weltrevolution? Die deutsche Linke scheint sich da nicht ganz einig zu sein.

Daniel Kulla: Das ist eher eine Aussage über die deutsche Linke, von der ich leider auch mehr mitbekomme als aus der Entfernung vom Geschehen in Frankreich. Von Anfang an überwog der starke Drang, letztgültige Urteile zu fällen, um sich entweder angewidert abwenden oder in blinde Euphorie ausbrechen zu können. Für viele war die Widersprüchlichkeit der französischen Proteste selbst ein Problem, was für mich mit der zumindest selektiven Praxisferne zu vieler tonangebender Linker zusammenhängt. Dass sich sozusagen roher Klassenkampf, der größere Teile der Bevölkerung erfasst, auch inmitten der ganzen ideologischen Erzählungen entwickelt und nur bestenfalls durch den interessenbasierten Zusammenschluss von immer mehr Sektoren der Klasse diese Erzählungen aufklären kann, entsprach nicht den eingeübten Beurteilungsmustern. Ebenso scheint die Vorstellung für viele schwierig, dass auch den Nazis oder anderen Rechten mal etwas weggenommen, sie aus Bewegungen zurückgedrängt werden können, obwohl es das auch in Deutschland immer wieder gegeben hat.

Eisenbahner mit gelben Westen: Protestaktion in Paris, 8.Dez. 2018 – Foto: Jacques-BILLAUDEL (CC BY-SA 2.0)

GWR: Wie sollten sich anarchistische, kommunistische, antikapitalistische Linke zu der Bewegung insgesamt verhalten? Mitwirken oder abgrenzen?

Kulla: In Frankreich beteiligen sich viele Linke an den Protesten, versuchen sie mit anderen laufenden Kämpfen zu verbinden, das heißt, sie ringen um die Hegemonie in der Bewegung, was mir sinnvoll erscheint. Die teilweise groteske Erscheinung von deutschen Gelbwesten-Ablegern, größtenteils von rechts angestoßen, heißt ja eigentlich, dass es auch in Deutschland relativ leicht sein könnte, dieses Thema zu besetzen. Dazu fehlen aber offenbar viele organisatorische Grundlagen und eben auch vielfach schlicht die Klassenkampf-Erfahrungen, die entsprechend erstmal wieder in größerem Ausmaß gemacht werden müssten. Das heißt, ohne höheren Selbstorganisationsgrad der Klasse und ohne wenigstens einige stärkere Verbindungen zwischen den verschiedenen Sektoren sind wir hier weder besonders solidaritätsfähig – Stichwort Solistreik oder ähnliches – noch können wir meistens spontan entstehende Bewegungen aufgreifen oder inhaltlich beeinflussen.

GWR: Was müsste passieren, damit sich aus einer solchen spontanen Bewegung eine revolutionäre Situation entwickeln könnte, in der das kapitalistische System bzw. der bürgerliche Staat insgesamt Ziel der Proteste würde?

Kulla: Sofern die Proteste weitergehen und sich, wie es bisher den Anschein hat, mit immer mehr anderen Bewegungen wie Schülerprotesten, Gewerkschaften oder Klimaschutzbewegungen verbinden, bestehen gute Chancen, dass die Aussetzung der Konkurrenz zwischen den Beteiligten auch die Erfahrung der eigenen kollektiven Macht und vor allem der geteilten Interessen stärkt und das Bild von der herrschenden Klasse schärft. Ansätze dazu sind bereits unübersehbar und werden ja auch aktiv von Linken ins Geschehen getragen. Über die diesbezüglichen Mehrheits- und Kräfteverhältnisse kann ich aber keine Aussage treffen.

GWR: Wie schätzt du die Rolle der Polizei ein? Man hört von teils spontanen Solidarisierungen seitens einzelner Polizeieinheiten und eine kleine Polizeigewerkschaft hat durchblicken lassen, in Streik treten zu wollen. Andererseits sind Bilder von brutalen Einsätzen im Umlauf. Inwiefern kann das Verhalten der Polizei den Verlauf des Aufstandes beeinflussen?

Kulla: Bisher ist die Polizei größtenteils mit der angeordneten Härte gegen die ja auch teilweise nicht zimperlichen Proteste vorgegangen, an manchen Stellen bis zur Erniedrigung. Mit den Kampfmitteln, die dabei zum Einsatz kommen, werden schwerste Verletzungen und auch Tote inkaufgenommen. Die Streikankündigung kam von einer kleinen Gewerkschaft, die vor allem Personal in der Verwaltung und Versorgung der Polizei organisiert, nicht von den Einsatzkräften. Und das virale Video, in dem die Cops ihre Helme herunternehmen, ist laut Correctiv-Recherche einem falschen Ort zugeordnet und zeigt den Versuch, durch vorübergehende Deeskalation eine Menge zu zerstreuen. Sollte es tatsächlich im größeren Stil zur Fraternisierung der Polizei kommen, steht die Revolution vermutlich schon unmittelbar bevor.

GWR: Zuletzt wurde auch in Belgien und den Niederlanden mit Bezug auf die Gelbwesten demonstriert. Wäre eine ähnliche Bewegung in Deutschland denkbar und wenn ja unter welchen Bedingungen?

Kulla: Wie schon angedeutet, sind die Voraussetzungen hier ungünstig, namentlich fehlt die Verbindung des Großteils der Linken zu Arbeitskämpfen, was sich allerdings m.E. zuletzt zu ändern begonnen hat. Möglicherweise sind die Zeiten, in denen die liberalen und z.B. auch antideutschen Haltungen, sich den Klassenkampf und die Verbindung „nach unten“ systematisch auszureden, die weite Teile der Linken geprägt haben, doch allmählich vorbei. Auf der anderen Seite steht dann aber oft eine komplementäre Über-Begeisterung und Überidentifikation, die – verständlicherweise – gern die Mühen der Organisierung und der Selbstaufklärung überspringen möchte, und den Leuten statt mit Spritpreis und Arbeitsplätzen erstmal mit den Segnungen der jeweils eigenen politischen Richtung kommt. Ich bin dafür, sich genau in diese Mühen hineinzubegeben, alles so gut es geht sich und anderen zu erklären und locker, ehrlich und geduldig für die interessenbasierte Selbstorganisation der Arbeitskräfte als Klasse zu werben.

Daniel Kulla kommt aus der DDR, schreibt, übersetzt und spricht zu Rausch und Lust, Geschichte und Verschwörung, Ideologie und Klassenkampf, singt und tanzt bei Clastah, Egotronic und Björn Peng, bloggt auf www.classless.org

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier